Was motiviert Menschen zu solchen Fälschungen? Welchen Schaden richten sie damit an? Und wie kann man mit diesen Fällen umgehen? Ihr Buch sucht nach Antworten auf diese Fragen, ohne sich der medialen Skandalisierung anzuschließen. Kürzlich ist die zweite Auflage erschienen. Belltower.News hat mit ihnen über die gesellschaftlichen Zusammenhänge gesprochen, in denen diese Inszenierungen im deutschsprachigen Raum funktionieren, aber auch über ihren persönlichen Umgang mit dem berühmt gewordenen Fall Seibert.
Belltower.News: Ihr beschäftigt euch in eurem Buch mit Personen, die fälschlicherweise behaupten, im Nationalsozialismus verfolgt worden zu sein oder aus verfolgten Familien zu stammen. Konkreter Anlass für das Buch war die Geschichte von Wolfgang Seibert, den ihr gut persönlich kennt. Wer ist das?
Clemens Böckmann: Wolfgang Seibert war 16 Jahre lang Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Pinneberg, nördlich von Hamburg. Seibert war politisch sehr aktiv, wodurch er sowohl mit Johannes als auch mit mir in Kontakt kam. Johannes hat mit ihm und Miklós Klaus Rózsa 2017 das Buch Verheerende Bilanz: Der Antisemitismus der Linken gemacht, das 2017 erschienen ist. Ein Jahr später wurde im Spiegel aufgedeckt, dass Seibert über viele Jahre eine falsche Familiengeschichte für sich reklamiert hat, nämlich einen familiären Bezug zu jüdischen Opfern des Nationalsozialismus.
Johannes Spohr: Ich bin damals über gemeinsame Bekannte in Hamburg mit ihm in Kontakt gekommen, nachdem ich ein Interview mit Miklós Klaus Rózsa, einem jüdisch-ungarischen, in der Schweiz lebenden Fotografen, geführt hatte. Rósza, Seibert und ich haben dann über mehrere Jahre eine Veranstaltungsreihe gemacht, die sich mit biografischen Erfahrungen mit linkem Antisemitismus beschäftigt hat. Dabei ging es nicht vordergründig um den familiären Hintergrund und die Verfolgungsgeschichte, aber die war bei Wolfgang Seibert immer wichtig für die Begründung der eigenen Handlungen.
Und dann deckte der Spiegel auf, dass Seiberts Geschichte erfunden ist. Wie habt ihr reagiert?
Johannes Spohr: Zunächst war es natürlich notwendig, sich zu distanzieren und die gemeinsame Arbeit einzustellen – aufgrund der Ungeheuerlichkeit, sich entgegen jeglicher Fakten eine solche Geschichte anzueignen.
Clemens Böckmann: Nach der Aufdeckung wäre es ein Leichtes gewesen, sich zu distanzieren und die moralische Schuld bei Wolfgang Seibert zu verorten. Für uns war aber auch klar, dass die Geschichte damit allein nicht erledigt sein kann. Durch die enge Zusammenarbeit tragen wir einen Teil der Verantwortung an der Verbreitung seiner falschen Geschichten. Deswegen war klar, dass wir nicht nur ihre Weiterverbreitung stoppen, sondern auch uns genauer damit auseinandersetzen müssen. Das war der Anlass, dieses Buch zu schreiben.
Wolfgang Seibert ist nicht der erste oder einzige, der solche Geschichten erzählt hat, oder?
Johannes Spohr: Nein, der bekannteste Fall ist Binjamin Wilkomirski. Er hat eine Biografie über sein vermeintliches Überleben der NS-Verfolgung geschrieben, die in den 1990er Jahren zum Bestseller geworden und dann als Fälschung enttarnt worden ist. Wilkomirski hat die Verfolgung, die er geschildert hat, nicht erlebt. Ein anderer Fall war Marie Sophie Hingst, eine Historikerin und Bloggerin, die über ihre vermeintlich in der Shoah verfolgten Vorfahren geschrieben und Angehörige in der Gedenkstätte Yad Vashem als Verfolgte gemeldet hat. Hingst ist ein halbes Jahr nach Wolfgang Seibert vom Spiegel enttarnt worden und hat sich später das Leben genommen. Danach gab es eine öffentliche Kontroverse über medienethische Fragen. Ein weiteres Beispiel ist die antiisraelische Aktivistin Irena Wachendorff, die bis heute als Jüdin und fälschlicherweise als Nachfahrin von Holocaust-Überlebenden auftritt und damit stark ihren Aktivismus begründet.
Medienethische Fragen spielen auch in eurem Buch eine Rolle. Der Fall Wolfgang Seibert wurde über sechs Seiten im Spiegel groß aufgemacht, woran es relativ schnell Kritik gab. Ihr selbst geht auch auf Distanz zu der Darstellung im Spiegel. Was ist das Problem daran?
Clemens Böckmann: Es geht in dem Artikel nicht nur darum, dass Seibert fälschlicherweise behauptet, seine Großeltern seien im Nationalsozialismus verfolgt worden. Der Titel des Artikels, „Der gefühlte Jude”, spricht ihm auch ab, jüdisch zu sein. Hier entscheidet der Spiegel in einem Artikel darüber, wer in Deutschland Jude oder Jüdin ist. Wir halten das für fragwürdig. Die Entscheidung darüber liegt in der Verantwortung der jüdischen Gemeinden bzw. von Rabbiner*innen.
War es denn falsch, den Fall Seibert aufzudecken?
Johannes Spohr: Keinesfalls. Wir sind durchaus der Auffassung, dass solche Fälle öffentlich gemacht werden sollten. Der Artikel ist auf der Faktenebene nicht zu kritisieren, er ist gut recherchiert. Was wir aber kritisieren, sind die Narrative, derer er sich bedient. Das Narrativ zum Beispiel, dass man in Deutschland als Jude „unangreifbar” sei. Aber auch, dass im Artikel ein hämischer Unterton gegenüber Linken mitschwingt.
Clemens Böckmann: Der Artikel reduziert ein komplexes Phänomen auf das individuelle Verhalten einer Person, nämlich Wolfgang Seibert. Dabei steht auch für uns außer Frage, dass sein Verhalten falsch und absolut inakzeptabel war. Gleichzeitig gab es im Artikel keinerlei Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Zusammenhängen, was über sechs Seiten durchaus möglich gewesen wäre. Stattdessen wird die Geschichte lediglich als personalisierter Skandal erzählt.
An welche gesellschaftlichen Zusammenhänge denkst du dabei?
Johannes Spohr: Wenn sich jemand eine falsche Biografie oder Vorfahren zulegt, finde ich zunächst mal interessant, welche das sind. Warum gerade der Bezug auf den Holocaust, auf das Überleben, auf Auschwitz? Warum sind dies Geschichten, die in bestimmten Kreisen verfangen und auf ein Publikum treffen, das sie bereitwillig aufnimmt? Als Hochstapler und Betrüger, als der Wolfgang Seibert meist interpretiert wurde, hätte er sich ja auch andere Identitäten aneignen können. Interessant ist auch, dass Wolfgang Seibert sich offenbar in den 1980er Jahren in Hamburg als Sinto ausgegeben hat – das wirft nochmal ganz andere Fragen auf, die auch auf die damals im Entstehen begriffene Identitätspolitik hinweisen.
Ihr habt für euer Buch mit Expert*innen aus verschiedenen Fachbereichen gesprochen: Literaturwissenschaftler*innen, Historiker*innen, Psycholog*innen. Was sind die Erklärungsansätze dazu, wieso jemand solche falschen Geschichten erzählt?
Clemens Böckmann: Aus psychologischer Perspektive können einer solchen Täuschung Kränkungen zugrunde liegen, die einen realen Bezug haben und im Leben der Person verankert sind. Dann kann die Fälschung also eine Art des Umgangs mit psychischen Schwierigkeiten sein. Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive könnte es auch um eine Sehnsucht gehen, auf der richtigen Seite zu stehen, nämlich ganz grob gesagt auf der Seite der Opfer statt der der Täter*innen.
In dieser Erklärung geht es dann um die gesellschaftlichen Zusammenhänge.
Johannes Spohr: Genau, gemeinsam ist allen Gesprächen, dass sie das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft verhandeln. Die individuelle Erklärbarkeit eines Falles steht immer im Zusammenhang mit größeren gesellschaftlichen Fragen, Fragen nach dem Publikum und der Wahrnehmung. Daran schließt sich die Frage an, welche Begehrlichkeiten solche Personen verkörpern. Diese falschen Figuren befriedigen ein gesellschaftliches Bedürfnis.
Was für ein Bedürfnis ist das?
Johannes Spohr: Es gibt in der deutschen Gesellschaft ein Bedürfnis nach versöhnlichen Geschichten, die gut erzählbar sind, nicht stark anklagen und etwa nicht von Rache der Verfolgten sprechen. Die Erinnerung an den Holocaust ist zudem sehr westeuropäisch geprägt. Anne Frank ist beispielsweise in Deutschland besonders bekannt, während die Massenerschießungen im östlichen Europa – dort, wo mit Abstand die meisten (häufig aschkenasischen) Jüdinnen und Juden ermordet wurden – erst sehr langsam in das öffentliche Bewusstsein vordringen. Auschwitz ist in diesem Zusammenhang zu einer Chiffre geworden, die teils unabhängig von den realen Vorgängen vor Ort gebraucht wird. Gleichzeitig ist das Wissen über (Mit-)Täterschaft bis heute gering und es gibt eine immense Diskrepanz zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und konkretem Wissen, etwa über die eigenen Verwandten im Nationalsozialismus.
Inwiefern passt die Geschichte von Seibert dazu?
Clemens Böckmann: Auschwitz entspricht natürlich dem gängigen Muster. Die Familiengeschichte, die er erzählt hat, war dabei auch eine widerständige, in der es um heroischen Antifaschismus und Militanz ging. Seibert war damit ein besonderer Fall. Er war für ein spezielles Milieu attraktiv – ein linkes, unkonventionelles, undogmatisches und tendenziell israelsolidarisches Milieu. Er ist untypisch, weil er ein wehrhaftes Judentum verkörpert hat.
Worin besteht eigentlich der Schaden bei solchen Geschichten? Wer sind die Beschädigten?
Johannes Spohr: Das ist eine interessante Frage, die in den Gesprächen, die wir geführt haben, ganz unterschiedlich bewertet wurde. Die Historikerin Miriam Rürup sagt deutlich, dass diejenigen geschädigt werden, die tatsächlich eine NS-Verfolgungsgeschichte in der Familie haben. Denn Seibert hat sich etwas angeeignet, was für andere sehr schmerzhaft ist. Seibert war eine Verkörperung eines jüdischen, linken Projekts. In dieser Rolle hat er einen Teil seiner politischen Arbeit durch die Fälschung entwertet. Das gilt auch für seine Anteile an unserem gemeinsamen Buch. Es ist aus heutiger Perspektive gar nicht mehr sicher, was ihn motiviert hat. Der Jüdischen Gemeinde Pinneberg hat Seibert sicherlich Schaden zugefügt, sowohl intern als auch öffentlich.
Wie war das denn für euch persönlich, wenn ihr Seibert so gut kanntet?
Clemens Böckmann: Wir haben versucht, einen Umgang zu finden mit einer radikalen Verunsicherung. Über einen langen Zeitraum mit jemandem zusammenzuarbeiten, bei dem sich herausstellt, dass die Person überhaupt nicht die ist, die sie mir jeden Tag suggeriert, führt auch auf einer zwischenmenschlichen Ebene zu Irritation und Verunsicherung. Wir haben uns für einen Gesprächsband entschieden, um dieser Verunsicherung etwas zu entgegnen und weiter mit Menschen zu reden – trotz der Gefahr, auf eine falsche Fährte geschickt zu werden.
Johannes Spohr: Die Nachricht war natürlich erschütternd. Ich fragte mich, wer dieser Wolfgang Seibert eigentlich war, mit dem ich und andere es jahrelang zu tun hatten. Ich hoffte, er hätte gegen die Anschuldigungen etwas vorzubringen, was aber bis heute nicht der Fall ist. Miklós Klaus Rózsa beschreibt eine ähnliche Verunsicherung in seinem Beitrag.
Wie habt ihr damals von der Fälschung erfahren?
Clemens Böckmann: Mir wurde der Artikel ein paar Tage vor der Veröffentlichung von einem Bekannten zugespielt. Anfänglich war ich einfach fassungslos. Anschließend habe ich angefangen zu versuchen, Sachinhalt und Bewertung voneinander zu trennen, um verstehen zu können, was eigentlich gerade passiert.
Durch das Format des Gesprächsbandes versteht man, dass das Buch für euch auch eine persönliche Auseinandersetzung war. Was habt ihr dabei gesucht und habt ihr es gefunden?
Johannes Spohr: Wir haben das Gespräch gesucht. Wir sind dabei nicht immer zu eindeutigen Ergebnissen und auch nicht zu einem Abschluss gekommen. Aber wir wollten ja auch die ganze Irritation kenntlich machen. Das Buch erfüllt nicht den Wunsch, die Geschichte abzuhandeln und sich dann auf der sicheren Seite zu wähnen.
Ihr habt schon gesagt, dass es Aufgabe der jüdischen Gemeinden ist, zu entscheiden, wer jüdisch ist und wer nicht. Interessanterweise redet ihr in eurem Buch aber nicht mit Rabbiner*innen. Welche Rolle spielen Juden*Jüdinnen in diesen deutschen Debatten über die falschen Juden*Jüdinnen oder die falschen NS-Verfolgten?
Johannes Spohr: Es haben sich viele Jüdinnen und Juden zu Seibert geäußert. In den Monaten nach dem Spiegel-Artikel habe ich mich mit vielen Personen aus jüdischen Gemeinden unterhalten, auch mit Rabbinern. Auch in den innerjüdischen Diskussionen wurde der Fall nicht eindeutig beurteilt. Das ist sichtbar, aber nicht ins Buch eingeflossen. Die Frage, ob jemand jüdisch ist oder nicht, wird aktuell in den jüdischen Gemeinden zum Teil vehement diskutiert. Wir sind nicht Teil dieser Gemeinden und haben keine Befugnis, darüber zu urteilen. Dennoch ist es natürlich in Deutschland besonders interessant, warum sich nichtjüdische Menschen den Gemeinden zuwenden und zugehörig fühlen oder dies behaupten. Barbara Steiner hat eine Dissertation darüber geschrieben und auch mit uns darüber gesprochen.
Clemens Böckmann: Die Frage, ob jemand jüdisch ist oder nicht, ist Sache der jüdischen Gemeinden. Aber die Frage, ob jemand Nachfahre von NS-Verfolgten ist, ist eine Frage, die alle angeht. Es ist also unsere Aufgabe, sich damit auseinanderzusetzen.
Falsche Verfolgungsgeschichten bergen die große Gefahr, dass reale Geschichten von Zeitzeug*innen nicht mehr ernst genommen oder unter Generalverdacht gestellt werden. Gibt es vermehrte Zweifel gegenüber Zeitzeug*innen seit es diese Inszenierungen gibt?
Clemens Böckmann: Berichte von Überlebenden oder Zeitzeug*innen wurden immer angezweifelt. Es hat immer ein Bedürfnis danach gegeben, dass diese Geschichten unwahr sind. Die Leute, die leugnen wollen, leugnen sowieso.
Johannes Spohr: Es ist ja auch interessant, dass Rechte gar nicht so stark auf die Aufdeckung im Fall Seibert reagiert haben. Leute, die die Shoah leugnen wollen, finden immer einen Anlass dafür. Die falschen Geschichten haben da eher keinen großen Anteil, schaffen aber natürlich Verunsicherung.
Sagen diese Fälle etwas über die deutsche Erinnerungskultur aus?
Johannes Spohr: Wir glauben schon, dass falsche NS-Verfolgungsgeschichten darauf hinweisen, wie die deutsche Erinnerungskultur funktioniert. Es war für die Überlebenden der Shoah ein jahrzehntelanger Kampf, überhaupt gehört und anerkannt zu werden. Dass diese Geschichten gesellschaftlich Gehör fanden, hat sich mit der Gedenkstättenbewegung und der „Geschichte von unten“ in den 1980er Jahren entwickelt, als vermehrt Zeitzeug*innen interviewt wurden. Nach und nach sind bestimmte Aspekte dieser Berichte in die Populärkultur eingegangen, wobei damit oft verengt wird, was die Menschen erzählen. Bestimmte Geschichten werden eher verbreitet, andere weniger. Man macht aus den Berichten teils Geschichten, die für die nichtverfolgte Mehrheit sowie die Täter*innen und ihre Nachfahren passend sind.
An welche Art Geschichten denkt ihr dabei, die mehr verbreitet werden? Was passt nicht zur Erinnerungskultur?
Clemens Böckmann: Häufig sind es Geschichten, in denen konkrete Täterschaft kaum eine Rolle spielt. Ihre Verbreitung entspricht damit auch den Bedürfnissen der Nachfahren eben dieser Täter*innen. Was weniger zu dieser Erinnerungskultur passt, sind gleichzeitig Geschichten, die von Unversöhnlichkeit oder Widerständigkeit der Verfolgten zeugen.
Johannes Spohr: Die Erinnerungskultur zum Nationalsozialismus ist eben nicht opferzentriert in dem Sinne, dass man sich umfassend auf die Lebens- und Leidensgeschichten, aber auch auf ihre Forderungen einlässt. Stattdessen eignen sich viele den Opferstatus an bis hin dazu, dass die Querdenker*innen sich mit Sophie Scholl oder Anne Frank identifizieren.
Zur Tat gehören immer Opfer und Täter*innen, aber auch bystander, Zuschauer*innen, Profiteur*innen usw. Die bleiben aber oft sehr nebulös und unbenannt. Es ist bisweilen unbequemer, darüber zu sprechen, als sich den Fakten zum Trotz auf die Seite der Opfer zu begeben. Wer aber nach Ermordeten fragt, stößt unweigerlich auch auf die Frage nach den Mördern – sofern diese nicht verdrängt wird.
Reden wir über den Titel des Buches. Inwiefern sind diese falschen Geschichten Ausdruck einer phantastischen Gesellschaft?
Clemens Böckmann: Es geht darum, in wessen Gesellschaft man sich begibt. Auf der einen Seite könnte man es als einen Erfolg der Aufklärungsarbeit sehen, dass gerade diese Figuren als ausgedachte Opfer Konjunktur haben. Es gibt ein Bedürfnis danach, auf der Seite der Opfer zu stehen. Der Titel bezieht sich darauf, dass man versucht, sich in die Gesellschaft der Opfer hineinzubegeben, um sich von einer Verantwortung freizumachen.
Johannes Spohr: Das ist gut zu belegen mit der MEMO-Studie, die zwischen 2018 und 2022 erschienen ist. Sie hat gezeigt, dass viele Menschen glauben, dass unter ihren Vorfahren Opfer oder Menschen sind, die NS-Verfolgten geholfen haben, dabei haben das faktisch weit weniger als ein Prozent der Bevölkerung getan. Der Nationalsozialismus war über weite Strecken eine Zustimmungsdiktatur, wie der Historiker Frank Bajohr es genannt hat. Außerdem wird bei diesen falschen Geschichten auf ein extrem verengtes Bild der NS-Verfolgung rekurriert: Meistens geht es um Auschwitz als eine Chiffre für die systematische Vernichtung der Juden*Jüdinnen. Daran kann man anknüpfen, weil das im Gegensatz zu anderen Verbrechenskomplexen des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges den meisten zumindest diffus bekannt ist. Mir ist noch nicht untergekommen, dass sich jemand als Nachfahre sowjetischer Kriegsgefangener oder von Euthanasie-Opfern darstellt. Daraus lassen sich Rückschlüsse darauf ziehen, was man sich gesellschaftlich unter den nationalsozialistischen Verbrechen vorstellt.
Phantastische Gesellschaft – Gespräche über falsche und imaginierte Familiengeschichten zur NS-Verfolgung. Clemens Böckmann, Johannes Spohr (Hrsg.), Neofelis Verlag. 296 Seiten, ISBN: 978-3-95808-348-6, 19,00 Euro. Hier bestellen.