Das Tribunal ‚NSU-Komplex auflösen’ wurde heute mit dem Amadeu Antonio Preis ausgezeichnet. Der gemeinsam von der Stadt Eberswalde und der Amadeu Antonio Stiftung ausgelobte Preis würdigt das kreative Engagement für Menschenrechte und gegen Rassismus und Diskriminierung. Das zivilgesellschaftliche Tribunal hatte im Mai dieses Jahres am Schauspiel Köln mit 3.000 Teilnehmenden den strukturellen Rassismus in Deutschland angeklagt. Betroffene rassistischer Gewalt, Künstler_innen und Aktivist_innen klagten stellvertretend 90 Personen an, die für die Mithilfe und ideologische Ebnung des NSU-Komplex verantwortlich gemacht werden.
„Dieser Preis gebührt den Betroffenen des NSU-Terrors“, sagte der Sprecher des Aktionsbündnisses ‘NSU-Komplex auflösen’, Tim Klodzko. „Jahrelang wurden sie von Ermittlungsbehörden und Medien zu Tätern erklärt. Der hinter dieser Täter-Opfer-Umkehrung stehende strukturelle Rassismus ist noch immer virulent: Jeden Tag wird ein Anschlag auf Flüchtlingsunterkünfte verübt, Menschen werden aus rassistischen Motiven angegriffen oder von Behörden diskriminiert; von dem alltäglichen, subtiler wirkenden Rassismus gar nicht erst zu sprechen! Wir haben in den Betroffenen des NSU-Terrors nie nur Opfer gesehen. In ihren Geschichten über das Leid, das ihnen angetan wurde, stecken immer auch Anklagen gegen die
Täter_innen und die dahinter liegenden Strukturen sowie ein Einklagen von Aufklärung. Dieser Mut der Betroffenen hat uns bestärkt, mit einem zivilgesellschaftlichen Tribunal diese Opferperspektiven zu stärken und gemeinsam eine postmigrantische Gesellschaft einzuklagen“, so Klodzko.
„Meilenstein, in der Art und Weise wie wir als politische Menschen Kunst als Mittel nutzen können, um aufzuklären“
Der Laudator und Jurymitglied Van Bo Le-Mentzel, würdigte das Tribunal als „Meilenstein, in der Art und Weise wie wir als politische Menschen Kunst als Mittel nutzen können, um aufzuklären, die Gesellschaft weiterzubringen und vor allem Menschen dazu bringen, dies nachzuahmen. Das Tribunal war ein Werkzeug aufzuklären und hat einen neuen Standard geschaffen.“
Mit einem fünftägigen Programm am Schauspiel Köln wurde beim Tribunal ‘NSU-Komplex auflösen’ die Migrationsgeschichte nach Deutschland reflektiert, der Angriff der Nazis gegen ebenjene Migrationsgesellschaft besprochen, die Verstrickungen staatlicher Behörden aufgezeigt, das internationale rechtsterroristische Netzwerk, in das der NSU eingebunden war, sichtbar gemacht, die Defizite des NSU-Prozesses erörtert, die Verhinderung von Aufklärung beklagt, den Opfern gedacht, migrantisch situiertes und aktivistisches Wissen getauscht und eine „Gesellschaft der Vielen“ eingeklagt. In über 20 begleitenden Workshops konnten sich die über 3.000 Teilnehmenden vernetzen, Betroffene wurden empowert. Filme, Theaterstücke, Stadtführungen und Ausstellungen bildeten das Rahmenprogramm. In der über zweijährigen Vorbereitungsphase entstanden Filmspots, Interviews mit Betroffenen, Ausstellungen, Demonstrationen, Theaterstücke, Plakatkampagnen, eine forensische Untersuchung und viele weitere künstlerische und politische Ausdrucksformen, die kritisch den NSU-Komplex beleuchten.
Mangelnde Konsequenzen beim Verfassungsschutz
Klodzko bemängelt die mangelnden Konsequenzen beim Verfassungsschutz: „Wir konnten mit der unabhängigen Untersuchung durch das Londoner Institut Forensic Architecture aufzeigen, dass beim NSU-Mord an Halit Yozgat der Verfassungsschützer Andreas Temme anwesend war. Der Inlandsgeheimdienst spielte auch in allen anderen Fällen eine entscheidende Rolle. Trotz oder gerade wegen der mittlerweile 40 enttarnten V-Leute im NSU-Umfeld wurden die Morde und Anschläge nicht aufgehalten. Nach dem NSU-Skandal wurden den Geheimdiensten sogar noch mehr Kompetenzen und Ressourcen zugewiesen – die Kontrolle blieb weiterhin mangelhaft. Mit großer Sorge beobachten wir, wie der Geheimdienst von Journalist_innen
weiter als seriöse Informationsquelle betrachtet wird, obwohl er ein politischer Akteur ist, der mit der fragwürdigen Extremismustheorie politische Propaganda betreibt. Auch im Bereich der politischen Bildung sowie an Schulen und Universitäten bietet sich der Geheimdienst als scheinbar neutraler Gesprächspartner an. Genau dies müssen wir als Zivilgesellschaft zurückweisen. Wenn keine politischen Mehrheiten für die Abschaffung des unreformierbaren Geheimdienstes absehbar sind, müssen immerhin die zivilgesellschaftlichen Initiativen ihre Lehre aus dem NSU-Komplex ziehen und die Zusammenarbeit mit dem Verfassungsschutz konsequent boykottieren.“
FILM-TRAILER: Über das NSU-Tribunal anlässlich der Preisverleihung des Amadeu Antonio Preis 2017 https://youtu.be/7Pua04L4XoI
ANKLAGESCHRIFT: „Wir klagen an“ – 90 Angeklagte des Tribunals ‘NSU-Komplex auflösen’ https://issuu.com/nsu-tribunal/docs/nsu-tribunal_anklageschrift_de_v3
SPOTS: Audiovisuelle Filmspots, die neue Perspektiven auf den NSU-Komplex erproben (DE/TR/EN) http://tribunal-spots.net
CLIPS: Interviews mit Betroffenen des NSU-Terrors und rassistischer Gewalt im Vorfeld des Tribunals im Rahmen der Kampagne „Wir klagen an“:http://bit.ly/clips-wirklagenan
KAMPAGNE: „Wir klagen an!“. Betroffene des NSU-Terrors formulieren ihre persönliche Anklage und Forderungen:Poster | Social Media
MOBILE REPORTS: Teilnehmende des gleichnamigen Workshops dokumentierten das Tribunal mit ihren Smartphones und schufen so eine Crowd-Dokumentation: http://bit.ly/mobilereports-trbnl
FORENSIC ARCHITECTURE: Abschlussfilm der forensischen Untersuchung des Londoner Forschungsinstituts „Forensic Architecture“ im NSU-Mordfall Halit Yozgat (DE/EN/TR): http://www.forensic-architecture.org/case/77sqm_926min/
Mehr Infos: www.nsu-tribunal.de/newsroom
Über das Bundesweite Aktionsbündnis ‚NSU-Komplex auflösen’
Das Bundesweite Aktionsbündnis ‚NSU-Komplex auflösen’ besteht seit 2014 aus zahlreichen Initiativen aus ganz Deutschland, die sich mit strukturellen Rassismus, dem NSU-Komplex, Gedenkkultur beschäftigen und sich für Perspektiven von Betroffenen rassistischer Gewalt einsetzen. Darin u.a. organisiert: Initiative 6. April (Kassel), Initiative ‚Keupstraße ist überall’ (Köln), Initiative zum Gedenken an Oury Jalloh (Dessau), Initiative zur Aufklärung des Mordes an Burak Bektas (Berlin), Initiative ‚Das Schweigen durchbrechen’ (Nürnberg), Freundeskreis zum Gedenken an den rassistischen Brandanschlag von Mölln 1992 (Hamburg).
Meilensteine der Aktionsarbeit des Bündnisses sind:
die bundesweite symbolischen Umbenennung von Straßennamen mit Opfern des NSU am 4.11.2014 („Tag der Selbstenttarnung des NSU“)
Aktionstag und Demonstration vor dem OLG München am Tag der Zeugenaussagen der Betroffenen des Nagelbombenanschlages auf der Keupstraße, Tag X 20.01.2015
Intervention in den NSU-Prozess mit Verlesung der Anklageschrift während des Abschlussplädoyers der Bundesanwaltschaft, 31.08.2017
Tribunal `NSU-Komplex auflösen’ (17.-21. Mai 2017, Schauspiel Köln): In einem zivilgesellschaftlichen Tribunal mit über 3.000 Teilnehmenden berichteten Betroffene und Angehörige von NSU-Opfern von ihren Erfahrungen im NSU-Komplex. In einer Anklageschrift wurden 90 Personen stellvertretend der Verstrickung im NSU-Komplex angeklagt.
Mehr Informationen: www.nsu-tribunal.de
Über den Amadeu Antonio Preis
Zum zweiten Mal wird dieses Jahr der Amadeu Antonio Preis für kreatives Engagement für Menschenrechte – gegen Rassismus und Diskriminierung verliehen. Von der Amadeu Antonio Stiftung und der Stadt Eberswalde vergeben, würdigt der Preis kreatives künstlerisches Engagement für Menschenrechte – gegen Rassismus und Diskriminierung. Zugleich erinnern wir mit dem Preis an den gewaltsamen Tod von Amadeu Antonio vor 27 Jahren und an die vielen weiteren Opfer rassistischer Gewalt seither. Insgesamt drei Preise werden am 28. November 2017 vergeben. Aus 60 Einreichungen der verschiedensten Genres wählte die unabhängige Jury nun die sieben Nominierten. Der erste Preis ist mit 3.000 Euro dotiert, zwei weitere Preis mit je 1.000 Euro. Die Jury für den Amadeu Antonio Preis besteht aus Kunstschaffenden und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und der migrantischen Communities sowie aus Vertreterinnen und Vertretern der Auslobenden und Partner.
Mehr Informationen: http://www.amadeu-antonio-preis.de
Weitere Preisträger: „Add your Heroine!“ und „träumen auf deutsch ohne untertitel“
Ein weiterer mit 1000 Euro dotierter Preis wurde verliehen an Evelyn Rack und Billie Mind für die interaktive Ausstellung „Add your Heroine!“. Das Projekt bricht mit traditionellen Rollenvorstellungen und fordert das Publikum auf, die Sammlung mit eigenen Heldinnen zu ergänzen.Ebenfalls mit einem Preisgeld von 1000 Euro ausgezeichnet wurde Raman Zaya für die literarische Performance „träumen auf deutsch ohne untertitel“. Seine Fluchtgeschichte von Teheran nach Deutschland bildet den Rahmen für eine Performance, die alle Sinne anspricht und Fragen nach Heimat und Zugehörigkeit neu stellt.Die Laudationes wurden von der Sängerin Marianne Rosenberg, dem Architekten Van Bo Le-Mentzel und dem Bürgermeister der Stadt Eberswalde, Friedhelm Boginski, gehalten. Zur Jury gehörten neben den dreien auch die Schriftstellerin Pham Thi Hoai, die Künstlerin und Aktivistin Noah Sow, die Journalistin Güner Yasemin Balci, der Künstler Fabian Bechtle sowie Augusto Munjunga vom Afrikanischen Kulturverein „Palanca“ in Eberswalde.Amadeu Antonio wurde im November 1990 von Rechtsextremen in Eberswalde erschlagen und ist eines der ersten von mindestens 193 Todesopfern rechter Gewalt seit der deutschen Wiedervereinigung. Der nach ihm benannte Preis wird alle zwei Jahre von der Amadeu Antonio Stiftung und der Stadt Eberswalde vergeben und würdigt diejenigen, die sich in kreativer und künstlerischer Form gegen Rassismus und Diskriminierung stark machen.
Auf Belltower.News haben wir alle Nominierten porträtiert:
Schülergesprächskonzerte der Neuen Jüdischen Kammerphilharmonie Dresden
Tribunal „NSU-Komplex auflösen“
„Träumen auf deutsch, ohne Untertitel“
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