Belltower.News: Frau Saeed, im Juni 2018 beauftragte der Rechtsausschuss des sachsen-anhaltischen Landtags zwei Sonderermittler im Fall Oury Jalloh. Sie sollten Akten begutachten und die vielen offenen Fragen beantworten. Nun verweigert das Justizministerium ihnen Gespräche mit Staatsanwälten und Richtern. Warum?
Nadine Saeed: Justiz und Polizei haben von Anfang an versucht, den Fall zu vertuschen: Seit 15 Jahren gibt es eine Verweigerungshaltung seitens der Behörden. Zum Beispiel, indem sie versuchten, den Fall erst gar nicht zu einer Anklage zu bringen. Oder indem sie versuchten, Ourys Leiche so schnell wie möglich nach Guinea ausfliegen zu lassen. Sie wollen den Fall nicht aufklären. Insofern sind wir über das, was aktuell im Landtag passiert, nicht gerade überrascht. Wir kämpfen seit Jahren gegen eben diese Verweigerungshaltung. Es hätte schon längst einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss geben müssen, weil es so viele ungeklärte Fragen, Ungereimtheiten und Widersprüche gibt. Fakt ist: Oury muss umgebracht und angezündet worden sein. Das können wir wissenschaftlich belegen.
Vom Justizministerium heißt es: Es bestünden „durchgreifende Bedenken gegen die beabsichtigte unmittelbare Befragung von Landesbediensteten durch die bestellten Berater“. Eine Befragung solle nur noch im Rechtsausschuss im Beisein von Mitgliedern der Landesregierung erfolgen. Können Sie diese Begründung nachvollziehen?
Nein, ich kann das nicht. Ebenso wenig kann ich nachvollziehen, warum Sonderermittler eingesetzt wurden, die null Ermittlungskompetenzen haben. Ihr vom Rechtsausschuss beschlossener Auftrag ist sehr eng begrenzt: Die Staatsanwälte und Richter, die in den letzten 15 Jahren involviert waren, sollen nicht befragt werden. Der Bund der Richter und Staatsanwälte in Sachsen-Anhalt hat mitgeteilt, dass selbst eine Befragung im Rechtsausschuss des Landtages nicht möglich wäre, weil das verfassungswidrig sei.
Die zwei Sonderermittler sind der Strafverteidiger und ehemalige rechtspolitische Sprecher der Grünen im Bundestag, Jerzy Montag, und der frühere Münchner Generalstaatsanwalt Manfred Nötzel. Was konnten sie im Fall bislang aufklären?
Sie werden Ende August ihren Bericht vorlegen – allerdings ohne mit einem der zuständigen Staatsanwälte oder Richter gesprochen zu haben. Von daher erwarten wir von dem Bericht nichts Neues. Sie ermitteln ja nicht, sie schauen sich lediglich Akten an. Es ist noch offen, ob der Bericht dann öffentlich oder geheim gehalten wird. Letzteres würde allerdings noch mehr Misstrauen säen.
Oury Jalloh wurde nach einem Brand in einer Dessauer Polizeizelle am 7. Januar 2005 tot aufgefunden. Was war passiert?
Oury kam morgens von einer Diskothek und hatte versucht zu telefonieren, sein Handy funktionierte aber nicht. Er hat ein paar Frauen von der Stadtreinigung getroffen und sie gefragt, ob er ihr Telefon benutzen durfte. Die Frauen haben ihm das verweigert und, so wie sie es vor Gericht ausgesagt haben, sich von dem „Afrikaner“ belästigt gefühlt. Als die Polizei anrückte, saß Oury schon 100 Meter weit entfernt. Das war keine bedrohliche Situation. Die Polizei hat ihn trotzdem aufgefordert, seine Personalien zu zeigen. Laut Aussage der Polizei habe er dies verweigert. Die Polizisten haben ihn dann aggressiv auf den Boden geworfen, nach Papieren durchsucht und gewaltvoll ins Auto gezerrt. Im Revier haben sie unter Zwang Blut abgenommen, ihn körperlich misshandelt, und ihn mit Händen und Füßen auf einem Podest in einer Zelle fixiert. Etwa vier Stunden später hat es in dieser Zelle gebrannt – und Oury war tot.
Die offizielle Version der Geschichte lautet immer noch, dass Jalloh den Brand selbst verursacht habe. Wie kann das sein, wenn seine Hände und Füße gefesselt waren und er auf einer feuerfesten Matratze lag?
Er kann den Brand nicht selbst verursacht haben. Zum einen hatte er nicht die Bewegungsmöglichkeiten. Zum anderen hatte er weder Zündmittel, noch Feuerzeug. Das Feuerzeug, das nachträglich in einem Asservatenbeutel im Labor des Landeskriminalamtes Sachsen-Anhalt auftauchte, hatte keine Spuren aus der Zelle: weder von den Brandresten, noch von Ourys DNA, sondern von ortsfremder DNA. Von daher ist das ein manipuliertes Beweismittel. Selbst der leitende Oberstaatsanwalt in Sachsen-Anhalt, Folker Bittmann, hat später zugegeben, dass dieses Feuerzeug nachträglich hinzugefügt worden sein kann.
Die Initiative hat letztes Jahr ein Gutachten des Rechtsmediziners und Radiologie-Professors Boris Bodelle von der Universitätsklinik Frankfurt beauftragt, in dem steht, dass Jalloh vor seinem Tod schwer misshandelt wurde. Demzufolge wurden ihm Schädeldach, Nasenbein, Nasenscheidewand und eine Rippe gebrochen. Wie reagierte das Oberlandesgericht Naumburg auf das Gutachten?
Es wurde zwar kurz zur Kenntnis genommen, aber nicht für wichtig erachtet, weil darin keine neuen Erkenntnisse seien. Wir geben aber nicht auf: Wir müssen die Medien mit Fakten überzeugen und eine starke Öffentlichkeit schaffen, damit die Deutungshoheit nicht alleine bei der Justiz liegt.
Gibt es andere Ungereimtheiten?
Eine ganze Menge: Aktenteile fehlen, Asservaten sind verschwunden, Journaleinträge sind gelöscht worden. Widersprüche gibt es einen Haufen in den Zeugenaussagen. Es gibt einfach unzählige offene Fragen.
Doch eine große öffentliche Empörung bleibt aus. Sind Sie enttäuscht von der gesellschaftlichen Reaktion?
Das ist die Hauptfrage: Warum schweigt der Großteil der deutschen Gesellschaft, wenn ein Mensch in Polizeigewahrsam verbrennt? Natürlich sind die Täter*innen Teil des Staatsapparats und versuchen, ihr Verbrechen zu vertuschen. Aber letztendlich schweigen auch Menschen, und Schweigen bedeutet Akzeptanz und Toleranz gegenüber solchen Taten. Diese Haltung ermöglicht so einen Fall.
Was hat Sie dazu motiviert, bei der Initiative in Gedenken an Oury Jalloh mitzumachen?
Ich halte die Arbeit für absolut sinnvoll, weil der Fall von Oury Jalloh auch beispielhaft für ungeklärte rassistische Polizeimorde in Deutschland steht. Anhand von seinem Fall kann man sehr gut zeigen, wie die Behörden versagt und systematisch einen rassistischen Mord vertuscht haben. Wir tun das alles stellvertretend für alle anderen, die umgebracht wurden. Wir machen das für die Zivilgesellschaft.
Jalloh war nicht die erste Person, die unter ungeklärten Umständen auf eben diesem Dessauer Polizeirevier tot aufgefunden wurde. Mehr noch: Bei zwei ungeklärten Toden in den Jahren 1997 und 2002 waren zum Teil die gleichen Beamten im Dienst wie bei der Festnahme von Jalloh. Sehen Sie da ein Muster?
Wir haben drei Leichen mit sehr ähnlichen Verletzungen: 1997 erlitt Hans-Jürgen Rose in Gewahrsam schwerste innere Verletzungen und Wunden von mindestens 43 Schlagstockschlägen aus drei Winkeln, also vermutlich von drei Polizisten. Er starb kurz darauf an den Folgen seiner Verletzungen. 2002 kam Mario Bichtemann in genau der gleichen Zelle wie Oury mit einem Schädelbasisbruch und gebrochenen Rippen ums Leben. Wir wissen nicht, ob Oury noch gelebt hat oder schon tot war, als seine Zelle angezündet wurde. Aber mit Sicherheit können wir sagen, dass er mit den zugefügten Verletzungen mindestens bewusstlos gewesen sein muss. Ein dritter Tod auf dem Revier hätte womöglich einen Verdacht erregt und zu einer größeren Ermittlung geführt. Ein Motiv hätte also sein können, ihn zu verbrennen, um die Spuren zu vernichten.
Über die anderen beiden Fälle wurde vergleichsweise wenig berichtet. Warum?
Weil sie keine Familie oder Freund*innen hatten, die strikt nachgefragt haben. Es gab keine Proteste. So dachten die schuldigen Beamten wahrscheinlich auch, dass sie mit Oury durchkommen.
Was ist mit den Beamten passiert, die bei mehreren dieser Fälle im Dienst waren?
Einer der beiden, die Oury festgenommen haben, der auch bei einem der anderen Fälle dabei war, wurde 2008 in vorzeitigen Ruhestand geschickt. Warum, wissen wir nicht. Die Anderen sind bis heute noch im Dienst.
Im Zuge der Black Lives Matter-Bewegung wird in Deutschland oft behauptet, rassistische Polizeigewalt sei hierzulande kein Problem wie in den USA. Ein Irrtum?
Natürlich. Struktureller Rassismus und Polizeigewalt sind systemimmanent. Wir sehen eine Kontinuität, deren Wurzeln ganz tief im Kolonialismus liegen. Das zieht sich durch ganz Europa über Jahrhunderte. Die Kolonialzeit ist nie richtig aufgearbeitet worden. Und die Polizei und Justiz sind hauptsächlich weiße Strukturen, die Macht ausüben und ausleben.
Hat Deutschland ein Polizeiproblem?
Ja natürlich hat Deutschland ein Polizeiproblem. Grundsätzlich. Der Fall von Oury Jalloh wird immer als Beispiel genannt, wenn es um Rassismus in der Polizei geht. Aber er ist kein Einzelfall. In den letzten Monaten und Jahren sehen wir eine zunehmende rassistische Polizeigewalt sowie Polizeimorde. Und die kommen alle ungestraft davon, weil die Ermittlungen eingestellt werden. Die Kampagne „Death in Custody“ hat 159 Tode in Gewahrsam in der Bundesrepublik unter Schwarzen Menschen und People of Colour seit 1990 dokumentiert. Der Fall Oury Jalloh hat nur für Aufmerksamkeit gesorgt, weil Leute permanent und kontinuierlich dran waren. Diese Arbeit hat sich gelohnt.