Samstag, der 30. August 2008 am Bayerischen Platz in Berlin. Eine Gruppe Salzgitteraner Jugendlicher spürt den Auswirkungen nationalsozialistischer Gesetze auf die jüdische Bevölkerung Berlins nach. In und um den Bayerischen Platz finden sie an Laternen angebrachte bunte Bilder: eine Parkbank, eine Uhr, Musiknoten sind dort zum Beispiel zu sehen. Auf der Rückseite findet sich jeweils eine Erklärung: Juden dürfen am Bayerischen Platz nur auf gelb markierten Parkbänken sitzen, müssen zu einer bestimmten Uhrzeit zu Hause sein, dürfen nicht mehr Mitglied im Gesangsverein sein. Nachdem die Jungen und Mädchen im Alter von 11-17 Jahren in zweier und dreier Grüppchen ausgeströmt sind, diese kleinen Gedenktafeln zu finden, treffen sie sich mit Maike Weth, der lokalen Koordinatorin des Projekts, Elke Zacharias von der Gedenkstätte Salzgitter und Andrés Nader von der Amadeu Antonio Stiftung. Gemeinsam diskutieren sie, was sie entdeckt haben und erkennen, wie die Gesellschaft im Nationalsozialismus Juden systematisch ausgegrenzt und entrechtet hat.
Zwischendrin stört eine betrunkene Frau: „Schon wieder diese Juden, hört doch endlich mal auf mit denen!“ ruft sie der Gruppe zu. Ian bemerkt dazu selbstbewusst: „Soll sie halt nicht zu hören.“
Die letzte Gedenktafel, vor der die Gruppe stehenbleibt, zeigt einfach nur ein schwarzes Feld. Auf der Rückseite die Erklärung: Ab 1941 ist Juden die Auswanderung verboten.
In der U-Bahn auf dem Weg nach Mitte entspannt sich ein kleines Gespräch darüber, was das für die Menschen bedeutete und man merkt: Der Gesprächsbedarf der Gruppe ist groß.
Aber auch die Neugier auf das Berliner Leben ist groß! Während der Mittagspause am Potsdamer Platz bewundern sie die Hochhäuser, werfen sehnsüchtige Blicke ins „Legoland“ und kaufen Postkarten und andere Andenken.
Vorbei an „Mauerresten“ auf dem Potsdamer Platz geht es zu Fuß weiter zum Tiergarten und der nächsten Station auf der Spurensuche durch Berlin: Dem Denkmal der grauen Busse, dass an die Ermordung von Menschen mit Behinderungen und psychischen Krankheiten erinnert. Das mobile Denkmal, es zeigt einen grauen Bus aus Beton, steht zur Zeit dort, wo sich die Befehlszentrale der Aktion „T4“ befand: an der Tiergartenstraße 4.
In grauen Bussen, so erklärt Andrés Nader, wurden die Menschen, die im Nationalsozialismus als „lebensunwert“ angesehen worden sind, deportiert. Vielen Menschen war dies bekannt, so dass die grauen Busse zu einer Chiffre der – beschönigt so genannten – „Euthanasie“-Aktion wurden. Die Gruppe ist sichtlich bewegt: „Nur, weil sie behindert waren?“ fragen sie, und: „Waren da auch Kinder dabei?“
Vom Denkmal der grauen Busse im Tiergarten geht es weiter zur nächsten Station der Tour durch die Erinnerungslandschaft Berlins: dem Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Nachdem sich die Gruppe Gedanken gemacht hat zum Namen und zur Gestaltung des Ortes, verschwinden sie zwischen den grauen Stelen. Dass das Denkmal nicht leicht zu erschließen ist, merkt man an ihrem Verhalten: sie spielen Fangen zwischen den Stelen.
Doch ihre Aufmerksamkeit ist wieder da, als es zum gegenüberliegenden Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen geht. Durch ein Fenster in einer einzelnen grauen Stele sieht man einen Film zweier Männer, die sich zärtlich küssen.
Elke Zacharias erzählt, dass diese Opfer lange Zeit aus dem öffentlichen Gedenken ausgeschlossen waren. Bis 1969 war Homosexualität in der Bundesrepublik strafbar und die Betroffenen trauten sich oft nicht, die Gründe für ihre Verfolgung im NS zu thematisieren. Die Gedenkstätte Salzgitter, erzählt Frau Zacharias den Jugendlichen, hat unter all ihren Zeitzeugeninterviews daher keines mit einem homosexuellen Opfer des Nationalsozialismus.
Ian ist empört: „Und was ist mit den Menschenrechten?!“ will er wissen. Doch es scheint auch andere Gefühle zu geben: Wie er den Film fände, will Maike Weth von einem der Jugendlichen wissen, doch durch diese Frage ist der Junge eingeschüchtert und es kommt zu keiner Diskussion.Zeit für eine Pause und ein wenig sightseeing – einmal durchs Brandenburger Tor.
Gleich nebenan befand sich lange Jahre das Atelier Max Liebermanns. Vor diesem kleinen Haus am Pariser Platz liegt heute ein Stolperstein für dessen Frau Martha. So einen Stolperstein wollte Felix schon immer mal sehen, bei Elke Zacharias erfragt die Gruppe auch gleich, wo sie in Salzgitter Stolpersteine finden können.
Die Geschichte von Martha Liebermann
Die Geschichte von Martha Liebermann erzählt Andrés Nader: Nach dem Tod ihres Mannes 1935 war Martha Liebermann in eine kleine Wohnung im Tiergartenviertel gezogen, ihr Haus am Pariser Platz durfte sie nach dem im Dezember 1938 verhängten „Judenbann“ über das Regierungsviertel nicht mehr betreten. Trotz der Repressionen blieb sie in ihrer Heimatstadt Berlin. Als Martha Liebermann sich, Ende 1940, doch zur Auswanderung entschlossen hatte, war es zu spät, alle Bemühungen zu emigrieren scheiterten. Obwohl sie als 84-jährige einen Schlaganfall erlitten hatte und ans Bett gefesselt war, erreichte sie im März 1943 der Deportationsbescheid. Martha Liebermann nahm sich daraufhin das Leben.
Vorbei an der noch immer brach liegenden Baustelle für das geplante Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma geht es weiter bis zum Reichstaggebäude. Dort endet, mit einem Blick von der Kuppel über Berlin, der Ausflug in die Geschichte. Aus der so viel gelernt werden kann über vieles, was sich heute noch im Alltag spiegelt.
Claire Keruzec
Dieser Beitrag ist ursprünglich auf dem Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ erschienen (2002-2022).