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Nie ohne Fluchtplan

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„Wir sind hier so, sagen wir mal, am Anfang vom Ghetto von Bad Lausick“, sagt Katrin. Sie bleibt an einem Stromverteilerkasten stehen. Und sie erinnert sich: „Hier habe ich mal mein Handy verloren, weil ich mit meinem Fahrrad unterwegs war.“ Ein kleines Missgeschick. Aber Katrin hatte große Angst: „Ich habe alle Teile schnell wieder zusammengesteckt, weil ich hier schnell wieder weg wollte.“ Katrin ist Ende 2010 19 Jahre alt, lebt in Bad Lausick. Und sie ist schwarz.

Zwei Tage später war Katrin mit einer Freundin ins „Ghetto“ zurückgekehrt, hat hier nach ihrer Speicherkarte gesucht. „Dann kam auf einmal ein Auto von hier hinten angefahren und hat angefangen, mich zu umkreisen.“ Katrin deutet auf ein Straßenschild, 50 Meter weiter. „Dort haben die gehalten. Vier Leute sind ausgestiegen. Es waren alles klischeehafte, wirklich klischeehafte Glatzen.“ Einen Baseballschläger hatten sie dabei, haben Katrin quer durchs Wohngebiet gehetzt. „Es war niemand da, es war niemand draußen, der mir geholfen hätte. Die waren am Schluss wirklich so zwei, drei Meter hinter mir.“ Im letzten Moment erreichte Katrin die Wohnung einer Freundin. Damals war es Winter. „Ich kann hier nicht einfach überall langlaufen“, sagt sie heute und zittert wieder.

„Ich musste schon x-Mal vor den Faschos wegrennen“

Was Katrin als „Ghetto“ erlebt, ist ein Neubaugebiet in Bad Lausick, ganz in der Nähe des Bahnhofs. Dort treffen sich Jugendliche, die Katrin gut kennt – unfreiwillig. Von ihnen ist sie mit ihren Freund*innen in den vergangenen anderthalb Jahren mehrfach bedroht worden. Deren Treffpunkt, der Bahnhof, ist eine No-Go-Area. Katrin nimmt heute Schleichwege, wenn sie dort langgehen muss. „Es gibt außerdem Telefonketten, weil wir uns immer fragen: Verdammt, wo könnten jetzt die Faschos sein? Da muss immer jemand nachgucken, der dann den Nächsten anruft und sagt, ob der Weg sicher ist.“ In ihrer Tasche steckt ein Pfefferspray für den Notfall, aber sie hat nicht mitgezählt, wie oft man sie trotzdem angegriffen hat. „Ich musste schon x-Mal vor den Faschos wegrennen“, sagt sie. „Deswegen gehe ich nirgends mehr lang, ohne einen Fluchtplan zu haben.“ Katrin ist nicht allein, Freundinnen von ihr mussten dasselbe durchmachen. „Die mussten mal abends zum Bahnhof. Dort hat sie ein Fascho angehalten und gefragt, wo sie hinwollen.“ Der zückte ein Walkie-Talkie und gab seinen Kameraden Bescheid: „Die zwei Objekte wollen nach Leipzig.“ Die kamen, zogen sich Quarzsandhandschuhe über. Wieder begann eine Verfolgungsjagd durchs Wohngebiet. „Die haben richtig Glück gehabt“, sagt Katrin. „Die Nazis haben den Park richtig nach denen abgesucht.“

Seit Sommer 2009 macht Katrin eine Ausbildung in Bad Lausick, besucht die evangelische Berufsschule nahe dem Bahnhof. Vor Ort ist etwa zur selben Zeit eine neue, junge Nazi-Szene entstanden. Katrin nennt sie „Faschos“ und was diese auszeichnet, ist die Gewalt. Die Nazis haben Kontakte geknüpft, etwa ins benachbarte Frohburg. „Und die Leute, die mir hier so krass hinterher gerannt sind, kamen auch nicht aus Bad Lausick“, hat Katrin von der Polizei erfahren. Die Anzeige läuft gegen unbekannt, die Täter werden im nahe gelegenen Borna vermutet. Von dort, einer Hochburg der neonazistischen „Freien Kräfte“, einer in Westsachsen gut strukturierten und organisierten Neonazi-Struktur, bekamen die Bad Lausicker Nazis wohl des öfteren Verstärkung.

Dass man sie hasst, bekommt Katrin ständig zu spüren: „Ich werde ‚schwarze Kuh‘ oder ‚Nigger-Schlampe‘ genannt, so klischeehafte Sachen eben.“ Sie zermürben die 19-Jährige. „Meine Berufsschule hat sich überlegt, ob sie mich eine Woche eher in die Ferien schicken können, weil ich so am Ende war. Es war so heftig, dass ich wirklich überlegt habe, ob ich die Ausbildung hier abbrechen soll.“ Und der Terror geht weiter. „Die haben versucht, bei einem Freund von mir einzubrechen. Die Faschos haben zu ihm hochgeschrien: ‚Euch Zecken räuchern wir aus!‘“ 20 Minuten lang haben fünf Nazis versucht, die Eingangstür einzutreten. Vergebens. „Gott sei Dank“, seufzt Katrin, denn die Polizei wäre keine Rettung gewesen. „Bei mir haben die mal eine halbe Stunde gebraucht.“ Zuvor hat Katrin in Sachsen-Anhalt gelebt und „dort war es nicht so heftig“, erinnert sie sich. Schon einige Monate nach dem Umzug nach Bad Lausick sind die Scheiben ihrer Wohngemeinschaft eingeschmissen worden.

Das Problembewusstsein wächst langsam

Jahrelang war es auch in Bad Lausick „ruhig“, eine organisierte Naziszene ist nicht aufgefallen, wie ehemalige Berufsschülerinnen und –schüler berichten. Die nun aktiven Neonazis sind ausgesprochen jung – und haben just einen Dämpfer bekommen: Vorladungen zur Polizei. „Der Komissar, der uns zugewiesen wurde, der hat die ganze Sache relativ persönlich genommen und hat sich da sehr stark mit engagiert“, berichtet Katrin. Auch durch die Ermittlungsarbeit hat sich die Situation vorläufig entspannt: „Wir haben alle Vorfälle angezeigt. Egal, wieviel Angst wir hatten. Ich glaub, deswegen ist es jetzt weniger geworden. Und ich hoffe, es bleibt so.“ Unterstützung findet Katrin auch im Alltag: Freund*innen begleiten sie, in ihrer Berufsschulklasse wird über das Problem diskutiert. Mitschüler*innen und machten ihr Mut: „Es kann nicht sein, dass du aufgibst, dann haben sie gewonnen.“ Auch Lehrer*innen haben sie bestärkt – und manchmal herb entmutigt. Die Schulleiterin meinte: „Man muss auch manchmal auf´m Boden bleiben.“ Dabei ist die Berufsschule, in denen sozialpädagogische Berufe gelehrt werden, bei Nazis längst als „alternativ“ verschrien. Gegenüber Katrins Freundin drohten sie, die komplette Schule „auszuräuchern“.

Das Problembewusstsein wächst langsam, aber im Unterschied zu anderen sächsischen Kleinstädten engagieren sich nach Übergriffen, wie sie Katrin erleiden musste, Bürger*innen gegen Rechts. Interessierte aus der Berufsschule trafen sich im Frühjahr 2010 unter anderem mit Vertreterinnen und Vertretern der Stadt und gründeten in einem Gebäude der Arbeiterwohlfahrt ein Protestbündnis. Das ist längst kein gewöhnlicher Ansatz für eine aktive Zivilgesellschaft, zumal im Leipziger Umland. „Zum Glück gibt es so etwas wie die Opferberatung“, sagt Katrin aus eigener Erfahrung. „Die RAA hat sich am meisten gekümmert.“ Und die wissen auch, dass es in anderen Orten rund um Leipzig ähnlich wie in Bad Lausick zugeht, wenn nicht noch brutaler. Allein im ersten Halbjahr 2010 verzeichnet die RAA-Statistik 21 rechtsmotivierte und rassistische Angriffe im Landkreis Leipzig, mehr als in typischen Neonazi-Hochburgen wie der Sächsischen Schweiz. Das Bundesland Sachsen nimmt nach wie vor einen Spitzenplatz in der Statistik rechter Straftaten ein. Meist sind es Körperverletzungen.

Eine davon geschah am 7. Mai im 15 Kilometer von Bad Lausick entfernten Geithain. Dort schlug ein Neonazi einen 15-jährigen Jugendlichen an einer Tankstelle nieder. Das Opfer war tagelang in Lebensgefahr und muss seitdem eine Metallplatte in der Stirn tragen. Die Polizei verhaftete als Täter einen 19-Jährigen Neonazi. Seine Kameraden trafen sich daraufhin in Bad Lausick zu einem Aufmarsch. Mit Fackeln zogen die 50 Vermummten durchs „Ghetto“, brüllten „Nationaler Sozialismus, jetzt“. Nach dem Aufmarsch jubelten Neonazis auf der Website des Geithainer „Freien Netzes“: „Wir finden Mittel und Wege unsere Botschaft auch ohne Anmeldung unters Volk zu bringen.“ Die Botschaft ist Angst und Hass. Sie trifft nicht nur Katrin, sondern alle.

Von chronik.LE, zuerst erschienen in Leipziger Zustände 2010.

Dieser Beitrag ist ursprünglich auf dem Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ erschienen (2002-2022).

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