Mindestens 72 rechtsextreme Straftaten, darunter 23 Brandanschläge. Das ist der Neukölln-Komplex, zu dem aktuell ein Untersuchungsausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses tagt. In vielerlei Hinsicht erinnert die Serie an die Taten des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) in den frühen 2000ern. Nicht nur das Ausmaß und die Alltäglichkeit rechtsextremer Gewalt im Berliner Bezirk Neukölln weisen Parallelen auf. Auch bei der Vernetzung mit den Sicherheitsbehörden steht die Neuköllner Neonazi-Szene dem NSU in nichts nach. Die Aufklärung der Straftaten verläuft nach wie vor schleppend, die Täter kommen mit milden Strafen davon.
Der Untersuchungsausschuss datiert die Taten von 2009 bis 2021. Jedoch ist von einem Ende des rechtsextremen Terrors in Neukölln nichts zu spüren. Im Bezirk wurden und werden Stolpersteine gestohlen, Scheiben eingeworfen, Briefkästen gesprengt oder Autos, Läden, Cafés und Häuser angezündet. Im Fokus der Neonazis stehen migrantisierte Menschen und Personen, die sich für Vielfalt und Toleranz engagieren.
Brandanschläge auf Linke
Einer von ihnen ist der Buchhändler Heinz Ostermann. Ostermann gründet 2016 zusammen mit anderen Neuköllner*innen die Initiative „Neuköllner Buchläden gegen Rechtspopulismus und Rassismus“. Das bleibt in der Neuköllner Neonazi-Szene nicht unbemerkt. Im Untersuchungsausschuss schildert der Buchhändler, dass er seitdem beschattet wird. Noch im Gründungsjahr der Initiative geht sein Auto in Flammen auf und die Scheiben seiner Buchhandlung werden eingeworfen. 2018 folgt ein weiterer Brandanschlag auf sein neues, mit Solidaritätsspenden finanziertes Auto.
In derselben Nacht wird auch das Auto des Linken-Lokalpolitikers Ferat Koçak vor dem Haus seiner Eltern in Brand gesetzt. Der Anschlag hätte tödlich enden können. Fast hätte das Feuer eine Gasleitung getroffen, die außen an der Hauswand verläuft. Koçak, der bei seinen Eltern übernachtet hatte, berichtet im Untersuchungsausschuss: „Wir hatten alle Todesangst“. Ruhig schlafen könne er in seinem Elternhaus seit dem Anschlag nicht mehr.
Ende September 2019 entschlüsseln die Ermittler*innen eine Feindesliste, auf einem sichergestellten Datenträger des Beschuldigten Sebastian T., einem ehemaligen NPD-Kreisvorsitzenden. Auf der Liste findet das Landeskriminalamt hunderte Namen und dazugehörige Adressen von Menschen, die sich gegen Rechtsextremismus engagieren.
Neben T. ist der ehemalige AfD-Politiker Tilo P. ein weiterer Hauptverdächtiger für die zwei Brandanschläge 2018. Die Staatsanwaltschaft macht die beiden Männer auch für rechtsextreme Schmierereien, Drohungen an Hauswänden und volksverhetzende Aufkleber verantwortlich. T. wird außerdem wegen des Betrugs mit Corona-Subventionen und Sozialleistungen in fünfstelliger Höhe sowie wegen Schwarzarbeit angeklagt. Ende 2022 werden die beiden in den Anklagepunkten der Brandanschläge freigesprochen. Im Prozess kann zwar nachgewiesen werden, dass die Angeklagten politische Gegner*innen, ihre Wohnungen und Autos ausgespäht hatten. Beweise für die tatsächliche Durchführung der Brandanschläge konnten die Ermittler*innen aber nicht finden.
Prozessrelevante Informationen erhielt der Verfassungsschutz vom Neonazi Maurice P., der zusammen mit Tilo P. in Untersuchungshaft saß und danach die Inhalte einiger Gespräche weitergab. Maurice P., der selbst vom Staatsschutz als rechtsextremer Gefährder geführt wird, soll sich im September 2018 an einer Schlägerei in Neukölln beteiligt haben. 15-20 Rechtsextreme hatten damals mit Holzlatten und Stühlen auf Linke eingeprügelt. Außerdem hat er im Juli 2021 aus rassistischen Motiven Steve W. mit einem Cuttermesser lebensbedrohlich verletzt. Ein weiterer Anklagepunkt ist die öffentliche Zurschaustellung seiner rechtsextremen Gesinnung: Auf seinem linken Zeigefinger sind zwei SS-Runen tätowiert, oft trägt er Shirts mit dem Gesicht von Adolf Hitler und hat bei mehreren Anlässen den Hitlergruß gezeigt. Trotz der offensichtlichen Gefahr, die von diesem Mann ausgeht, wurde P. nach knapp fünf Monaten im Dezember 2021 überraschend aus der Untersuchungshaft entlassen. Die Nebenklage vermutet einen Deal mit dem Verfassungsschutz, der den Prozess um die Brandanschläge voranbringen will.
Im Januar 2023 wird Maurice P. schließlich zu zwei Jahren und acht Monaten Haft verurteilt. Sebastian T. erhält für seine Morddrohungen, Sachbeschädigungen und den Sozialbetrug einen Monat später im Februar 2023 eine eineinhalbjährige Haftstrafe. Tilo P. kommt mit Geldstrafen davon.
Kein Ende des Terrors in Sicht
Der Generalstaatsanwalt legt jedoch Berufung ein. Das Berufungsverfahren am Berliner Landgericht läuft noch bis Ende November 2024. Doch auch das neue Verfahren hält die Neuköllner Neonazi-Szene nicht davon ab, neue Anschläge durchzuführen. Ende Oktober 2024 haben Unbekannte erneut die Autoreifen des Buchhändlers Heinz Ostermann zerstochen. Ostermann geht von einem rechtsextremen Hintergrund aus. Die Burak-Initiative – gegründet in Reaktion auf den rassistischen Mord an Burak Bektaş im Jahr 2012 ebenfalls in Neukölln – vermutet, dass Ostermann gezielt eingeschüchtert werden sollte, bevor er Mitte November 2024 vor dem Landgericht Berlin als Zeuge aussagt.
Das laufende Verfahren hat den Hauptverdächtigen Sebastian T. auch nicht davon abgeschreckt, im September 2024 an einer Veranstaltung der rechtsextremen Kleinstpartei III.Weg in Cottbus teilzunehmen. Der III.Weg hat zahlreiche Demonstrationen gegen CSDs mitorganisiert und war zuletzt auch beim Neonazi-Aufmarsch in Berlin-Marzahn anwesend. Die Kleinstpartei gewinnt zunehmend an Relevanz, veranstaltet Kampfsport-Trainings in städtischen Sporthallen, auch an dem gewaltvollen Neonazi-Angriff auf eine Antifa-Demo am Berliner Ostkreuz im Juni 2024 war sie beteiligt.
Falsch geschriebene Namen, kaputte Kameras, leere Batterien und unangemessene Fragen
Im aktuell laufenden Untersuchungsausschuss konnten bereits fatale Fehler der Sicherheitsbehörden aufgedeckt werden. Bereits im Herbst 2017 hatte das Berliner Landeskriminalamt Hinweise auf einen geplanten Anschlag gegen den Linken-Politiker Ferat Koçak erhalten. Monate vor dem Brandanschlag hatte der Verfassungsschutz Sebastian P. und Tilo P. überwacht. Auch Koçaks Bespitzelung durch die Neonazis wurde polizeilich beobachtet. Und dennoch wurde der Anschlag nicht verhindert. Nicht mal eine Warnung wurde von Seiten des Verfassungsschutzes ausgesprochen. Erst nach dem Anschlag habe er erfahren, dass die mutmaßlichen Täter im Visier der Behörde waren und auch sein eigener Name in Tonaufnahmen gefallen ist. Dieser sei aber falsch geschrieben worden und sein Auto hätte nicht zugeordnet werden können, berichtet Ferat Koçak im Untersuchungsausschuss.
Auch andere rechtsextreme Anschläge konnten unter den Augen der Sicherheitsbehörden geplant und durchgeführt werden. Die Sozialarbeiterin Christiane Schott erlebte bereits zehn rechtsextreme Anschläge auf ihr Haus. 2011 habe sie Neonazis verboten, NPD-Wahlkampfmaterial in ihren Briefkasten zu werfen. Daraufhin griffen diese das Haus und das Auto der Familie Schott an, schlugen Scheiben ein und sprengten ihren Briefkasten. Die Ermittler*innen installierten deshalb eine Überwachungskamera am gegenüberliegenden Haus. Und trotzdem folgten weitere Anschläge. Laut LKA seien jedoch zum Zeitpunkt der späteren Angriffe die Batterien leer und die Kameras kaputt gewesen, sodass die Täter*innen nicht ermittelt werden konnten. „Ich habe in den zehn Jahren den Glauben an die Polizei verloren“, resümiert Christiane Schott im Untersuchungsausschuss.
Detlef Fendt, ein Gewerkschafter, dessen Auto im Januar 2017 angezündet wurde, kritisiert außerdem den fragwürdigen Umgang der Polizei mit dem Brandanschlag. Diese hatte ihn nach der Tat in klassischer Täter-Opfer-Umkehr gefragt, warum er denn auch NPD-Veranstaltungen stören würde. Er hätte eben vorsichtiger sein müssen. Nach wie vor lebe er mit dem ständigen Gefühl, unter Beobachtung der Neonazis zu stehen, die immer noch Sticker auf seinen Gartenzaun und sein Auto kleben.
Freund und Helfer der Neonazis
Die fehlerhafte und unprofessionelle Arbeit der Sicherheitsbehörden lässt sich längst nicht mehr mit in der Praxis eben vorkommenden Missgeschicken der Sicherheitsbehörden erklären. Schockierend sind auch die vielen Verstrickungen, die im Untersuchungsausschuss zwischen den beteiligten Behörden und den Neuköllner Neonazis aufgedeckt wurden.
Im Januar 2024 wurden Ermittlungen gegen einen Kommissariatsleiter beim Staatsschutz eingeleitet, der fast vierhundert rechtsextreme Straftaten aus den Jahren 2020 bis 2023 nicht bearbeitet haben soll. In seiner vorherigen Position war er Ermittlungsleiter im Mordfall Burak Bektaş, Der 21-Jährige wurde 2012 aus rassistischen Motiven auf offener Straße in Neukölln erschossen. Täter*innen wurden nie ermittelt.
Der in den Jahren 2017-2019 zuständige Ermittlungsleiter Michael E. der Ermittlungsgruppe Resin äußert im Untersuchungsausschuss die Vermutung, dass „Maulwürfe” in den eigenen Reihen erfolgreiche Ermittlungen verhindert hätten. Anders könne er es sich nicht erklären, warum Sebastian T. und Tilo P. trotz der intensiven polizeilichen Beobachtung der beiden Hauptverdächtigen weiterhin Anschläge verüben konnten. Konkret verantwortlich macht er einen Beamten aus einer angrenzenden Polizeidirektion, der sich später als Mitglied einer rechtsextremen Chatgruppe entpuppte. Er könnte relevante Informationen mitgehört und an die Neonazis weitergegeben haben. Außerdem berichtet Michael E. von der schwierigen Zusammenarbeit mit dem Oberstaatsanwalt F. Dieser habe Fälle lange Zeit nicht bearbeitet und Durchsuchungsbeschlüsse ohne nachvollziehbare Gründe nicht genehmigt. F. sei auch durch rechtsextremes Gedankengut aufgefallen: Die Verstrickungen des Verfassungsschutzes im NSU-Komplex habe er als Verschwörungstheorie bezeichnet, die Hetzjagden auf Migrant*innen in Chemnitz im Sommer 2018 hätte es ebenfalls nicht gegeben.
Als 2017 der AfD-Stand von Tilo P. angegriffen und er daraufhin als Zeuge vernommen wird, schreibt der Hauptverdächtige der Straftatenserie eine Nachricht an einen AfD-Kollegen, die von der Polizei mitgelesen wird. Ihm werde nichts passieren, weil der Staatsanwalt an seiner Seite stehe, schreibt P.. Ein Mitarbeiter des Oberstaatsanwalt F. liest die Nachricht in den Abhörprotokollen, meldet sie aber nicht.
Im August 2020 werden die Akten mitsamt der observierten Chats erneut geprüft. Erst dann werden Oberstaatsanwalt F. und sein Mitarbeiter wegen des Verdachts der Befangenheit zwangsversetzt.
Im Frühjahr 2019 wird ein weiterer Vorfall öffentlich. Der Verfassungsschutz hat beobachtet, dass ein LKA-Beamter den Hauptverdächtigen der Anschlagsserie Sebastian T. in einer Fußballkneipe getroffen hat. Und das nur sechs Wochen nach dem Brandanschlag auf die Autos von Ostermann und Koçak. Die Observierung der verdächtigen Rechtsextremen musste von da an über externe Ermittler*innen aus anderen Bundesländern erfolgen. Der Vorwurf des Verfassungsschutzes konnte nie ganz bestätigt oder aus dem Weg geräumt werden. Die Polizei wirft der Behörde vor, Sebastian T. schlichtweg verwechselt zu haben. Die Brisanz dieses Vorwurfs ist nicht zu unterschätzen, da der Neuköllner Neonazi einer der wenigen Verdächtigen der Anschlagsserie ist, die als Gefährder eingestuft sind und so den Verfassungsschützer*innen in jedem Fall bekannt sein sollte. Der Verfassungsschutz wiederum hält an der Version fest, nach der es tatsächlich zu einem Treffen zwischen dem Beamten und dem Neonazi gekommen sein soll.
Im Untersuchungsausschuss ging es auch um zwei weitere Beamte der Ermittlungsgruppe Rechtsextremismus (EG Rex). Während die beim Staatsschutz angesiedelte EG Resin die Ermittlungen gegen die Neuköllner Neonazi-Szene anleitete, war die EG Rex vorwiegend für den Kontakt mit den Betroffenen der Anschlagsserie verantwortlich. Einem der EG Rex-Beamten wird vorgeworfen, Dienstgeheimnisse an Neonazis weitergegeben zu haben. Sein Kollege wurde mittlerweile wegen eines rassistischen Übergriffs verurteilt. Er hatte einen Geflüchteten verprügelt.
Immer wieder wurden vom LKA auch unrechtmäßig Daten abgerufen. Daten von Personen, die später Opfer der Anschlagsserie wurden. Der Berliner Datenschutzbeauftragte berichtet im Untersuchungsausschuss, dass die Polizei trotz „mehrfacher Mahnschreiben” der Forderung nicht nachgekommen sei, die Abrufe nachvollziehbar zu machen. Ähnliche Datenabfragen gab es auch von einem bekannten Rechtsextremen, der im Finanzamt tätig war und Verbindungen zu einem der Hauptverdächtigen der Anschlagsserie pflegte.
Vom Staat allein gelassen
Die Betroffenen des Neukölln-Komplexes und ihre Angehörigen fühlen sich von den staatlichen Behörden im Stich gelassen. Die vielen Verfahrensfehler, Verstrickungen und Versäumnisse, die bereits vom Untersuchungsausschuss aufgedeckt worden sind, schwächen das Vertrauen in die Sicherheitsbehörden. Rechtsextremismus gehört für viele Menschen auch außerhalb von Neukölln zum bedrohlichen Alltag. Rechtsextremismus schüchtert ein, verletzt, zerstört und tötet. Dass Sicherheitsbehörden diese Gefahr nach wie vor unterschätzen und sogar zu ihr beitragen, ist fatal.
Umso wichtiger ist daher Solidarität. Der Untersuchungsausschuss muss Konsequenzen haben. Aufklärung allein reicht nicht aus. Es bedarf struktureller Veränderungen, wie regelmäßiger und unabhängiger Kontrollen der Sicherheitsbehörden sowie einer besseren Schulung der Beamt*innen im Bereich Rechtsextremismus. Beamt*innen, die wegen ihrer rechten Gesinnung auffallen, müssen suspendiert und nicht nur versetzt werden. Politisch müssen der Exekutive mehr Grenzen gesetzt werden, der autonomen Verselbstständigung der Polizei muss entschieden ein Riegel vorgeschoben werden.
Die Sitzungen des Untersuchungsausschusses können auch besucht werden! Dafür muss man sich lediglich auf der Website des Abgeordnetenhauses anmelden.