Der vor genau 123 Jahren geborene Emanuel Ringelblum (1900 – 1944) war ein jüdischer Historiker, Politiker, Pädagoge und Publizist. Ringelblum wurde am 12.November 1900 in Buczacz in Galizien/Polen geboren, heute ein Teil der Ukraine. Sein Vater starb als er zwölf war, seinen Lebensunterhalt musste er sich mit Nachhilfe verdienen. Ab 1922 studierte er in Warschau Philosophie und promovierte 1927.
Er engagierte sich bei der zionistisch-marxistischen Partei Poalei Tzion und propagierte die Gründung eines sozialistisch-jüdischen Territoriums in Palästina; dieses sollte ein gleichberechtigtes Zusammenleben mit den Palästinenser*innen anstreben. Ringelblum arbeitete als Geschichtslehrer und gründete 1925 ein Zentrum zur Erforschung der jüdischen Sprache (YIVO). 1929 entstand hieraus eine Kommission zur Geschichte der Juden in Polen. Bis 1939 publizierte Ringelblum 139 wissenschaftliche Beiträge zu jüdischen Themen. Er verband durchgehend wissenschaftliches Interesse für die jüdische Sprache und jüdische Sozialgeschichte mit politischer sowie karitativer Arbeit.
1938 wurde er als Vertreter des Joint Distribution Committee (JDC) – eine amerikanisch-jüdische Hilfsorganisation – in eine polnische Grenzstadt geschickt, um 6000 aus Deutschland stammenden Jüdinnen*Juden zu helfen, die dort festsaßen. Nach dem Einmarsch der Deutschen in Polen im September 1939 musste er im Jüdischen Ghetto Warschaus leben. Er organisierte dort für das JDC soziale Selbsthilfeprojekte, Suppenküchen, Kinderheime und Hauskomitees für notleidende Jüdinnen und Juden.
Ringelblum baute gemeinsam mit bis zu 60 Mitstreitern ab 1941 das Untergrundarchiv Oneg Shabbat auf, das nach seiner Ermordung nach ihm benannt wurde. Hauptaufgabe war die Dokumentation des vielfältigen jüdischen Lebens im Ghetto.
Nachdem am 22. Juli 1942 die deutschen Besatzer begannen das Warschauer Ghetto zu räumen und Jüdinnen*Juden in Vernichtungslager transportierten, mauerten die Mitarbeiter des Oneg Shabbat Archivs ihre tausenden Dokumente in wasserdichten Metallkisten und Milchkannen an verschiedenen Stellen im Keller einer ehemaligen Schule. Das Archiv beinhaltete fast 25.000 Blatt.
Im März 1943 gelang Emanuel Ringelblum und seiner Familie die Flucht aus dem Ghetto, zu Pessach, im April, kehrte er ins Ghetto zurück, wurde ins Arbeitslager Reawniki deportiert, floh erneut und wurde am 7. März 1944 nach einer Denunziation mit seiner Frau Józia Yehudit und seinem kleinen Sohn Uri in einem Versteck entdeckt. Die Familie wurden mit weiteren Jüdinnen*Juden in die Ruinen des Ghettos verschleppt und erschossen. Das Angebot, ohne seine Familie zu flüchten, hatte Emanuel Ringelblum abgelehnt.
Oneg Shabat – das Ringelblumarchiv
„Alles muss festgehalten werden, ohne auch nur eine einzige Tatsache auszulassen. Wenn die Zeit kommt – und sie wird gewiss kommen – soll die Welt es lesen und wissen, was die Mörder getan haben.”
aus dem Oneg Schabbat-Archiv
Emanuel Ringelblum sammelte ab 1941 zusammen mit bis zu 60 Mitarbeitenden, die aus allen Spektren der jüdischen Gesellschaft stammten, in seinem Geheimarchiv Oneg Shabat Materialien, um die Geschichte des Warschauer Ghettos sowie des jüdischen Lebens und Sterbens im Ghetto zu dokumentieren.
Dort wurden Akten, Presseausschnitte, Plakate, Flugblätter, Eintrittskarten, Einladungen, Lebensmittelmarken, persönliche Korrespondenz, Zeitschriften und Tagebücher gesammelt, wie auch Nazi-Propagandamaterialien. Es sollte alles festgehalten werden, um die Taten der deutschen Verbrecher für die Nachwelt zu dokumentieren – die jüdischen Widerständler*innen wussten, dass die Möglichkeit ihres Überlebens äußerst gering war. Sie sammelten auch zahlreiche Zeitzeugenaussagen aus dem Warschauer Ghetto, zum Teil aber auch aus anderen Teilen Polens, um die Vielfalt jüdischen Lebens für die Nachwelt zu dokumentieren. Es wurden auch Untergrundzeitschriften, die im Ghetto erschienen, sowie Dutzende von Fotos und Kunstwerke gesammelt. Neben dem sozialen jüdischen Leben sollte auch das spirituelle jüdische Leben im Ghetto Warschau für die Nachgeborenen aufbewahrt werden.
Selbst als im Sommer 1942 Hunderttausende Jüdinnen*Juden nach Treblinka deportiert wurden, darunter auch Mitarbeitende des Archivs, setzten Ringelblum und seine Mitkämpfer*innen ihre dokumentierende Arbeit fort. Der hierzulande bekannteste Mitarbeiter Ringelblums war der spätere Literaturwissenschaftler Marcel Reich-Ranicki.
Die Zeitzeugin und Chronistin des Widerstandes Rachel Auerbach (1903–1976)
Die 1903 geborene Journalistin Rachel Auerbach arbeitete seit dem Überfall Deutschlands auf Polen 1939 in einer Suppenküche für Hunderte von Jüdinnen*Juden, um das soziale Überleben sowie den Zusammenhalt im Ghetto zu stärken. Sie führte dabei zahllose Gespräche, die sie teils auch aufschrieb. Das Angebot des Journalistenverbandes, auf einem von ihm reservierten „Ticket“ Polen zu verlassen, lehnte sie ab. Sie wollte weiterhin solidarisch unterstützend und den Schrecken dokumentierend in Warschau bleiben.
Im Widerstandsarchiv, in dem die Chronistin des Warschauer Gettos seit 1941 auf Einladung von Ringelblum, der sie bereits vor dem Krieg gekannt hatte, arbeitete, sprach sie weiterhin mit zahlreichen Ghettobewohnern und dokumentierte vom 4. August 1941 bis zum 26.Juli 1942 viele ihrer Gespräche und detaillierte Alltagsbeobachtungen für das Archiv: „Ich erfahre von der Existenz einer Gruppe von Personen, die Dokumente sammeln und die heutige Zeit beschreiben“, notierte Auerbach und fügt hinzu: „Ringelblum ernennt mich zur Mitarbeiterin“.
Sie dokumentierte auch den Tod in ihrem Tagebuch, „der am helllichten Tag durch die Strassen spaziert“. Als Chronistin des Ghettos versuchte sie das unvorstellbare Grauen für die Nachwelt zu dokumentieren, „denn wer weiss, ob auch nur ein Zeuge dieser Tragödie übrigbleibt.“ Sie blieb helfend und dokumentierend im Warschauer Ghetto, selbst gleichfalls vom Tode bedroht, und fürchtete in ihren schwachen Momenten gelegentlich doch, „alldem nicht gewachsen zu sein und diese Wirklichkeit, die wir erleben“, nicht beschreiben zu können.
Vier Tage nach Beginn der Liquidierung des Ghettos, am 26. Juli 1942, schreibt Rachel Auerbach in einem ihrer letzten Einträge: „Vielleicht weint selbst der Satan, den wie Gott, der Mensch ersonnen hat. Aber das zu ersinnen, was sie jetzt vollführen, vermochte mit einem nur im Deutschen vorhandenen Ausdruck allein der Unmensch-Teufel.“
Sie übergab Ringelblums Archiv auch ihr Notizheft „Monografie einer Volksküche“ sowie ihre zahlreichen Interviews mit Freundinnen. Im März 1943 gelang Rachel Auerbach die Flucht. Sie blieb weiterhin im Widerstand engagiert. Nach Kriegsende arbeitete sie bei der Historischen Kommission in Polen und war im September 1946 maßgeblich an der Findung des ersten Teils von Ringelblums Archiv beteiligt.
1947 veröffentlicht sie Oyf di Felder fun Treblinke (Auf den Feldern von Treblinka), einen umfassenden Bericht über dieses Vernichtungslager. 1950 ging sie nach Israel und arbeitete für Yad Vashem. 1961 war sie als Zeitzeugin am Prozess gegen Eichmann beteiligt, gegen den sie vor Gericht aussagte. Rachel Auerbach verstarb 1976 in Tel Aviv.
Das Ringelblum-Archiv in Zeitzeugenerinnerungen
Der jüdische Literaturexperte Marcel Reich-Ranicki (1920 – 2013) wurde 1940 zwangsweise nach Polen verschleppt. Er schrieb unter Pseudonym Konzertkritiken und war für den „Judenrat“ als Übersetzer tätig. Im Ghetto wurde er auch Mitarbeiter von Ringelblum. In seiner Autobiografie Mein Leben (1999) erinnerte Reich-Ranicki sich: „Viele der Berichte und Gesuche, deren Übersetzung ich zu kontrollieren hatte, und viele der Briefe, die ich selber übersetzte, ließen mich das ganze Ausmaß der Not und des Elends im Ghetto erkennen. Bald begriff ich, daß ich in einer ungewöhnlichen Situation war: Ich hatte Zugang zu Dokumenten von historischer Bedeutung.“ Im Ghetto traf er Ringelblum, der ihn zu einem kurzen Gespräch in seinem Büro bat und „der mir als eine der stärksten Persönlichkeiten des Gettos in Erinnerung geblieben ist.“
In dessen Untergrundarchiv, erinnert sich Reich-Ranicki, „wurde alles gesammelt, was das Leben im Ghetto dokumentieren konnte: Bekanntmachungen, Plakate, Tagebücher, Rundschreiben, Fahrkarten, Statistiken, illegal erscheinende Zeitschriften, wissenschaftliche und literarische Arbeiten.“ Reich-Ranicki übergab dem Archiv auch Briefe und Dokumente des „Judenrates“. An Ringelblum erinnert er in dieser Weise: „Ein stiller, unermüdlicher Organisator war er, ein kühler Historiker, ein leidenschaftlicher Archivar, ein erstaunlich beherrschter und zielbewußter Mann. Immer hatte er es sehr eilig, unsere wenigen Gespräche waren leise, knapp und ganz sachlich. Wenn ich es recht bedenke, habe ich ihn nur flüchtig gekannt. Aber ich sehe ihn immer noch vor mir, ihn, Emanuel Ringelblum, den schweigsamen Intellektuellen.“
David Graber, er war 19 Jahre jung und Mitglied des Oneg Shabbat, schrieb im August 1942 in äußerster Eile in einer seiner letzten Tagebuchaufzeichnungen kurz vor seinem Tod: „Was wir nicht in die Welt hinausrufen und schreien konnten, haben wir im Boden vergraben. (…) Nur zu gerne würde ich den Augenblick erleben, in dem der große Schatz ausgegraben wird und der Welt die Wahrheit ins Gesicht schreit. Damit die Welt alles erfährt.“
Und an anderer Stelle in seinen Tagebuchaufzeichnungen notierte David Graber: „Wir müssen uns beeilen, weil wir nicht wissen, wie viel Zeit uns noch bleibt. […] Wir spürten die Verantwortung. Wir hatten keine Angst, ein Risiko einzugehen. Uns war bewusst, dass wir Geschichte machten. Und das war wichtiger als unser Leben.“
Die Kölnische Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit veröffentlicht auf ihrer Instagram-Seite eine lesenswerte Serie über Held*innen des Jüdischen Widerstandes, auch dieses Portrait erscheint dort in gekürzter Form.