Lange Jahre galt Rechtsextremismus in Deutschland hauptsächlich als Jugend- und vor allem als Ostphänomen. Mit dieser Fehleinschätzung ging auch eine systematische Verharmlosung einher – mit fatalen Folgen, wie der neue Report der Amadeu Antonio Stiftung „Staatsversagen. Wie Engagierte gegen Rechtsextremismus im Stich gelassen werden“ deutlich macht. Beispielhaft untersucht er die Zustände in zehn Orten aus sechs westdeutschen Bundesländern. Damit bildet „Staatsversagen“ eine sinnvolle Ergänzung zur Vorgänger-Studie „Das Kartell der Verharmloser„, in der die neuen Bundesländer im Fokus standen.
In „Staatsversagen“ ist das Fazit ebenso erschreckend wie deutlich: Alltägliche rechte Gewalt wird durch Polizei, Justiz und Politik auch in Westdeutschland in großem Ausmaß bagatellisiert. „Im Umgang mit rechtsextremer Gewalt herrscht ein schludriger und nachsichtiger Umgang“, erklärt Autorin Marion Kraske dazu. Jeden Tag passierten Unterlassungen und Fehler, Behördenversagen finde auf allen Ebenen statt. Die Folge: „Rechtsextremen wird ein großer Raum gelassen, wodurch sie schlussendlich gestärkt werden.“
Das Beispiel Wuppertal
Bei der Vorstellung des Reports verwies Kraske auf zahlreiche Beispiele, die ihr in der Recherche begegnet seien – so etwa auf Wuppertal: Hier wollte im November 2010 die Initiative „Medienprojekt Wuppertal“ den Film „Das braune Chamäleon“ im örtlichen Multiplex-Kino zeigen. Der Film, der in dem Projekt entstand, beschäftigt sich mit den verschiedenen Erscheinungsformen von Rechtsextremismus. Doch der Abend der Vorführung verlief anders als gedacht, wie der Report beschreibt:
„Wie Augenzeugen berichten, marschiert vor der Veranstaltung eine Gruppe von Neonazis in das Kino-Foyer. Ihre Posen sind martialisch, sie singen das NS-Propagandalied »Ein junges Volk steht auf«. Sie sind bewaffnet: mit Schlagwaffen, Messern, mit Gas- und Pfeffersprays. Die Sicherheitsleute des Kinos versuchen, die Truppe nach draußen zu drängen. Die Neonazis setzen dabei Reizgas ein, zwei der Wachen werden verletzt und müssen deswegen im Krankenhaus behandelt werden. Dennoch gelingt es, sie hinaus zu schieben. Diese versuchen jedoch erneut, mit Gewalt ins Innere zu drängen, worauf der Kinobetreiber die Eingangstüren komplett schließen lässt. Doch die Neonazis geben keine Ruhe, attackieren das Kino von außen weiter und werfen mit Steinen gegen die Fassade des Gebäudes.“
Exemplarisch für den Umgang mit rechtsextremer Gewalt steht, dass nach diesem Vorfall so gut wie nichts passiert ist: Zwar wurden 13 der bewaffneten Rechtsextremen nach dem Überfall in Gewahrsam genommen, später aber wieder freigelassen. Ermittlungen wurden nur nachlässig geführt, als politisch motivierte Gewalttat wollten die Behörden den Überfall nicht benennen. Noch heute muss Norbert Weinrowsky vom „Medienprojekt Wuppertal“ den Kopf schütteln, wenn er an die zwei Jahre nach der Tat denkt. Zwischenzeitlich kümmerte er sich selbst um Aufgaben, die eigentlich die Polizei hätte erledigen müssen, suchte nach Zeugen und versuchte, den Tathergang zu rekonstruieren. Erst nach einem Bericht im „heute journal“ des ZDF erklärten die Behörden, Anklage erheben zu wollen.
Keine verlässlichen Strukturen im Westen
Diese Kultur des Wegsehens, Verharmlosens und Nicht-Reagieren-Wollens ist ein Ergebnis der Tatsache, dass Rechtsextremismus nicht als allgemeines Problem anerkannt wird – was wiederum für Anetta Kahane, Vorsitzender der Amadeu Antonio Stiftung, daran liegt, dass Rassismus als tiefes Übel in Deutschland nicht ernst genommen werde: „Zu oft werden rassistische Motive bei Straftaten bagatellisiert, werden Opfer zu Tätern gemacht.“ Entsprechend hätten die Morde des NSU nicht nur wegen des Staatsversagens passieren können, sondern „weil es schlaue Rechtsextreme waren, die genau wussten, in welchen Wassern sie sich bewegen“.
Einen anderen Aspekt, den der Report „Staatsversagen“ deutlich macht, betonte Timo Reinfrank, Geschäftsführer der Amadeu Antonio Stiftung: „Durch den öffentlichen Druck ist im Osten viel passiert. Es wurden etwa Beratungsstellen und Polizei-Sondereinheiten eingerichtet – im Westen hat sich in der Hinsicht nicht viel getan.“ Ähnlich äußerte sich auch Wolfgang Thierse (SPD), Schirmherr der Stiftung und Vizepräsident des Bundestags: „Trotz dringender Notwendigkeit gibt es (in den Alten Bundesländern) keine dauerhaften und verlässliche Strukturen zur Prävention und Intervention bezüglich rechter Gewalt und Bedrohung.“ Entsprechend sei die zentrale Botschaft des Reports, so Reinfrank, dass Rechtsextremismus ein gesamtdeutsches Problem sei: „Es gibt keinen Grund, nur in den Osten zu schauen.“
Diskreditiertes Engagement
„Quer durch die Republik machen es Polizei, Justiz und Politiker rechten Demokratiefeinden allzu einfach, immer mehr gesellschaftlichen Raum einzunehmen, indem sie demokratische Werte nur halbherzig verteidigen“, sagte Autorin Kraske dazu. „Auch dort, wo man sich lange Zeit immun glaubte: Im Westen der Republik.“ In dem Zusammenhang falle auch, dass Initiativen gegen Rechtsextremismus und engagierte Einzelpersonen als Linksradikale und Nestbeschmutzer diskreditiert würden. Ihre Arbeit werde so noch schwerer, als sie es ohnehin schon sei.
Alles in allem, so Kraske, fehle es in Deutschland an einer Null-Toleranz-Kultur: „Die haben wir hierzulande in Bezug auf Rechtsextremismus nicht.“
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„Staatsversagen. Wie Engagierte gegen Rechtsextremismus im Stich gelassen werden. Ein Report aus Westdeutschland.“Amadeu Antonio Stiftungbebildert, 44 SeitenISBN 978-3-940878-14-4
Mehr Informationen:
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