Ein kalter Novemberabend, an dem sich rund 70 Menschen auf dem Marktplatz im brandenburgischen Spremberg eingefunden haben, um ein würdiges Gedenken abzuhalten: Es ist der 9. November, der Tag, an dem 1938 die nationalsozialistische Pogrome stattfanden. Der Tag, an dem die Gewalt gegen jüdisches Leben einen neuen Höhepunkt erreichte, organisiert von SA-Truppen und Angehörigen der SS, getragen und akzeptiert von der breiten Bevölkerung.
Rund 7.500 jüdische Geschäfte wurden in dieser Nacht zerstört und über 1.200 Synagogen und Gebetshäuser in Brand gesetzt. Jüdinnen und Juden wurden gewaltsam angegriffen und verhaftet – 91 von ihnen starben in dieser Nacht, 1.300 starben wenig später an den Folgen oder wurden hingerichtet. Etwa 30.000 von ihnen wurden ins KZ deportiert. Es war der Auftakt der Shoah: Insgesamt ermordeten die Nationalsozialisten rund sechs Millionen Juden und Jüdinnen. Der Hass traf aber auch andere ethnische Minderheiten, insbesondere Rom*nja und Sinti*zze, Homosexuelle, Menschen mit Behinderungen, psychisch Kranke und politisch Andersdenkende.
Niemand ist nur Opfer
Der 9. November wird seit jeher genutzt, um den Verfolgten im Nationalsozialismus zu gedenken – so auch dieses Jahr in Spremberg. Organisiert wird die Veranstaltung von „Unteilbar Südbrandenburg“ und der „Kreuz- und Michaelkirchengemeinde“. Denn auch in Spremberg erfuhren Menschen in dieser Nacht Gewalt und wurden in den darauffolgenden und Jahren in Konzentrationslager verschleppt.
Doch die erste Rednerin, die Pfarrerin Elisabeth Schulze, betont: Sie möchte nicht von Opfern sprechen. Denn die Personen, an welche in den nächsten 90 Minuten erinnert wird, waren mehr als das: „Sie hatten ein eigenes Leben und haben Widerstand geleistet“. „Niemand ist nur Opfer“, betont die Rednerin. Und sie fährt fort: „Das Problem ist nicht, dass Menschen jüdisch sind. Das Problem ist der Antisemitismus, das Problem ist der Hass. Das Problem heißt Nationalismus und Faschismus. Keine dieser Ideologien hat 1945 ein Ende gefunden. Wenn wir die Verbrechen der Vergangenheit nicht ans Licht holen, werden sie sich wiederholen.“
Ihre Worte haben hier eine besondere Aktualität: Drei Tage später, für den 12. November 2022, ist in Spremberg eine NPD-Demonstration angekündigt. Dann werden die Rechtsextremen auf dem Marktplatz stehen, an jenem Ort, an welchem den Verfolgten des Nationalsozialismus gedacht wurde.
Lebendige Biografien
Es ist leichter, die Vergangenheit mit Abstand zu betrachten, wenn sie nur aus Todeszahlen besteht. Doch schwieriger wird es, wenn wir die Schicksale erfahren, die hinter den Zahlen stecken. An diesem Novemberabend wird die Vergangenheit sehr lebendig und erhält ein menschliches Antlitz. Unter Leitung der Pfarrerin Jette Förster hat die AG Spurensuche „über 100 Schicksale von Sprembergerinnen und Sprembergern dokumentiert, die von ihren nationalsozialistischen Nachbarinnen und Nachbarn gedemütigt, verfolgt und dem Tod ausgeliefert wurden“, heißt es auf der Webseite.
Die Namen der Verfolgten werden auf dem Marktplatz laut verlesen. Sie erstrahlen in heller Schrift auf einem der umstehenden Gebäude. Kerze für Kerze wird angezündet und auf dem Marktplatz niedergelegt, bis sie ein Lichtermeer bilden. Daraufhin zieht das Lichtermeer von Ort zu Ort und macht an jenen Plätzen halt, an denen die Verfolgten lebten und arbeiteten. Ihre Biografien werden verlesen, Steine und einige der Lichter niedergelegt. Es werden Schicksale erzählt, wie das von Nathan und Ellen Bernfeld.
Der Jude Nathan Bernfeld wuchs in Svitavka in Tschechien auf und wohnte seit 1925 in Spremberg. Er war Fabrikdirektor der jüdischen Textilfabrikfirmen „Schnabl“ und „Michelsohn & Ascher“. In der Pogromnacht wurde in die Wohnung von Nathan und Ellen Bernfeld eingebrochen. Am darauffolgenden Tag wurde Nathan der Zutritt zur Fabrik verwehrt. Er verlor nicht nur seine Position dort, sondern auch seine tschechische Staatsangehörigkeit und musste als Lumpensortierer arbeiten. Seine Ehe mit Ellen, welche als „Arierin“ betrachtet wurde, verschonte ihn lange Zeit. Doch kurz vor Kriegsende wurde auch er verschleppt. Nathan überlebte und baute die Spremberger Textilwerke wieder auf.
Das ist nur eines der Schicksale, welches an diesem Abend erzählt wird. Und nicht alle gehen so aus, wie das von Nathan. Viele überlebten den Nationalsozialismus nicht. So auch Elfriede Rulla, für die in diesem Jahr ein Stolperstein verlegt wurde. An ihrem Stolperstein endet die Veranstaltung. Die letzten Kerzen werden abgestellt und tauchen ihn in ein warmes Licht, bevor sich die Teilnehmenden wieder nach Hause begeben.