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Perspektive Der Brandanschlag von Mölln – 30 Jahre später

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Zum 15. Jahrestag vor fünf Jahren wurden Bilder der Ermordeten vor dem Bahide-Arslan-Haus in Mölln gezeigt: (v.l.n.r.) Yeliz Arslan, Bahide Arslan und Ayse Yilmaz. (Quelle: picture alliance / Daniel Bockwoldt/dpa | Daniel Bockwoldt)

In der Nacht von Sonntag auf Montag, den 23. November 1992, geht bei der Polizei in Mölln ein Anruf ein: „In der Ratzeburger Straße brennt ein Haus! Heil Hitler!” Neonazis haben gegen 00:30 Uhr zwei Molotowcocktails in das Obergeschoss eines zweistöckigen Hauses in der Ratzeburger Straße 13 geworfen. Hier leben 32 Menschen mit türkischem Migrationshintergrund. Sie können sich retten, erleiden jedoch teilweise schwere Verletzungen. Eine Frau bricht sich beide Beine beim Sprung aus dem Fenster.

Eine halbe Stunde nach dem ersten Anschlag brennt es nur 800 Meter weiter, in der Mühlenstraße 9. Kurz nach 1 Uhr wird ein Molotowcocktail in den Eingangsbereich des Hauses geschleudert. Familie Arslan bewohnt das dreistöckige Backsteinhaus. Kurz nach dem Ausbruch des Brandes geht bei der Freiwilligen Feuerwehr in Mölln ein weiterer anonymer Anruf ein: „In der Mühlenstraße brennt es! Heil Hitler!“

Das Feuer aus demEingangsbereich breitete sich in Windeseile in den oberen Etagen aus. Die Bewohner*innen können nicht mehr über die Treppe aus dem Haus fliehen. Der 60-jährige Nazim Arslan springt aus einem Fenster des ersten Obergeschosses. Er erleidet  – wie alle Bewohner – eine Rauchvergiftung und dazu eine Prellung. Seine Ehefrau Bahide Arslan (51) läuft ins Kinderzimmer, um ihre Enkelkinder Yeliz und Ibrahim sowie die Ayşe Yilmaz, eine Cousine der Kinder, die zu Besuch aus der Türkei ist, vor dem Feuer zu retten. Vom Dachgeschoss aus lässt ihre Schwiegertochter Hava zunächst ihren sieben Monate alten Sohn in ein Sprungtuch fallen, bevor sie selbst aus dem Fenster springt und sich beim Aufprall eine beidseitige Beckenfraktur sowie einen Nasenbeinbruch zuzieht. Auch im Dachgeschoss wickelt eine weitere Schwiegertochter, Ayten Arslan, ihren sechsjährigen Sohn in Decken. Sie springt mit ihm im Arm in den Hinterhof und erleidet Knochenbrüche. Gegen 01:30 Uhr trifft die Feuerwehr in der Mühlenstraße ein.

Für Bahide Arslan sowie ihre beiden Enkeltöchter kommt jedoch jede Hilfe zu spät. Im Treppenhaus wird sie nach einer Kohlenmonoxidvergiftung ohnmächtig und stirbt. An ihrem ganzen Körper hat sie Verbrennungen zweiten und dritten Grades.

Die zehnjährige Yeliz und die14-jährige Ayşe Yilmaz haben sich offenbar aus Angst und zum Schutz vor dem Rauch unter Decken verkrochen. Sie sterben an einer Kohlenmonoxidvergiftung und erleiden schwere Brandverletzungen. Der siebenjährige Ibrahim Arslan überlebt.

Dank des Hinweises eines neunjährigen Mädchens, das ebenfalls in der Mühlenstraße wohnt und den Anschlag aus dem Fenster beobachtet hatte, kommen die Ermittler*innen den Tätern schnell auf die Spur: Zwei bekannte Neonazis aus der Region, einer ist 19, der andere 25. In den Monaten vor der Mordnacht gab es südlich von Mölln bereits mehrere Anschläge mit Molotowcocktails. Der 25-Jährige steht unter Tatverdacht, die Lübecker Staatsanwaltschaft hatte bereits Haftbefehl beantragt. Am 24. November 1992, einen Tag nach den Anschlägen von Mölln, kommt der Mann, der zuvor stellvertretender Kreisvorsitzender der NPD im 40 Kilometer entfernten Lauenburg war, in Untersuchungshaft. Der jüngere Täter wird am 28. November 1992 festgenommen. Im Verhör gestehen die beiden Männer die Tat, im Prozess widerrufen sie ihre Geständnisse. Der 19-Jährige wird zu zehn Jahren Haft nach Jugendstrafrecht verurteilt, der 25-Jährige lebenslänglich.

In Mölln leben 1992 rund 18.000 Einwohner*innen, 600 von ihnen sind türkischer Herkunft. Es sind 150 Familien. Eine davon sind die Arslans. Bahide Arslan wurde in Çarşamba an der türkischen Schwarzmeerküste geboren.1967 kam sie gemeinsam mit ihrem Mann Nazim nach Deutschland – als sogenannte „Gastarbeiter“. In den 1970er Jahren zog die Familie in das Haus in der Mühlenstraße in Mölln. In Deutschland arbeitete sie hart – bis zu 12 Stunden täglich auf einem Erdbeerfeld oder in der Küche des Möllner Cafés „Seeblick“. Eine Zeit lang betrieb sie einen eigenen Imbiss. Ihr Sohn Faruk erinnert sich an sie: „Sie war die Seele und Chefin der Familie, in Mölln eine sehr beliebte Frau“.

Ayşe Yılmaz lebte damals noch in Çarşamba und war lediglich zu Besuch bei ihrer Familie in Mölln. Am 04. Dezember wollte sie wieder zurück in ihrer Heimat sein – es war das erste Mal, dass sie sie verließ. Während ihrer Zeit in Deutschland kümmerte sie sich um die jüngsten Familienmitglieder und half in einer Gärtnerei aus. In Briefen in die Heimat berichtete sie: „Alle hier sind sehr lieb zu mir“.

Yeliz Arslan besuchte die zweite Klasse der Till-Eulenspiegel-Schule, als sie ermordet wurde. Ihre Mitschüler*innen stellten eine Kerze auf ihre Schulbank. „Ich kann mir gar nicht vorstellen, daß sie nicht wiederkommt“, sagte eine Mitschülerin nach ihrem Tod.

Nach den verheerenden Brandanschlägen in Mölln organisieren sich die türkischstämmigen Familien, in vielen Wohnungen brennt die ganze Nacht über Licht, Eltern bleiben abwechselnd wach, um ihre Kinder zu beschützen, die Männer fahren in unregelmäßigen Abständen Patrouille durch die Möllner Altstadtstraßen und Telefonketten werden zum Informationsaustausch gebildet. Die Kinder gehen aus Angst zunächst nicht mehr zur Schule, viele der Eltern nicht zur Arbeit.

Der Brandanschlag erregte weltweit Entsetzen, Aufsehen – und eine Welle der Solidarität und des Protestes gegen Rassismus und rechte Gewalt. Am 27. November 1992 nahmen an einer Trauerfeier in Hamburg mehr als 10.000 Menschen teil.

Heute erinnert eine Gedenktafel am Tatort an die Ermordeten. Im Jahr 1997 wurde in Kiel ein Platz in Bahide-Arslan-Platz umbenannt. 2014 wurde ein schmaler Gang in Mölln, der am damaligen Wohnhaus vorbeiführt, in Bahide-Arslan-Gang umbenannt.

Der Brandanschlag in Mölln jährt sich nun zum 30. Mal. Die Täter sind seit 2000 und 2007 wieder auf freiem Fuß. Die Traumata für die betroffenen Familien in und aus Mölln bleiben. Im September 2022 werden in der „Fatih Sultan Camii“-Moschee in Mölln Papiere und Flyer im Vorraum vorsätzlich angezündet. In den ersten drei Quartalen des Jahres gab es 65 Attacken auf Unterkünfte von Geflüchteten.

Flüchtlingsfeindliche Gewalt ist in Deutschland zu einer Art Grundrauschen geworden. Öffentliche Aufschreie gibt es nur selten. Seit 2015 dokumentiert die Amadeu Antonio Stiftung in der Chronik flüchtlingsfeindlicher Gewalt 12.150 Angriffe auf Asylsuchende und ihre Unterkünfte, Alltagsterror an den sich Deutschland gewöhnt zu haben scheint. Angriffe auf Häuser mit Pyrotechnik, in denen Geflüchtete wohnen. Autos von ukrainischen Geflüchteten werden rassistisch beschmiert, die Reifen zerstochen. Angriffe auf Menschen, die erkennbar einen Migrationshintergrund haben, der Brandanschlag auf eine Geflüchtetenunterkunft in Leipzig Ende August und der auf das „Seehotel“, eine geplante Geflüchtetenunterkunft in Bautzen, Ende Oktober zeigen, dass eine Trendwende weit entfernt ist.

 

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