82 Jahre nach den nationalsozialistischen Novemberpogromen gegen Jüdinnen und Juden wirkt der Spruch „Nie wieder“ wie eine hohle Phrase: Gedenkveranstaltungen werden pandemiebedingt abgesagt, während Rechtsradikale ausgerechnet an diesem Tag, dem 9. November, gegen die „Corona-Diktatur“ und eine vermeintliche „Islamisierung des Abendlandes“ demonstrieren dürfen. „Pediga“ will sich in Dresden versammeln, die „Querdenker“ rufen zur Demo in Braunschweig auf.
Der 9. November, der sogenannte „Schicksalstag“ der Deutschen, steht für eine Vielzahl von historischen Ereignissen – wie beispielsweise die Novemberrevolution 1918, den Hitlerputsch 1923 und den Mauerfall 1989. Doch der Tag wird für immer von den Novemberpogromen überschattet: In der Nacht vom 9. November zum 10. November 1938 verübten SA-Männer und Anhänger*innen des Regimes, organisiert von der NS-Führung, Anschläge gegen jüdische Geschäfte und Einrichtungen im ganzen Reich. Mehr als 1.400 Synagogen und Gebetshäuser wurden niedergebrannt, mindestens 7.500 Läden wurden zerstört. 1.300 Menschen kamen in dieser Nacht ums Leben. In den darauffolgenden Tagen wurden über 30.000 jüdische Männer verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt. Die „Reichspogromnacht“ – lange unter der zynischen Bezeichnung „Kristallnacht“ verschönert – diente als Auftakt für die systematische Vertreibung und Vernichtung des europäischen Judentums.
In Dresden wird dieses Jahr allerdings keine Gedenkveranstaltung für die ermordeten Jüdinnen und Juden Europas stattfinden. Sondern eine „Pegida“-Demonstration. Auf der Demonstration am Altmarkt soll ausgerechnet der ehemalige AfD-Chef in Brandenburg, Andreas Kalbitz, als Redner auftreten. Die „Pegida“-Bewegung ist immer wieder wegen antisemitischer Hetze aufgefallen.
Die Jüdische Gemeinde Dresden ist fassungslos und hat die Genehmigung der Demonstration scharf kritisiert. Auf einer Pressekonferenz in Dresden am Sonntagabend betonte ein Sprecher der Gemeinde: „Der 9. November wird für uns als jüdische Gemeinschaft, aber auch für viele andere demokratische Kräfte in unserer Gesellschaft immer eingebrannt sein als der Tag, an dem in Deutschland 1938 die Synagogen brannten.“ Besonders bitter: Das offizielle Gedenken der Stadt Dresden an die Pogrome wurde aufgrund der Covid-19-Pandemie abgesagt.
Die jüdische Philosophin Christina Feist, eine Überlebende des antisemitischen Anschlags auf die Synagoge in Halle im Oktober 2019, ist empört über diese Doppelstandards. „Das zeigt deutlich die Gegenwartsverweigerung der Politik“, sagt Feist Belltower.News. „Antisemitismus und rechte Ideologien werden weiterhin schön geredet, wenn nicht sogar wegdiskutiert“. Und gleichzeitig fallen Gedenkveranstaltungen aus.
Historische Pflicht
Auch in der sachsen-anhaltinischen Kleinstadt Salzwedel wurde ein für heute geplanter Stolpersteinrundgang zum Gedenken der Opfer des NS-Regimes von der Versammlungsbehörde untersagt. Grund des Verbots seien Infektionsschutzmaßnahmen. Doch für den Rundgang, der vom „Aktionsbündnis Solidarisches Salzwedel“ organisiert wurde, habe es ein entsprechendes Hygienekonzept gegeben, so die Veranstalter*innen: Auflagen wie Abstandsregelungen, Mund-Nasen-Schutz-Pflicht und eine begrenzte Zahl an Teilnehmenden waren vorgesehen.
In einer Pressemitteilung des Bündnisses wird das Verbot kritisiert: Das Gedenken an die November-Pogrome 1938 sei „eine unverzichtbare gesellschaftliche Aufgabe und historische Pflicht“ – vor allem in Zeiten von zahlreichen rechten und verschwörungsideologischen Anti-Corona-Aufmärschen, wo Antisemitismus und Geschichtsrevisionismus grassieren.
Als Ersatzgedenkaktion ruft das Bündnis dazu auf, Stolpersteine individuell zu besuchen, Blumen hinzulegen und nach Sonnenuntergang Kerzen aufzustellen. Mit der App „Actionbound“ kann man einen digital begleiteten Stolperstein-Rundgang machen – mit Informationen zu den Opfern des Nationalsozialismus in Salzwedel und zum Widerstand gegen das Regime.
Auch im niedersächsischen Dannenberg darf eine Gedenkveranstaltung heute nicht stattfinden: Ein Lichtergang zu Orten jüdischen Lebens in der Stadt wurde pandemiebedingt verboten. Stattdessen verteilt das Bündnis beschriftete Lagepläne, damit Menschen die Orte selbst entdecken können. Vier der Orte werden mit Kerzen beleuchtet.
Aufmarsch um 18:18
Für große Empörung sorgte eine Demonstration der Initiative „Querdenken 53“, der Braunschweiger Ableger der rechtsoffenen und verschwörungsideologischen „Querdenken“-Bewegung gegen die Infektionsschutzmaßnahmen. Diese wurde von den Behörden allerdings nicht verboten. Geplant war für den 9. November eine „Montagsdemo“ am Schlossplatz. Unter dem zynischen Motto „Geschichte gemeinsam wiederholen“ wollten die „Querdenker“ durch die Braunschweiger Innenstadt marschieren. Zu 18:18 Uhr hatten sie mobilisiert – und legten somit ihre rechtsextremen Tendenzen erneut offen (die Zahlenkombination „18“ ist ein beliebter Nazi-Code für Adolf Hitler).
Doch nach heftiger Kritik hat „Querdenken 53“ die umstrittene Demo kurzfristig abgesagt. Das geht aus einem Statement auf der Webseite hervor. Ihre unglaubwürdige Erklärung für die rechtsextreme Chiffre: Die „unglücklich gewählte“ Uhrzeit sei lediglich aus Gründen der Einprägsamkeit gewählt worden. Das Datum sei eine Anlehnung an den Mauerfall.
In ihrer Telegram-Gruppe herrscht Uneinigkeit darüber: Einige halten die Absage für die richtige Entscheidung, doch viele äußern Kritik. Einer schreibt über das Datum und die Uhrzeit: „Genau mein Humor“. Ein anderer relativiert die Shoah: „Ganz schwach, diese Leute finden immer ne Ableitung zum 3ten reich…mal ganz davon abgesehen, das wir hier schon lange progrom stimmung haben“ (sic!). Ob Pandemieleugner*innen trotzdem zur Demo erscheinen, bleibt abzuwarten. Sie werden aber von Gegendemonstrant*innen im Empfang genommen: Denn ab 17:30 Uhr findet eine Gedenkkundgebung der Gewerkschaft ver.di am Schlossplatz gegen „Querdenker“, Rechtsextreme und Nazis statt.
Nie wieder Realitätsverweigerung
Bereits am vergangenen Samstag, dem 7. November 2020, zeigten zehntausende „Querdenker“ und organisierte Nazis, was sie von den Auflagen der Versammlungsbehörden hielten – als sie maskenfrei und ohne Abstand durch Leipzig zogen und dabei Presse und Polizei attackierten. Auch wenn das Gewaltpotenzial der Bewegung ein neues Niveau erreicht hat, waren die Ausschreitungen und Verachtung der Hygiene-Auflagen völlig vorhersehbar. Doch wenn es um Gedenkveranstaltungen für Shoah-Opfer geht, agieren die Versammlungsbehörden offenbar mit zweierlei Maß.
Der 9. November zeigt auch: Allzu gerne übersehen die rechtsoffenen „Querdenker“ die Novemberpogrome 1938 und halten das Datum stattdessen als „Tag der Freiheit“ hoch. So machen sie aus „Nie wieder“ ein „War da was?“ Davor hat Christina Feist Angst: „Die Gefahr, die von dieser Realitätsverweigerung ausgeht, scheint jedoch niemand sehen zu wollen. Die aktuellen Entwicklungen in Deutschland sind ein Armutszeugnis für alle Politiker*innen und für ein Deutschland, das angeblich aus seiner Geschichte gelernt hat.“
Zu dieser Lehre aus der Geschichte gehört auch die Realität, dass nach dem Mauerfall am 9. November 1989 eine neue Welle Pogrome von Rechtsextremen gegen gesellschaftliche Minderheiten und politische Gegner*innen begann. Seit 1990 zählt die Amadeu Antonio Stiftung mindestens 208 Todesopfer rechter Gewalt im wiedervereinigten Deutschland. Das macht deutlich: Der 9. November ist kein Grund zum Feiern, sondern ein Anlass zum Gedenken.
Update 10.11.2020: Zeug*innen zufolge sagte der Redner Andreas Kalbitz, ehemals Chef der Brandenburger AfD, auf der „Pegida“-Demonstration am 9.11.2020 auf dem Altmarkt in Dresden, dass „Pegida“ und andere „Patrioten“ politisch verfolgt würden und damit in Deutschland die einzigen wären, die legitim an den Holocaust erinnern könnten. Kalbitz finde es zudem widerlich, „wenn diejenigen, die das oberflächlich instrumentalisieren und politisch Oppositionelle leichtfertig als Nazis diffamieren, damit die Opfer des singulären Zivilisationsbruch des Holocaust verächtlich machen, das Ganze verharmlosen und sich zu Sachwaltern machen von Interessen, die sie gar nicht wirklich vertreten.“
Laut der Deutschen Journalistinnen- und Journalisten-Union (DJU) beleidigte Lutz Bachmann, Gründer der „Pegida“-Bewegung, Pressevertreter*innen der FAZ von der Bühne. Lutz bezeichnete die Journalist*innen als „widerliche Maden“. Ein Anwesendes Kamerateam von RTL wurde zudem von Demonstrant*innen massiv bedrängt.
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