Im Foyer des Maxim-Gorki Theaters verliest die Journalistin Mely Kiyak die Anklageschrift des NSU-Tribunals: „Es sind Akten vernichtet worden. Akten, aus denen hervorgegangen wäre, welche Rolle der Rechtsextremismus in diesem Staat spielt. Wer seine Vorder- und Hintermänner sind, worin seine Pläne, seine Ideologie und vor allem sein höheres Ziel bestehen.“ Am Donnerstag, den 16. März startete die Kampagne „NSU-Komplex auflösen“, die bis zum Kongress in Köln läuft und Aufmerksamkeit für das Tribunal schaffen soll.
Vor vier Jahren hat das Gerichtsverfahren gegen Beate Zschäpe begonnen. Sie ist die einzige Überlebende der rechtsextremen Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU), die für Anschläge, Raubüberfälle und dem Mord an zehn Menschen verantwortlich ist. Die Betroffenen und Angehörigen haben immer noch viele offene Fragen, die weder im Prozess, noch in den Untersuchungsausschüssen behandelt werden. Das NSU-Tribunal der Initiative „NSU-Komplex auflösen“ will die Perspektive der Opfer in den Vordergrund stellen und klagt den strukturellen Rassismus an, der es ermöglicht hat, dass der NSU bis zu seiner Selbstenttarnung am 4. November 2011 unentdeckt blieb.
Das Tribunal wird von verschiedenen anti-rassistischen Gruppen organisiert und findet vom 17. – 21. Mai im Schauspiel Köln statt. Das Theater, das sich wegen Bauarbeiten zurzeit in einer ehemaligen Fabrik befindet, liegt direkt an der Keupstraße. Dort verletzt am 9. Juli 2004 eine Nagelbombe des NSU mehrere Menschen. Bei dem Anschlag sind auf Videoaufzeichnung die beiden Rechtsterroristen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos zu sehen. Trotzdem suchen die Behörden die Täter im Umfeld der Geschädigten, die bis auf die Polizistin Michèle Kiesewetter alle einen migrantischen Hintergrund haben. Die Verhöhnung der Opfer, denen von Behörden und von der Presse vorgeworfen wird, in kriminelle Milieus verstrickt zu sein, findet in der Bezeichnung „Dönermorde“ seinen traurigen Höhepunkt. Der NSU kann währenddessen über zehn Jahre lang ungehindert in ganz Deutschland morden, obwohl es mehrere Hinweise für die Existenz der Gruppe gibt. Dabei gibt es viele Ungereimtheiten im Vorgehen der Behörden. Es wurden wichtige Akten geschreddert, Kontakte zum NSU verschwiegen und der Austausch von entscheidenden Informationen zwischen den Verfassungsschutzbehörden behindert. Beim Mord an Halit Yozgat 2006 in Kassel war sogar ein Verfassungsschützer anwesend. (Mehr Informationen zum NSU)
Beim NSU-Tribunal geht es aber nicht darum, Täter_inen zu verurteilen oder juristisch Klage gegen sie zu erheben. Dafür gibt es die strafrechtliche Verfolgung im NSU-Prozess gegen Beate Zschäpe und die Untersuchungsausschüsse im Bundestag und den Ländern. Die Organisator_innen haben das Interesse, dass der NSU-Komplex mit all seinen Verstrickungen benannt und aufgeklärt wird. Dies umfasst nicht nur die Rolle des Staates, des Verfassungsschutzes und seiner Behörden, sondern auch der Gesellschaft, die jahrelang weggesehen hat. Shermin Langhoff, Intendantin des Maxim-Gorki Theaters stellt zu Beginn der Pressekonferenz fest, dass die Aufklärung „kein Teil der öffentlichen Debatte mehr“ ist. Auch Massimo Perinelli, einer der Organisatoren des Tribunals, beklagt, dass es an Aufklärung fehlt. Man wisse immer noch nichts Genaues über die Taten und wieso sich der NSU am 4. November 2011 selbstenttarnt hat. Strukturelle Mängel wurden seitdem nicht angefasst, und auch die Konsequenzen, die aus dem Versagen gezogen wurden seien falsch: Mehr Überwachung. Mitorganisatorin Chana Dischereit bringt den Vorwurf auf den Punkt: „Warum wurde der rassistische Tathintergrund nicht erkannt?“
„Keiner kennt die Opfer, alle kennen die Täter“
Das Ziel der Initiative ist den Betroffenen eine Stimme zu geben. Ein Ort, an dem sie ihre Sicht auf den NSU-Komplex erklären können. In Einzelinterviews berichten viele von der Enttäuschung und das erschütterte Vertrauen, dass durch die Untersuchung der Polizei entstanden sei. Die Angehörigen leiden unter den falschen Anschuldigungen und Verdächtigungen, die bei den Ermittlungen entstehen. Zwischenzeitlich zweifelt Gavriil Voulgaridis, der Bruder eines Ermordeten an der Integrität seines Bruders: „Es sind die Angehörigen, die immer noch mit offenen Fragen kämpfen. Haben Behörden etwas gewusst oder nicht? Könnte man einige Menschenleben noch retten, wie das meines Bruders?“ Aus Opfern wurden Täter gemacht, weil es in das Fahndungsmuster passte. „Keiner kennt die Opfer, alle kennen die Täter“, beklagt einer der Betroffenen. Deswegen hat sich das Tribunal zum Ziel gesetzt, strukturellen Rassismus zu thematisieren und eine zivilgesellschaftliche Debatte anzustoßen.
Wer kann mitmachen?
Zum Tribunal werden zivilgesellschaftliche Gruppen aufgerufen, sowie Menschen, die von Rassismus betroffen sind oder sich dagegen engagieren. In Köln wird der NSU-Komplex in Work-Shops, Theaterstücken, Diskussionen und Filmen aufgearbeitet. Die Themen sind vielfältig. So geht es um Formen des strukturellen Rassismus, wie „Racial Profiling“, oder die finanzielle Unterstützung der Nazi-Szene durch Behörden. Am letzten Tag werden dann Forderungen und eine Anklage vorgelesen, die im Laufe des Kongress erarbeitet wird.
Unterstützen kann man das Tribunal über Crowdfunding.
Weitere Informationen, Videos und Statements befinden sich auf der Webseite http://nsu-tribunal.de/