Neue Parteien zu gründen und deren Ausrichtung zu entwickeln, hat Tücken. Die „Piratenpartei„, die sich für Bürgerrechte, gegen Zensur und für Erweiterung des Datenschutzes engagiert, erhielt in Deutschland zur Europawahl im Juni 2009 überraschende 0,9 Prozent der Stimmen und tritt im September 2009 zur Bundestagswahl an.
Ex-CSU-Rebellin Gabriele Pauli zu, die noch zur Europawahl bei den „Freien Wählern“ auf der Liste stand, gründete nach dem Nichteinzug ins Europaparlament im Juni 2009 eine eigene Partei, die „Freie Union„, die für Familien, Kinder, sozial Schwache, Liebe, Frieden und Lebensfreude eintreten will.
Was beiden Parteien gemeinsam ist: Sie woll(t)en jenseits einer politischen Rechts-Links-Ausrichtung auftreten, quasi über den bisherigen Lagern stehen. Mit der Folge, dass beide Parteien recht offen rechtsextrem agierende Mitglieder aufnahmen – und die gewohnt engageriert auftretenden Rechten sogar in Ämter wählten. Bei der „Piratenpartei“ wurde Holocaust-Relativierer und Geschichtsrevisionist Bodo Thiesen zum „Ersatzrichter“ ernannt und steht auf Platz 7 der „Landesliste RLP“ zur Bundestagswahl zur Bundestagswahl. Bei der „Freien Union“ wurde Bodo Sobik Landesschatzmeister. Der kandidierte im vergangenen Jahr 2008 bei der Münchner Stadtratswahl auf der NPD-Tarnliste „Bürgerinitiative Ausländerstopp München„.
Im Umgang allerdings hat es die „Freie Union“ deutlich leichter als die „Piratenpartei“, oder vielmehr: Agiert sie klarer. Nach Bekanntwerden der Vorwürfe sagte Gabriele Pauli, einziges Gesicht und wichtigste Figur der „Freien Union“, ihrer Partei die zweifelsohne bindende „Empfehlung“, Bodo Sobik auszuschließen: Damit, dass Sobik noch im vergangenen Jahr für die «Bürgerinitiative Ausländerstopp München» (BIA) kandidiert habe, «können wir uns nicht einverstanden erklären», sagte Pauli der Nachrichtenagentur ddp. Damit sei der Landesschatzmeister jemand, «der nicht in unsere Reihen passt».
Der „Piratenpartei“ gerät der Umgang mit Holocaust-Relativierer und Geschichtsrevisionist Bodo Thiesen weitaus schwieriger, weil er an Grundfeste des Selbstverständnisses zu rühren scheint. Die Meinungsfreiheit ist ein Punkt, um den es den Piraten bei allem Kampf gegen Zensur aller Art stets geht. Jetzt haben sie schon in der Woche nach ihrem ersten Bundesparteitag die (erwartbare) Diskussion, wie frei ihre Meinungsfreiheit denn sein soll: Bis zum Grundgesetz oder darüber hinaus?
In den Foren der Partei wie auch in den Blogs des Internet oder bei Twitter wird aktuell mit harten Bandagen gestritten. Die Beiträge zeigen: Es gibt Befürworter und Gegner einer „Meinungsfreiheit“, die etwa Holocaustleugnung und -relativierung mit umfasst, in annähernd gleich großer Zahl. „Diese ganzen beknackten ‚Faschismus ist keine Meinung sondern ein Verbrechen‘-Parolenbrüller befinden sich auf einem Niveau mit den ‚Internet ist kein rechtsfreier Raum“-Polemikern. Thoughtcrime now‘, meint etwa ein anonymer User. „Jeder sollte seine Meinung haben dürfen, egal of falsch, unmoralisch oder dumm, und wer Meinungen verbieten sowie Gedankenzensur einführen will, der ist einfach nur ein Faschist, egal ob er Rot oder Braun lackiert ist“, so ein anderer Anonymer.
„Alexander“ dagegen meint: „Wer Bürgerrechte verteidigt, muss in Kauf nehmen, auch die Rechte von sehr unangenehmen Bürgern zu schützen, die nach brauner Scheiße stinken. Das kann jedoch nicht bedeuten, auch im eigenen Haus in der Scheiße waten zu müssen.“ „Julian“ befindet: „Das Ganze schadet uns enorm. Also los, nicht warten, zack zack rausschmeißen. Das ist nicht zu diskutieren, das wird unsere Schwachstelle # 1 bei jeder Diskussion sonst werden.“
Die „Piratenpartei“ wird nicht darum herumkommen, sich zu positionieren. Noch allerdings ziert sie sich. Der Bundesvorstand forderte von Thiesen eine Distanzierung von seinen „fragwürdigen Äußerungen zum Holocaust“.Der hatte unter anderem im Laufe der vergangenen Jahre behauptet, der Holocaust selbst sei fraglich, die Zahl der Opfer sei fraglich, Hitler habe keinen Krieg gewollt und der Überfall der Nazis auf Polen sei gerechtfertigt gewesen.
In Thiesens erster Stellungnahme, die auf den Piratenpartei-Seiten veröffentlicht wurde, tat er dies nicht. Stattdessen wiederholt er die Anzweiflung des Holocaust („Ob nun die Juden (…) in Auschwitz vergast wurden oder auf anderem Wege getötet wurden, spielt für die Entscheidung, jedes Menschenleben unabhängig von der Hautfarbe, Religion usw. schützen zu müssen, keine Rolle.„) und stilisiert sich – eine gern gewählte Strategie von rechter Seite – als Opfer der „Meinungsdiktatur“ in der Öffentlichkeit („Meine Ansichten über die Deutsche Geschichte entsprechen sicher nicht der allgemeinen Lehrmeinung, allerdings ist es Teil der freiheitlich demokratischen Grundordnung, seine Meinung auch äußern zu können/dürfen, wenn sie eben nicht der allgemeinen Lehrmeinung entspricht.„)
Das allerdings ist nicht richtig: Unwahre Tatsachenbehauptungen, wie etwa die Anzweiflung des Holocaust, sind eben nicht vom Meinungsfreiheits-Artikel 5 des Grundgesetzes geschützt. Das stetige Wiederholen von Lügen, bis die als Wahrheit akzeptiert wurden, war eine Strategie der Nationalsozialisten, die die wehrhafte Demokratie absichtlich unterbinden wollte. Holocaustleugnung ist keine Meinung, sondern eine unwahre Tatsachenbehauptung, und deshalb strafbar.
Der Bundesvorstand der „Piratenpartei“, die Bodo Thiesen übrigens schon im Juni 2008 wegen seiner revisionistischen Themen ermahnte (weil er den verurteilten Holocaustrelativierer Germar Rudolf verteidigte), will sich jetzt bis zum kommenden Donnerstag zu Thiesens „Distanzierung“ positionieren. Dabei wird er sich für eine gemeinsame Wertebasis der zukünftigen Mitglieder und Wähler entscheiden müssen.
Nachtrag, 10.07.2009:
In einer erneuten Stellungnahme distanziert sich Bodo Thiesen von „faschistischen Bestrebungen aller Art“ und schreibt: „Weiterhin erkläre ich, daß ich den Holocaust weder leugne noch
geleugnet habe und auch nicht gedenke, dies in Zukunft zu tun.“
wiki.piratenpartei.de/Benutzer:Bodo_Thiesen/Distanzierung
Offener Brief von „Piratenpartei“-Mitgliedern an Bodo Thiesen, der genau benennt, worum es geht, und Thiesen zum Parteiaustritt auffordert:
wiki.piratenpartei.de/2009-07-09_-_Offener_Brief_an_Bodo_Thiesen
Äußerungen Bodo Thiesens:
Geschichtsrevisionismus:
„Es hören manche Leute nicht gern. Aber Hitler wollte keinen Krieg.
Zumindest nicht mit dem Westen. (Ich glaube aber, generell nicht.)“ (nntp2http.com)
?Wenn Polen Deutschland den Krieg erklärt hat (und das hat Polen indirekt durch die Generalmobilmachung), dann hatte Deutschland *jede*
legitimation, Polen anzugreifen.** >>>>>> ?Die Schuld Deutschland besteht bei einem Überfall.? In diesem Fall wäre Deutschland möglicherweise Schuld. Aber dummerweise war da kein Überfall.?**(nntp2http.com)
Antisemitisches:
„Es steht jedem Juden frei, jederzeit Deutschland für immer zu verlassen. Und im Gegensatz zum 3. Reich dürfen die heute sogar ihr gesamtes Hab und Gut mitnehmen. Ich denke aber, daß Integration die bessere Alternative wäre, aber dafür braucht man dummerweise zwei.“ (googlegroup)
Holocaust-Relativierung:
„Solange der Holocaust als gesetzlich vorgeschriebene Tatsache existiert, sehe ich keine Möglichkeit, diesen neutral zu beschreiben. Zur Erinnerung an vergangene Zeiten. Es gab auch mal andere Doktrinen, z.B. die ?Tatsache?, daß die Erde eine Scheibe sei. Diese Doktrin unterscheidet sich von der Holocaust-Doktrin im wesentlichen durch folgende Punkte: 1.) Heute existiert diese Doktrin nicht mehr, daraus folgend konnte 2.) offen darüber diskutiert werden, und Nachforschungen angestellt werden, und daraus folgt 3.) daß festgestellt wurde, daß diese Doktrin schlicht falsch war. Soviel zum Thema Neutralität. […] So, auf die Argumente zum Holocaust selbst gehe ich nicht ein, weil ich das auf Grund des § 130 Abs 2 StGB nicht darf. ?Bodo Thiesen 14:16, 16. Jul 2004 (CEST)“ (forum.piratenpartei)
Ergänzung vom 16.07.2009:
Bodo Sobik ist freiwillig aus der „Freien Union“ ausgetreten, um einen Parteiausschluss zuvor zu kommen (Spiegel Online).
Ergänzung vom 21.07.2009:
Vorstand der Piratenpartei enthebt Bodo Thiesen seiner Ämter und startet ein Parteiausschlussverfahren (Piratenpartei).
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