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NS-Vergangenheit Der „Engel von Marseille“

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Photo: Marseille, von Christophe Mousier, via wikipedia, cc

Hans Sahl verarbeitete die Erfahrungen seiner Flucht über Marseille in die Vereinigten Staaten und seine Begegnung mit dem US-Amerikaner Varian Fry in seinem Roman „Die Wenigen und die Vielen“ (1959). „Sie müssen sich vorstellen: Die Grenzen waren gesperrt, man saß in der Falle. Jeden Augenblick konnte man von neuem verhaftet werden, das Leben war zu Ende – und nun steht da plötzlich ein junger Amerikaner in Hemdsärmeln, stopft dir die Taschen mit Geld voll, legt den Arm um dich und zischelt mit schlecht gespielter Verschwörungsmiene: Oh, es gibt Wege, Sie herauszubringen, während dir, verdammt noch mal, die Tränen über die Backen laufen, ja, scheußliche, richtige, dicke Tränen, und der Kerl, der gemeine, übrigens ein ehemaliger Harvard-Student, nimmt nun auch wirklich sein seidenes Taschentuch aus der Jacke, die über dem Stuhl hängt, und sagt: ‚Hier, nehmen Sie. Es ist nicht ganz sauber. Sie müssen schon entschuldigen‘“, so beschreibt Sahl seine erste Begegnung mit Fry. Der Harvard-Absolvent und ausgebildete Journalist hatte als Korrespondent für die amerikanische Zeitschrift „The Living Age“ 1935 in Berlin ein Judenpogrom auf dem Kurfürstendamm erlebt. Dieses einschneidende Erlebnis veranlasste ihn nach seiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten, die dortige Einreisepolitik gegenüber den Verfolgten des NS-Regimes zu kritisieren.

Varian Fry in Marseille

Nach der militärischen Niederlage Frankreichs gegen das nationalsozialistische Deutschland und dem aufgezwungenen Waffenstillstand vom 22. Juni 1940 wurde die Lage für deutsche und österreichische Verfolgte immer prekärer. Das deutsch-französische Waffenstillstandsabkommen schrieb fest, „alle in Frankreich sowie in den französischen Besitzungen befindlichen Deutschen, die von der Reichsregierung namhaft gemacht werden, auf Verlangen auszuliefern“. Im Juni 1940 beschloss die US-Regierung, auf Initiative der Präsidenten-Gattin Eleanor Roosevelt, der von Verfolgung bedrohten politischen Elite Europas freie Einreise in die USA zu gewähren. Zweihundert Notvisa, in erster Linie für Intellektuelle, wurden erteilt. Das neu gegründete „Emergency Rescue Comitee“ (ERC) war für die Organisation der Flucht verantwortlich. Da Varian Fry fließend Deutsch und Französisch sprach und der Gestapo nicht bekannt war, wurde er vom ERC nach Marseille geschickt, um die dort versammelten Regimekritiker bei ihrer Flucht zu unterstützen. In seinem Gepäck befanden sich Listen mit Namen von Frauen und Männer, die gerettet werden sollten.

Geehrt als „Gerechter unter den Völkern“

Frys „Centre Américain de Secours“ (CAS) war offiziell eine Anlauf- und Beratungsstelle für alle Flüchtlinge. In Wahrheit verbarg sich hinter dieser Fassade einer Hilfsorganisation aber ein ausgeklügeltes Fluchthilfenetz um auf legale und illegale Weise den meist jüdischen Flüchtlingen bei ihrer Emigration zu helfen. Etwa 4.000 Personen konnten durch Fry und seine Mitarbeiter aus Frankreich geschleust und gerettet werden, darunter berühmte Persönlichkeiten wie Franz Werfel und seine Frau Alma Mahler-Werfel, Hans Sahl, Heinrich und Golo Mann, Walter Mehring, Marc Chagall, Hannah Arendt und Lion Feuchtwanger, um nur einige zu nennen. Die Arbeit des CAS blieb jedoch nicht lange geheim. Im Dezember 1940 wurde Fry vom Vichy-Regime inhaftiert, kam aber wieder frei und setzte seine Arbeit fort. Nach seiner zweiten Verhaftung im August 1941 folgte seine Abschiebung in die USA. Seine scharfe Kritik an der US-amerikanischen Einreisepolitik brachte ihm nach seiner Rückkehr jedoch große Schwierigkeiten ein. Während der Mc-Carthy-Ära galt der Linksintellektuelle Fry als verdächtigter Sympathisant der kommunistischen Ideologie. Seine Karriere geriet ins Stocken und er musste als Werbetexter und College-Lehrer arbeiten. Ehrungen für sein außergewöhnlich mutiges Handeln wurden ihm erst dreißig Jahre nach seinem Tod zuteil. Im Jahr 1996 wurde er von Yad Vashem als erster US-Amerikaner als „Gerechter unter den Völkern“ geehrt. Bereits 1991 hatte ihm das Holocaust Memorial Museum in den USA eine Ausstellung gewidmet. Varian Fry ging bei den von ihm Geretteten als „Engel von Marseille“ in die Geschichte ein.

Das Aktive Museum Faschismus und Widerstand in Berlin würdigte Fry im Jahr 2007 mit der Ausstellung „Ohne zu zögern. Varian Fry: Berlin-Marseille-New York“.

Dieser leicht überarbeitete Beitrag ist ursprünglich auf dem Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ erschienen (2002-2022).

 

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