Kurz nach der Besetzung der heutigen belarussischen Hauptstadt durch die Wehrmacht Ende Juni 1941 wurde das Ghetto Minsk errichtet. Im Herbst 1943 liquidierte die SS das Ghetto. Die Zahl der ermordeten Juden in Minsk wird auf 50.000 bis 85.000 geschätzt. Trotz dieser hohen Opferzahlen ist im deutschsprachigen Raum erst ab den 1990er Jahren begonnen worden, die Geschichte des Ghettos in Minsk genauer zu erforschen. Über das Leben der knapp 7.000 deutschen Jüdinnen und Juden, die 1941 in das Ghetto von Minsk deportiert wurden, ist nur wenig bekannt. Die 1941 nach Minsk deportierten Frauen, Männer und Kinder kamen aus Hamburg, Düsseldorf, Frankfurt am Main, Berlin, Brünn, Bremen und Wien.
956 Namen
Wie wenig man über die nach Minsk deportiert jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger weiß, wurde auch der Berliner Delegation im Juli 2009 bewusst, als sie einen Gedenkstein für die Berliner Jüdinnen und Juden auf dem Gelände des ehemaligen Ghettos einweihten. Im Oktober fand sich dann unter Anregung von Prof. Dr. Michael Wildt eine Gruppe von interessierten Studierenden der Humboldt Universität zusammen um genau diese Leerstelle zu füllen. Aufgabe des studentischen Forschungsprojekts war es, die Lebensgeschichten der Berliner Jüdinnen und Juden, die am 14. November 1941 vom Bahnhof Grunewald in das Ghetto Minsk deportiert wurden, zu recherchieren. Am Anfang kannten sie nur eine Zahl: 956. 956 Menschen aus Berlin. Von diesen Bürgerinnen und Bürgern ist meist nur der Name bekannt, aber kaum etwas weiß man über ihre Lebensgeschichten, ihre Familien, ihre Arbeits- und Lebenswelten in Berlin.
Die Forschungsgruppe arbeitete sehr engagiert und ehrenamtlich an diesem Projekt. Die Studierenden versuchten, die Lebensgeschichten dieser Menschen zu erforschen und ein Stück weit wieder sichtbar zu machen. Sie recherchierten im Internet, wälzten Akten in Berliner Archiven, führten Gespräche mir Zeitzeuginnen und Zeitzeugen und suchten Kontakt zu Angehörigen der Deportierten. Durch ihre Erinnerungen und Zeugnisse war es möglich, fragmentarisch die Biographien der dem NS-Regime zum Opfer gefallenen Berlinerinnen und Berliner zu erzählen. Oft jedoch musste die Forschungsgruppe aber auch feststellen, dass nichts mehr über die Deportierten in Erfahrung zu bringen ist. Was bleibt sind nur ihre Namen.
Ungeklärtes Schicksal eines Widerstandskämpfers
Die Ergebnisse der bisherigen Recherchen waren dann 2011 in einer kleinen Ausstellung im Centrum Judaicum zu sehen. Heftig diskutierte die Gruppe während der Konzeption der Ausstellung, wie man denn am besten mit den vielen Leerstellen umgehen sollte. Wie umgehen mit den Schicksalen derer, die vermutlich für immer im Dunkeln bleiben werden. Die Ausstellung kann nur einen kleinen Beitrag leisten und es werden exemplarisch acht Biographien von Berliner Jüdinnen und Juden gezeigt. Nur ein kleiner Ausschnitt. Auch das Schicksal des 56-jährigen Berliner Autoschlossers und Widerstandskämpfers Berthold Rudner, ließ sich nur fragmentarisch rekonstruieren. Bilder von ihm vor dem Krieg existieren nicht mehr. Aber die Forschungsgruppe konnte Fragmente seines Tagebuchs, das er im Ghetto verfasste im Institut für Zeitgeschichte in München finden. Auf diesen Tagebuchseiten beschreibt Berthold Rudner in bildhafter Sprache das harte Leben, welches die Menschen im Ghetto Minsk zu ertragen hatten. Beschreibungen von Hunger, Kälte, Krankheit, menschenunwürdigen Verhältnissen und er berichtet immer wieder von Misshandlungen und Tötungen durch die SS. Mit dem Sommer 1942 bricht das Tagebuch ab. Das Schicksal seines Verfassers ist ungeklärt.
Online-Ausstellung gegen das Vergessen
Um auch die Rechercheergebnisse der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, die keinen Platz in der kleinen Ausstellung gefunden haben, hat sich die Forschungsgruppe mit interessierten und engagierten Informatikern zusammengesetzt und ein Konzept für eine Online-Ausstellung entworfen. Mit der Ausstellungseröffnung im Centrum Judaicum wurde auch die Webseite unter www.berlin-minsk.de online zugänglich. Dynamisch werden dort die Rechercheergebnisse immer weiter ergänzt. Projekttutorin Patricia Pientka sagte: „Mit Internetseite und Ausstellung wollen wir dazu beitragen, dass die Lebensgeschichten der verfolgten Jüdinnen und Juden auch einer breiteren Öffentlichkeit unvergessen bleiben.“
Dieser leicht aktualisierte Beitrag ist ursprünglich auf dem Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ erschienen (2002-2022).