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NSU-Untersuchungsausschuss Existente Neonazi-Netzwerke wurden nicht ermittelt

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Erste Sitzung des 2. Untersuchungsausschusses des Bundes am 25.11.2015 im Paul-Löbe-Haus in Berlin. Heute wurde der Abschlussbericht an den Bundestag übergeben. (Quelle: dpa)

Der „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) ist für zehn Morde, drei Sprengstoffanschläge aus rassistischen Motiven, 15 Raubüberfälle und schwere Brandstiftung verantwortlich. Die Mitglieder aller im Bundestag vertretenen Fraktionen wollen seit dem ersten Untersuchungsausschuss des Bundes in der 17. Wahlperiode (2012-2013) die „lückenlose, gründliche und vollständige Aufklärung staatlichen Versagens“ angesichts des Rechtsterrorismus des NSU gewährleisten.  Nur stellt sich diese lückenlose Aufklärung trotz 107 vernommener Zeug_innen und Sachverständiger und 12.000 gesichteten Akten allein im ersten Untersuchungsausschuss und zusätzlicher 721 Gigabyte Daten im zweiten Untersuchungsausschuss aus 22 Zeugenvernehmungen mit insgesamt 84 Zeug_innen weiterhin als schwierig dar.

Am Oberlandesgericht München läuft seit dem 06. Mai 2013 außerdem der Prozess gegen Beate Zschäpe und vier Unterstützer des NSU – Ralf Wohlleben, Carsten Schultze, Holger Gerlach und André Eminger. Der Prozess hat noch kein Ende gefunden. Trotzdem lastete von Anfang an der Vorwurf auf dem Prozess, ob er nicht wesentliche Unterstützer-Strukturen des Rechtsterrorismus außer Acht lasse, ohne die Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe keine zehn Jahr im Untergrund überstanden hätten. 

Hier sollten die Untersuchungsausschüsse einspringen:

Der erste Untersuchungsausschuss auf Bundesebene lief in der 17. Wahlperiode von 2012 bis 2013 und sollte „einen Beitrag zur gründlichen und zügigen Aufklärung der Taten der ‚Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund‘ leisten und Schlussfolgerungen für Struktur, Zusammenarbeit, Befugnisse und Qualifizierung der Sicherheits- und Ermittlungsbehörden und für eine effektive Bekämpfung des Rechtsextremismus ziehen.

Dazu kamen 13 Landesuntersuchungsausschüsse, die allerdings immer nur in ihren Ländergrenzen ermitteln durften: In Thüringen 2012-2014, 2015-heute), Sachsen (2012-2014, 2015-heute), Bayern (2012-2013), Baden-Württemberg (2014-2016, ab 2017), Hessen (seit 2015), NRW (2014-2017) und  Brandenburg (seit 2016).

Der zweite Untersuchungsausschuss auf Bundesebene lief in der 18. Wahlperiode vom 2015 bis  heute. Diesmal sollte es vor allem um Aufklärung über die Vernichtung von Akten im Bundesamt für Verfassungsschutz gehen, um die Frage, wie die Tatorte ausgewählt wurden und in welchem Unterstützer-Umfeld der NSU agierte. Es ging also darum, einen Überblick über die lokale Nazi-Szene an den Tatorten zu bekommen, Vernetzung auch in Kreise der organisierten Kriminalität und der Rocker-Szene zu recherchieren – und der Frage nachzugehen, ob denn auch die Ermittlungsbehörden nach der Selbstenttarnung des NSU entsprechendes versucht hätten, um das Unterstützernetzwerk des NSU zu enttarnen und gegebenenfalls zur Rechenschaft zu ziehen.

Allein der Bewertungsteil des neuen Abschlussberichtes ist 211 Seiten lang – und enthält viele interessante Details über die gewonnenen Erkenntnisse. Es geht um das bundesweite Netzwerk von „Blood & Honour“ und die Vernetzung mit thüringischen und sächsischen Kameradschaften und Hammerskin-Chaptern. 

Einige zentrale  Erkenntnisse: 

Es gab gravierende Mängel im Dienstablauf des Bundesamtes für Verfassungsschutz und Nachbesserungsbedarf im Hinblick auf Mitarbeitergewinnung und –ausbildung und mit Blick auf Controlling, Aktenhaltung, Dokumentation, Beschaffung und Mitarbeiterführung. 

Informationen und Ermittlungsergebnisse gingen verloren, weil Datensysteme von Bundes- und Landesbehörden nicht immer kompatibel sind. 

Die Anklage im NSU-Prozess will kein neonazistisches Netzwerk erkennen. Dies hatte Folgen für die Ermittlungsarbeit, die sich dann eben auch nicht bemühte, bisher nicht identifizierte Strukturen in der Neonaziszene aufzudecken.

Ermittelt wird gegen die fünf Angeklagten und außerdem gegen neun weitere Unterstützer_innen (André Kapke, Thomas Starke, Jan Werner, Matthias Dienelt, Mandy Struck, Susann E., Max-Florian B., Hermann S., Pierre Jahn)

Eine systematische Aufklärung von Neonazi-Strukturen im Umfeld findet nicht statt.

 

Dabei, zeigt der Bericht, wäre dies durchaus von Interesse gewesen:  So lässt sich bei der Tatort-Wahl recht deutlich erkennen, dass persönliche Kontakte offenbar oft den Ausschlag gaben. Mehrfach lagen Tatorte in Stadtgebieten, die in der jeweiligen lokalen Naziszene als Wohngebiete beliebt waren (z.B. Dortmund, Kassel, Rostock). Auch sind die Nazi-Szenen der verschiedenen Tatorte zum Teil eng miteinander bekannt und verknüpft.

 

Der Ausschuss wollte per Beweisbeschluss von Generalbundesanwalt und Bundeskriminalamt wissen, ob Erkenntnisse zu lokalen Neonazi-Szenen oder das Wissen nach der NSU-Selbstenttarnung, dass es sich um rechtsextreme Taten handelte, zu neuen Ermittlungen oder Ansätzen  geführt habe? Die Antwort war (zusammengefasst): Nein. Es wurde nicht einmal versucht, den rassistischen Tataspekt mit einzubeziehen, oder Wissen in der Zivilgesellschaft über rechtsextreme Strukturen zu erfragen.

Das BKA war auch nicht in der Lage, einen Beamten zu benennen, der einen Überblick über den NSU-Ermittlungsstand hätte und „auskunftsfähig“ wäre.

 

Durch Personal-Wechsel, fehlende Erfahrung und Zeitdruck wurde das Ermittlungskonzept frühzeitig zu eng gefasst, um eine zügige Anklage-Erhebung zu ermöglichen. Dieser Fehler wurde allerdings auch nach der Anklageerhebung nicht berichtigt – obwohl der Ausschuss dies als „geboten“ ansieht. Erst 2016 wird ein Ermittlungsbeauftragter durch den Untersuchungsausschuss eingesetzt.

 

Der Untersuchungsausschuss beauftragt Sachverständigen-Gutachten zu den Tatorten des NSU. Diese belegen deutlich, dass die Rechtsterroristen intensiv mit der lokalen, regionalen und überregionalen Nazi-Szene vernetzt waren. Besonders intensiv waren die Beziehungen zum „Blood & Honour“-Netzwerk, das die Subkultur der Neonazi-Musikszene mit der terroristischen Strategie des „führerlosen Widerstandes“ verknüpfte, den der NSU umsetzte. Im Blick der Ermittlungsbehörden lag dies nicht – obwohl die die richtige staatliche Institution gewesen wären, um solche Untersuchungen zu führen.

 

Der Ausschuss stellt fest, dass Fragen nach der Vernetzung der Neonaziszene in die Ermittlungen von Generalbundesanwalt und Bundeskriminalamt hätten aufgenommen werden müssen.  In den Ermittlungsbehörden vermutete man zwar, dass es Kontakte an den Tatorten gegeben hätte, ging dem aber nicht nach. Und dies, obwohl die Informationen offen zugänglich waren, wie die Expertenberichte zeigen.

 

Auch der Informationsaustausch zwischen Ermittlungsbehörden funktionierte nicht. So wurden teilweise Ermittlungen oder Zeugenbefragungen an Landesbehörden übergeben, die aber wichtige Hintergründe aus bereits vorhandenen Ermittlungen gar nicht kannten.

 

Die V-Mann-Akten von „Tobago“, „Tusche“, „Treppe“, „Tonfarbe“, „Tacho“, „Tinte“ und „Tarif“ wurden  2011 durch den Verfassungsschutz Thüringen vorsätzlich und gezielt geschreddert, damit der massive V-Leute-Einsatz dort nicht zum Diskussionsthema werden konnte – deutlich gegen geltendes Recht. Selbst als dies innerhalb des Verfassungsschutzes bekannt wurde, wurde nicht ermittelt, wer an der Vernichtung der Akten beteiligt war.

 

Und die Folgen?

 

Der erste NSU-Untersuchungsausschuss hatte Empfehlungen für Reformen in Polizei, Justiz und Verfassungsschutz gegeben und  auch mehr Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft sowie eine Unterstützung der Demokratieförderung empfohlen. Der zweite NSU-Untersuchungsausschuss unterstützt dies, weil er feststellte, dass Folgendes behoben werden muss:

Die polizeiliche Ermittlungsarbeit war nicht im ausreichenden Maße offen für unterschiedliche Ermittlungsrichtungen und –hypothesen, sondern zu sehr auf die Täterschaft von Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe fokussiert.

Die kriminaltechnischen Möglichkeiten der DNA-Analyse wurde nicht voll ausgeschöpft. DNA-Spuren wurden nicht genug gesichert und erhoben und nicht umfassend abgeglichen. Daten wurden darüber hinaus nicht zwischen Ermittlungsbehörden geteilt.

Der Informationsaustausch zwischen Polizeibehörden ist weiter lückenhaft – eine Aufklärung struktureller krimineller Phänomene dadurch sehr schwer.

Die im November 2011 eingerichtete Ermittler-Gruppe  “Besonderen Aufbauorganisation (BAO) ,Trio'“ arbeitete durch häufige Personalveränderungen unter Niveau. So wurde eine Spezialisierung von Bearbeitern verhindert, Wissensverluste entstanden.

Örtliche Polizeibehörden hatte nicht genug Hintergrundinformationen, sollten aber trotzdem zum Teil zentrale Zeugen verhören.

Auch der Datenaustausch zwischen Polizei und Justiz ist lückenhaft; es werden sogar inkompatible Systeme geführt, etwa bei der Erfassung der Motivation von Straftaten (PMK rechts).

Durch die Untersuchungsausschüsse kamen zahlreiche Defizite in der Führung von V-Personen zum Vorschein. Gefordert werden deshalb eine Rotation der Führung, Vier-Augen-Prinzip durch einen stellvertretenden V-Personen-Führer und ein Schutzkonzept, falls die V-Person enttarnt wird. 

Außerdem fordert der Ausschuss: 

Vorhandene und sich entwickelnde rechtsterroristische Strukturen müssen aufgedeckt und schon bei deren Entstehen von Behörden bekämpft werden – sonst kommt es immer wieder zu Fehleinschätzungen des Ausmaßes und der Gefährlichkeit von Rechtsextremismus.

Zivilgesellschaftliche Präventionsarbeit gegen Rechtsextremismus muss nachhaltig und langfristig gestärkt und gefördert werden.

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Timo Reinfrank, Geschäftsführer der Amadeu Antonio Stiftung, kommentiert: „Der Ausschuss hat wichtige Arbeit geleistet, das Täterumfeld über das NSU-Trio hinaus zu beleuchten und die systematischen Verfehlungen der Behörden aufzudecken. Die Ergebnisse dürfen nicht ungenutzt in der Schublade verschwinden. Es braucht Instrumente, um die nach wie vor offenen Fragen zum NSU zu klären und die Umsetzung der angeregten Maßnahmen zu begleiten, zu evaluieren und gegebenenfalls anzupassen.“ Dazu gehört die Forderung nach Vereinheitlichung der Bewertung von politisch motivierter Kriminalität in Polizei und Justiz. Außerdem meint Reinfrank: „Es ist dringend geboten, dass sich die Politik nicht nur punktuell mit Rechtsextremismus und Rassismus beschäftigt. Der Bundestag sollte deshalb in der neuen Legislaturperiode über die Einsetzung einer Enquete-Kommission ‚Rechtsextremismus und Rassismus‘ beraten, die sich mit diesen Phänomenen langfristig auseinandersetzt. Neben der weiteren Aufarbeitung der NSU-Morde sollte zu ihren Aufgaben die Förderung der Prävention und die Unterstützung von Betroffenen sowie die Auseinandersetzung mit aktuellen Formen des Hasses, wie die Hate Speech in sozialen Netzwerken, gehören.“

Denn was bisher noch gar nicht erläutert wurde, ist die noch grundlegendere Frage, die der NSU aufwirft: Wie Rassismus und anderen Formen von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in Behörden und Verwaltung, in Sicherheitsbehörden und Strafverfolgung bearbeitet werden können – die Formen von Abwertung und Hass, die auch dazu führten, dass der NSU so lange unentdeckt morden konnte.

 

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