Die Sezession schmückt sich gerne damit, Vordenkerin der AfD und „anderer Widerstandsprojekte“ zu sein. Inhaltlich verantwortlich zeichnet Verleger Götz Kubitschek; als Herausgeber fungiert ein gemeinnütziger Verein, dem auch das sogenannte Institut für Staatspolitik zuzuordnen ist. Letzteres wird vom Verfassungsschutz als rechtsextremer Verdachtsfall beobachtet. Warum das so ist, illustriert ein am 15. Mai 2021 auf „sezession.de“ veröffentlichter und später gelöschter Gastbeitrag.
Ein ehemaliger NPD-Spitzenkandidat als Gastautor der Sezession
Vordergründig hat er den Nahostkonflikt zum Gegenstand und spekuliert darüber, ob die Region vor dem Beginn „eines veritablen Palästinenseraufstands“ steht. Seinen Verfasser Johannes Scharf stellte die Mannheimer NPD im März 2019 unter seinem bürgerlichen Namen Jonathan Stumpf als Spitzenkandidaten für die Gemeinderatswahl auf. Schon 2018 trat er bei einem Rednerabend der rechtsextremen Partei mit dem Vortrag „Biologisch korrekt statt politisch korrekt“ in Erscheinung, Anfang 2019 in einem als Video veröffentlichten NPD-Gespräch über das völkische Konzept des Ethnostaats.
Als Publizist verfasst Johannes Scharf Texte für einschlägige Publikationen wie Jürgen Elsässers Magazin Compact. Hinzu kommen Bücher, etwa die Schrift „Kampf ums Dasein“. Sie trägt den Untertitel „Metapolitische Essays am Puls der Zeit“ und zeigt damit die geistige Verbindung zu einem zentralen Konzept der sogenannten „neuen“ Rechten und ihrem Theorieorgan Sezession auf. Unter der Chiffre „Metapolitik“ strebt sie eine „Kulturrevolution von rechts“, die Verschiebung von Diskursgrenzen an. Das Buch „Der weiße Ethnostaat“, in dem Scharf einen „Alternativplan zur Sicherung des Überlebens der weißen Rasse“ entwirft, wurde 2018 vom Sezession-Stammautoren Martin Lichtmesz in einem Artikel aufgegriffen. Scharfs Idee einer „geographischen Konsolidierung als Strategie gegen das Verschwinden“ der weißen Bevölkerung lässt Lichtmesz „die Frage nach künftigen Sezessionen, Abspaltungen und Grenzziehungen“ aufwerfen – verfassungsfeindliches Raunen am rechten Rand. Der nun gelöschte Sezession-Artikel Johannes Scharfs exemplifiziert unterschiedliche Aspekte rechtsextremer Ideologie und Rhetorik, an dieser Stelle soll jedoch eine antisemitismuskritische Lektüre genügen.
Treffpunkt Antisemitismus
Mit Blick auf sein vordergründiges Thema gipfelt „Der Beginn einer neuen Intifada?“ in der bekannten kulturrassistischen These von der Unmöglichkeit des Zusammenlebens sogenannter Ethnien. So weit, so trivial. Den Weg zum Antisemitismus bahnt sich Johannes Scharf durch die philosemitische Hintertür: Er hege „Sympathien für die Sache der Juden“; vor der Staatsgründung Israels sei das jüdische „Volk“ „nicht gut gelitten“ gewesen, d.h. unbeliebt „aufgrund seiner Tüchtigkeit“. Was versteht Scharf unter der unsinnigen Pauschalzuschreibung jüdischer Tüchtigkeit, was unter dem Euphemismus „nicht gut gelitten“? Zur Erhellung dieser Frage kann ein rund fünfzehnminütiger Clip über „Deutsche und Juden“ auf Scharfs Vimeo-Account beitragen, in dem er seinen Antisemitismus öffentlich zur Schau stellt: Er monologisiert darin über eine „frappierende Überrepräsentation von Juden an der Börse, in Spitzenpositionen bei Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen sowie in der großen Politik“; über den „Mythos von Ausschwitz“, die „Torturen des Ausschwitzunterrichtes“, die „Holocaustindustrie“ und den „Schuldkult“. In seinem Sezession-Artikel setzt er die Situation der staatenlosen jüdischen Diaspora vor 1948 als Vergleichspunkt, um den rhetorischen Bogen zur gegenwärtigen „Lage der Weißen“ zu spannen und die Relativierung der Shoa einzuleiten. So behauptet er in dem Text, „alte weiße Männer“ hätten „die seit dem Holocaust“ vakante „Funktion des Buhmanns“ eingenommen, „den ‚ewigen Juden‘ als Feindbild abgelöst“. Dass mit dem ewigen Juden eine Gestalt christlich-antisemitischer Legendenbildung bemüht wird, dürfte nicht verwundern. Filmisch mündete sie 1940 in einem der übelsten Machwerke der NS-Propaganda.
Die Sezession-Redaktion mag den Gastbeitrag Scharfs gelöscht haben. Man darf aber davon ausgehen, dass er vor seinem Erscheinen irgendeine Form des redaktionellen Prozesses durchlief. Ohnehin ist die Zeitschrift der Antisemitismusforschung schon seit längerer Zeit bekannt: Samuel Salzborn, seit August 2020 Antisemitismusbeauftragter des Landes Berlin, konstatiert in einer politikwissenschaftlichen Analyse von 2015, Juden seien „im christlich-antisemitischen Weltbild der Sezession nicht einfach fremd oder anders, sondern das Andere.“ In der neurechten Phantasie verkörpern sie Moderne, Aufklärung und Universalismus, Werte also, die dem Antimodernismus der sich intellektuell gerierenden Rechtsextremen entgegenlaufen.
In der Kommentarspalte unter „Der Beginn einer neuen Intifada?“ bricht sich die Geistlosigkeit der „sezession.de“-Leserinnen und -Leser Bahnen. Sie bietet das Bild eines ideologischen Flickenteppichs, durchwoben mit antisemitischen Fäden; das Bild eines Forums, in dem die Grenzen zwischen Rechtsextremen verschiedener Couleur verschwimmen. Nur drei Beispiele: (1) In einem Kommentar ist vom Nahostkonflikt als „kleines Ablenkungsmanöver-Manöver“, das die Pläne des „deep state“ verdunkeln soll, die verschwörungstideologisch angereicherte Rede. (2) Gerne hätte man erfahren, was eine andere Nutzerin nicht zu schreiben wagte, die die Beschäftigung mit „der Frage Palästina oder Israel“ als müßig empfindet: Die Diskussion sei „vermint ob des StGB“. (3) Indes behauptet ein „Volksdeutscher“-Kommentarschreiber, als Gegenleistung für finanzielle Unterstützung im Ersten Weltkrieg hätte Großbritannien den Juden Palästina überlassen. Damit evoziert er die alten antisemitischen Lügen von der jüdisch-internationalen Hochfinanz und der Wehrkraftzersetzung durch jüdische Deutsche 1914–1918 – so muss es auf jene wirken, die das Geschreibsel des „Volksdeutschen“ aus anderen Kommentarspalten der Sezession kennen: Nie wieder Auschwitz stellt er dort „Nie wieder Balfour-Deklaration“ zur Seite und sieht „seit Kriegsende in der BRD“ einen „ekelerregenden Philosemitismus“ am Werk.
Wie viel „alte“ steckt in der „neuen“ Rechten?
Die Kommentarspalte unter „Der Beginn einer neuen Intifada?“ verschwand mit der Löschung des Artikels. Zuvor wurde er vom 15. auf den 10. Mai rückdatiert – womit er aus der Reihe der auf sezession.de aufmerksamkeitsökonomisch prominent platzierten Artikel fiel. Rückdatierung und Löschung mögen auf den ersten Blick wunderlich erscheinen. Widersprechen sie nicht der Rücksichtslosigkeit des Widerständigen, die zu praktizieren sich die Sezession rühmt? Der zweite Blick fördert eine mögliche Erklärung für dieses Vorgehen zu Tage: Der Beitrag von Scharf und die angeschlossene Kommentarspalte legt in bemerkenswerter Weise braune Verbindungen der „neuen“ Rechten offen. Gemeinhin versucht diese kulturelle Strömung des Rechtsextremismus den Eindruck zu erwecken, die Brücken zur Alten Rechten à la NPD abgebrochen zu haben. Dass dies mehr Schein als Sein ist, zeigt die vorübergehende Veröffentlichung von Scharfs Gastbeitrag. Diese Episode lässt sich einordnen in eine Reihe weiterer Berichte über neurechts-braune Verbindungen und liefert aufschlussreiches Anschauungsmaterial für das Integrationspotential des Antisemitismus zwischen unterschiedlichen rechtsextremen Strömungen.
Postskriptum: Wie eine Selbstoffenbarung wirken ein sezession.de-Artikel vom 18. Mai und die dazugehörige Kommentarspalte. Schweigen wird darin als „Stärke“ beworben. Die angepriesene neurechte Tugend scheint aber nicht jedem Leser gegeben: Antisemitica lassen sich auch in der Kommentarspalte unter diesem Artikel finden.
Simon Sax ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Medien-, Kommunikations- und Informationsforschung (ZeMKI) an der Universität Bremen und promoviert über den jüdischen Abwehrkampf gegen Antisemitismus und NSDAP.
Foto oben: Flickr / strassenstriche.net / CC BY-NC 2.0