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NRW Todesopfer rechter Gewalt nachträglich anerkannt

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Symbolbild (Quelle: picture alliance / dpa | Matthias Balk)

Velbert, 1995: Sieben 16- bis 24-jährige Rechtsextreme erstechen den Obdachlosen Horst Pulter, der auf einer Parkbank im Stadtpark schläft. Zuvor beschimpfen die Täter ihr Opfer als „Penner“ und „Scheiß Jude“, schlagen und treten auf ihn ein. In ihren Wohnungen werden später nationalsozialistische Symbole gefunden. Einer der Täter wurde bereits zuvor aufgrund seiner rechtsextremen Haltung bei der Bundeswehr entlassen.

Bochum, 1997: Zwei Neonazis greifen den 59-Jährigen Josef Anton Gera mit einer Eisenstange an und schlagen auf ihn ein. Drei Tage später stirbt er an schweren inneren Verletzungen.

Dortmund, 2005: Ein Neonazi ersticht den Punker Thomas Schulz an einem Bahnhof mit einem Messer.

Essen, 2005: Ein namentlich unbekannter 44-jähriger Mann wird von zwei 15 und 17 Jahre alten Neonazis zusammengeschlagen. Zwei Tage später wird der Mann in einem Männerwohnheim tot aufgefunden.

Diskrepanz zwischen offiziellen Zahlen und unabhängigen Zählungen

Horst Pulter, Josef Anton Gera, Thomas Schulz und der namentlich unbekannte Mann aus Essen werden von der Amadeu Antonio Stiftung als Todesopfer rechter Gewalt eingestuft. In der polizeilichen Kriminalstatistik wurden sie jedoch bisher nicht genannt. Im Rahmen des Projekts zur Klassifikation von Todesopfern rechter Gewalt in NRW (ToreG NRW) hat das Landeskriminalamt (LKA) NRW die Fälle einer Neuberwertung unterzogen. Die Morde an Horst Pulter, Josef Anton Gera und Thomas Schulz wurden als rechtsmotivierte Tötungsdelikte anerkannt. Der Mord an dem namentlich unbekannte Mann aus Essen wird lediglich als rechtsmotivierte Körperverletzung eingestuft. Politisch motivierte Kriminalität von rechts umfasse Taten, bei denen die rechte Annahme einer Ungleichwertigkeit von Menschen in den Tatumständen oder den Einstellungen des*der Täter*in vorzufinden sei, heißt es im Abschlussbericht des Projekts.

Insgesamt 30 Altfälle überprüfte das nordrhein-westfälische LKA auf Basis dieser Definition seit dem Start des Projektes im Jahr 2022. Dafür hat die Behörde Fälle ausgewählt, in denen es Unstimmigkeiten zwischen der zivilgesellschaftlichen und der staatlichen Einstufung als rechte Gewalt gibt. Medien, NGOs, Wissenschaft oder Opferinitiativen stufen immer wiederTaten als rechte Gewalt ein, die sich in den offiziellen Zahlen jedoch nicht alle wiederfinden lassen. Die Diskrepanz zwischen der staatlichen Zählung und der Zählung unabhängiger Organisation sind nach wie vor groß. Während staatliche Behörden deutschlandweit 113 Tötungsdelikte als rechts motiviert werten, zählt die Amadeu Antonio Stiftung mindestens 219 Todesopfer rechter Gewalt seit der Wiedervereinigung sowie 16 weitere Verdachtsfälle.

Selbst Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang hat bei der Anhörung des Parlamentarischen Kontrollgremiums im Oktober 2023 staatliche Defizite bei der Erfassung rechtsextremer Straftaten eingeräumt:
„Von daher halte ich sehr viel davon, die Statistik der Amadeu Antonio Stiftung auch heranzuziehen, die sich ausschließlich nach der Motivlage der Täterschaft bei entsprechenden Morden richtet. Wenn ich von rechtsextremistisch geprägten Morden spreche, dann ist es für mich diese Statistik und nicht unbedingt die gerichtliche oder Polizeistatistik.“


Exkurs: Rechte Gewalt

Als Opfer rechter Gewalt zählt die Amadeu Antonio Stiftung alle von Gewalt Betroffenen, die aufgrund ihrer vermeintlichen Zugehörigkeit zu einer abgewerteten Gruppe angegriffen werden. Dabei ordnen Täter*innen ihre Opfer bei gewalttätigen Angriffen einer Gruppe zu, was sich nicht zwangsläufig mit der tatsächlichen Identität der Betroffenen decken muss. . Oft reichen bestimmte äußere Merkmale schon aus, damit rechte Gewalttäter*innen ihre Opfer als jüdisch, queer, migrantisch, wohnungslos oder politische Gegner*innen usw. identifizieren. 


Immer noch keine Anerkennung rassistischer Brandanschläge

Trotz der Anerkennung der drei rechtsmotivierten Tötungsdelikte sowie der Körperverletzung durch das Projekt prangern Beratungsstellen für Opfer rechter Gewalt weiterhin Lücken an. Denn in Nordrhein-Westfalen gibt es gleich mehrere rassistische Brandanschläge, die weiterhin nicht als solche anerkannt sind: Duisburg 1984, Hörstel 1992, Paderborn 1994 und Köln-Gremberg 1994.

In Duisburg zündete eine Täterin ein Wohnhaus an, in dem Gastarbeiter*innen lebten. Döndü Satır, Zeliha Turhan, Rasim Turhan, Songül Satır, Ümit Satır, Çiğdem Satır und Tarık Turhan starben, 23 weitere Menschen wurden verletzt. Die Täterin soll später auch noch eine Geflüchtetenunterkunft in Brand gesetzt haben. Dieser Fall wird von der Amadeu Antonio Stiftung nicht in der Chronik Todesopfer rechter Gewalt geführt, weil die Zählung mit der Wiedervereinigung 1990 beginnt.

In Hörstel wurde Erich Bosse bei einem Brandanschlag auf eine Geflüchtetenunterkunft ermordet. Sechs weitere Menschen wurden verletzt.
In Paderborn starb Alexandra Rousi in einem Feuer, das von einem ihrer Nachbarn im eigenen Wohnhaus gelegt wurde. Dem Brandanschlag gingen monatelange rassistische Schikanen und Drohungen voraus.

In Köln wurden gezielt die Zimmer einer serbischen Romafamilie in einer städtischen Notunterkunft in Brand gesetzt. Tochter Jasminka Jovanović und Großmutter Raina Jovanović überlebten den Angriff nicht, der Rest der Familie erlitt schwere Brandverletzungen. Die Polizei ermittelte zwar gegen einen mehrfach wegen Brandstiftungen verurteilten Mann, der bereits wegen Fantasien von Brandanschlägen gegen Geflüchtetenunterkünften aufgefallen war, ließ die Ermittlungen jedoch später fallen. Der Fall befindet sich auch bei der Amadeu Antonio Stiftung noch in der Prüfung.

Alle vier Fälle wurden von der Polizei NRW nochmals überprüft. Bei den Brandanschlägen in Hörstel und Duisburg wurde eine rechtsmotivierte Tat ausgeschlossen. Bei den Fällen in Paderborn und Köln fehlten der Projektgruppe Verfahrensakten für die abschließende Bewertung der Brandanschläge.

Auch weitere Todesopfer rechter Gewalt, die in der Chronik der Amadeu Antonio Stiftung auftauchen, wurden offenbar vom LKA NRW geprüft und dennoch nach wie vor nicht anerkannt.

Alfred Salomon wird 1992 in Wülfrath wegen seiner jüdischen Herkunft von einem Rechtsextremen beschimpft und geschlagen. Infolge des Angriffs erleidet der Holocaustüberlebende einen Herzinfarkt und stirbt. Der Täter ist ein ehemaliger Oberführer der NS-Organisation „Todt“, einer Bauorganisation für militärische Anlagen, die dafür Zwangsarbeiter*innen einsetzte. Er leitete ein Arbeitslager und berichtete stolz, dass er „dem Führer fünfmal die Hand geschüttelt“ habe.

Bruno Kappi, ein 55 Jahre alter schwer sehbehinderter Lagerarbeiter, wird 1992 in Siegen auf dem Weg zur Frühschicht von Neonazis brutal zusammengeschlagen, mit Springerstiefeln massiv getreten und schließlich sterbend am Boden liegen gelassen.

Şahin Çalışır wird 1992 in Meerbusch bei einer Verfolgungsjagd durch Rechtsextreme auf der Autobahn ermordet. Die Hooligans bedrängen und touchieren sein Auto, er verliert die Kontrolle und rammt den Wagen in die Leitplanke. Çalışır und seine zwei türkischen Begleiter flüchten voller Panik auf die Autobahn. Şahin Çalışır wird dabei von einem nachfolgenden Auto erfasst und getötet.

Dagmar Kohlmann wird 1995 in Altena von einem rechtsextremen Serienmörder und seiner Lebensgefährtin ermordet. Am Tag der Tat verabreden sich der Haupttäter und seine Lebensgefährtin mit Kohlmann. Der Neonazi fragt , ob sie jemandem von dem Treffen erzählt habe. Als sie dies verneint, fährt der Täter mit ihr in die Wohnung seiner Lebensgefährtin. Dort knebeln und fesseln die beiden Kohlmann. Anschließend fahren sie mit ihr zu einem nahegelegenen Waldstück, wo sie ihr Opfer brutal misshanden. Die beiden Täter*innen heben eine Grube für Dagmar Kohlmann aus und ermorden sie mit dem mitgebrachten Spaten. Ihre Leiche vergraben sie in dem Waldstück.

Thomas Goretzky, Yvonne Hachtkemper und Matthias Larisch von Woitowitz, drei Polizist*innen, werden 2000 in Dortmund von einem Rechtsextremen erschossen. Während einer Polizeikontrolle eröffnet der Täter aus dem Nichts das Feuer und schießt auf die zwei Beamt*innen. Der Polizist Thomas Goretzky stirbt sofort, seine Kollegin überlebt. Auf der Flucht hält der Täter an einer Ampel an, um dort auf zwei weitere Polizist*innen zu schießen. Yvonne Hachtkemper und Matthias Larisch von Woitowitz überleben den Angriff nicht. In der Wohnung des Täters werden später mehrere Waffen gefunden. Außerdem sei er mehrmals wegen nationalsozialistischer Symbole aufgefallen. Seinen Arbeitsplatz hatte er verloren, weil er einen Hakenkreuzring trug.

Sven M., selbst in der rechten Szene aktiv, wird 2010 in einem Neonazi-Hinterhofclub in Hemer vom Betreiber des Clubs mit einem Jagdmesser die Kehle bis zur Wirbelsäule durchgeschnitten. Sven M. kam an dem besagten Abend in den Nazi-Klub und wollte wissen, wer ihn Wochen zuvor brutal zusammengeschlagen hatte. Daraufhin schlägt ihm der Barbesitzer ins Gesicht, zieht ein Jagdmesser und durchschneidet Sven M.s Kehle. Vier weitere Tatbeteiligte helfen ihm anschließend, die Leiche in einem Gebüsch zu verstecken.

Duy-Doan Pham, ein Obdachloser mit vietnamesischem Einwanderungshintergrund, wird 2011 in Neuss von zwei Neonazis ermordet. In einer Unterkunft für Wohnungslose rauben die zwei Täter ihr Opfer zunächst aus. Duy-Doan Pham verlässt darauf das Obdachlosenheim, um sich in der Nähe einen anderen Ort zum Schlafen zu suchen. Die beiden Männer folgen ihm wenige Stunden später und fordern noch mehr Geld. Aus Angst, er könne bei der Polizei aussagen, schlagen sie zehn Minuten lang mit einem Holzpfahl auf den wehrlosen Vater dreier Kinder ein. Anschließend beobachten sie ihn beim Sterben, bis ihr Opfer an seinem Blut erstickt.

Fragen wirft auch der Mord an Egon Effertz auf, der 1999 in Duisburg von Neonazis zu Tode geprügelt wird. Das LKA bezeichnet die Tat als „in der Gesamtschau überwiegend rechtsmotiviert”, ergänzt jedoch, dass „die Erfassungsvoraussetzungen aus Sicht der Fachdienststelle KPMD-PMK [Kriminalpolizeiliche Meldedienst in Fällen Politisch motivierter Kriminalität, Anm. d. Verf.] heute nicht oder eher nicht vorliegen”.

Kritik von Opferberatungsstellen an Durchführung und Kommunikation

Das Landeskriminalamt NRW zeigt sich unterdessen zufrieden mit dem Projekt. Die Untersuchung sei Ausdruck einer reflektierten und selbstkritischen Betrachtung innerhalb der Polizei NRW, heißt es im Abschlussbericht. Man habe sich der Verantwortung gegenüber den Opfern und deren Angehörigen gestellt. Opferberatungsstellen kritisieren jedoch die Durchführung und Kommunikation der Projektergebnisse. Betroffene und Angehörige von Opfern rechter Gewalt wurden weder in die Untersuchungen mit eingebunden, noch angemessen und traumasensibel über die Ergebnisse informiert. Auch die fehlende Beteiligung unabhängiger Akteur*innen aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft wird bemängelt. In ihrer Stellungnahme zum Projekt wirft die Opferberatung Rheinland dem LKA vor, basierend auf unvollständigen Akten und Beweiswürdigungen eine nicht nachvollziehbare Bewertung der untersuchten Fälle vorgenommen zu haben. Eindeutig rechte Tatmotive seien ignoriert worden, sobald bestimmte Erfassungskriterien nicht erfüllt waren. „Dass beispielsweise die ermordete Alexandra Rousi aus Paderborn nicht als Todesopfer rechter Gewalt anerkannt wird, nur weil der eindeutig rassistisch handelnde Täter beim Brandanschlag ebenfalls ums Leben kam, ist ein Schlag ins Gesicht für die Angehörigen“, kritisiert Thomas Billstein von der Betroffenenberatung BackUp NRW.

Die Opferberatung Rheinland verweist auf Bundesländer, in denen ähnliche Untersuchungen von Altfällen durchgeführt wurden. Auch in Brandenburg, Berlin und Thüringen wurden Projekte durchgeführt, um die Opferzahlen rechter Gewalt neu zu überprüfen. Anders als in NRW waren jedoch neben den Landeskriminalämtern auch Justizministerien, Opferberatungsstellen und andere zivilgesellschaftliche Organisationen, wie in Brandenburg die Amadeu Antonio Stiftung, aktiv an der Neubewertung der Fälle beteiligt. Ein solches Vorgehen erhöhe nicht nur die Transparenz der Projekte. Es ermögliche auch eine umfangreichere Untersuchungsgrundlage, da Akten und Zeugenaussagen leichter zugänglich sind. Insgesamt stärke eine unabhängige, wissenschaftliche Auseinandersetzung das Vertrauen der Betroffenen und ihrer Angehörigen in die staatlichen Institutionen. Diese Chance habe das LKA NRW mit ihrem Projekt jedoch versäumt.

Fabian Reeker, Leiter der Opferberatung Rheinland, fasst zusammen: „Diese Intransparenz zeigt keinen verantwortungsvollen Umgang mit der alltäglichen und tödlichen Dimension von rechter Gewalt, geschweige denn mit den Überlebenden und Angehörigen.“

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