Sven Liebich dürfte zu den umtriebigsten Neonazis der Republik gehören. Jeden Montag veranstaltet er mit seinen Gesinnungsgenoss*innen eine Demonstration in Halle. Die Themen wechseln über die Zeit: Geflüchtete, Corona, der russische Angriffskrieg. Er betreibt den obligatorischen Telegramkanal und verkauft via Onlineshop Zubehör für Coronaleugner*innen, Geflüchtetenfeinde und andere Demokratiegegner*innen.
Liebich ist schon seit den 1990er Jahren in der Neonaziszene aktiv. Dafür gab es bisher bemerkenswert wenig Konsequenzen. Ein Autor*innen-Team des mdr – Jana Merkel, Tim Schulz und Thomas Vorreyer – veröffentlicht aktuell immer Dienstags den Podcast „Extrem rechts – der Hass-Händler und der Staat“, der das Phänomen Liebich analysiert: Wie verdient der Neonazi Geld, wie reagiert die Stadtgesellschafft in Halle auf die andauernden Angriffe des Rechtsextremen und vor allem: Warum gibt es so selten juristische Konsequenzen für Hass und Hetze? Wir haben mit Jana Merkel und Tim Schulz gesprochen.
Belltower.News: Wie erfolgreich ist Sven Liebich aktuell?
Jana Merkel: Auf den Demos, die er immer noch nahezu jeden Montag veranstaltet, tauchen zurzeit vergleichsweise wenige Menschen auf. In der Spitze waren es mal ein paar hundert Menschen. Mittlerweile liegt die Zahl der Teilnehmer im kleinen zweistelligen Bereich. Aber im Netz ist seine Reichweite deutlich größer.
Tim Schulz: Aktuell ist Telegram sein reichweitenstärkster digitaler Kanal. Die meisten Follower hatte er dort im Januar 2022: fast 11.000. Seitdem sinkt die Zahl langsam aber kontinuierlich. Liebich gehörte übrigens zu den ersten extrem rechten Akteuren, deren Facebook-Auftritte von Deplatforming betroffen waren. Diese Löschungen haben ihn erheblich an Reichweite gekostet. Eine seiner Seiten hatte vorher bei Facebook mit einigen Post auch schon mal sechsstellige Interaktionsraten. Das war die Seite, die zu seinem damaligen Blog „Halle Leaks” gehörte. Dort hat er zum Beispiel Fake-Zitate von Politikerinnen und Politikern wie Renate Künast (Bündnis 90/Die Grünen) verbreitet.
Den Blog und die zugehörige Facebook-Seite gibt es inzwischen nicht mehr. Und von der Reichweite, die er mit „Halle Leaks” teilweise auf Facebook erzeugen konnte, ist Liebich heute – auch bei Telegram – weit entfernt. Wenn man den Analysetools glauben kann, sind auch die Zugriffszahlen auf seinen Telegram-Kanal zurückgegangen.
Jana Merkel: Um dieses Thema geht’s in Folge 5 unseres Podcasts. Um die Fragen: Wie ist das mit Hass im Netz, am Beispiel Liebich? Wie reagieren Plattformbetreiber darauf? Was hat sich verändert? Braucht es schärfere Gesetze oder nicht? Dazu haben wir ein aufschlussreiches Interview mit Karolin Schwarz geführt, bei dem es auch um die Verantwortung der Plattformen und die Auswirkungen von Deplatforming auf extrem rechte Akteure geht.
Wieviel Einfluss hat er in der rechtsextremen Szene?
Jana Merkel: Die 9.000 Abonnenten seines Telegram-Kanals sind nicht zwangsläufig alle Mitglieder der rechtsextremen Szene. Wir wissen aber, dass er zumindest zum Teil mit der Szene vernetzt ist. An einem der Prozesstage im aktuellen Verfahren gegen Liebich, tauchte im Publikum beispielsweise ein in der Region bekannter Neonazi auf, der auch schon mit ihm auf der Anklagebank saß. Aber Liebichs Rolle in der Szene ist heute nicht mehr vergleichbar mit seiner Führungsrolle in den späten 1990ern und frühen 2000er Jahren. Er war früher ein Führungskader bei Blood and Honour. Er war Kameradschaftsführer und konnte phasenweise hunderte Neonazis zu Demos mobilisieren. In Folge 3 tauchen wir in diese Zeit tiefer ein. Damals hat er auch einen der zentralen Versandhandel für Rechtsrock hier in der Region betrieben.
Tim Schulz: Das macht ihn auch heute noch aus: Dass er sozusagen Merchandise für die Szene anbietet. Deswegen haben wir den Podcast auch „Der Hass-Händler und der Staat“ genannt. Über den Onlineshop, den er lange als Geschäftsführer geleitet hat, werden Motive für so ziemlich jede politische Richtung verkauft, aber vorrangig für populistische und extreme Rechte. Diese Motive kann man dort z.B. als Aufdruck auf T-Shirts kaufen. Da gibt es unter anderem Motive, die gegen demokratische Parteien gerichtet sind, die Minderheiten herabsetzen. Und Liebich reagiert sehr schnell auf aktuelle Entwicklungen. Das war bei der Fluchtbewegung 2015 so, während der Pandemie und heute mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine auch.
Ihr habt es schon angesprochen, jeden Montag veranstaltet Liebich eine Demo auf dem Marktplatz in Halle. Wie kommt das in der Stadtgesellschaft an?
Jana Merkel: Unser Eindruck war, dass nahezu jeder in Halle seinen Namen kennt. Egal wen man fragt. Wir haben auf der Straße Leute angesprochen und nachgefragt. Wir haben mit der Stadtverwaltung gesprochen, mit dem Oberbürgermeister und mit Leuten aus der Zivilgesellschaft, die von seinen Anfeindungen massiv betroffen sind. Wir haben mit Gewerbetreibenden gesprochen, die von dieser Dauerbeschallung auf dem Markt genervt sind. Und wir haben in den Monaten, in denen wir in Halle recherchiert haben, abseits seines Umfelds niemanden getroffen, der gut findet, was er da macht. Zumal der Marktplatz ja auch sowas wie das Aushängeschild der Stadt ist.
Zeigt sich der Unmut der Leute bei den Demos?
Jana Merkel: Im Oktober 2022 haben wir – wieder einmal – eine seiner Demos beobachtet und neben uns sind vier junge Männer stehen geblieben, die sich offensichtlich ganz angeregt darüber unterhalten haben. Die habe ich angesprochen und gefragt, was sie dort hingeführt hat. Es hat sich herausgestellt, dass sie Erstsemester an der Uni waren. Einer kam aus Halle, die anderen Drei waren neu zugezogen. Der Hallenser hatte seine neuen Kumpels aus der Uni mal zum Marktplatz mitgenommen, um ihnen zu zeigen, was da montags los ist. Die haben das ein bisschen verwundert bestaunt, wie eine skurrile Sehenswürdigkeit. Aber sie fanden auch sehr problematisch, was da passiert und was an Inhalt transportiert wird. Der Hallenser hat betont, wie schade er es findet, dass seine Stadt mit diesem Namen assoziiert werde und dass die Lauten, also Liebich, stärker wahrgenommen würden, während die Demokrat*innen zu leise seien oder nicht gehört würden.
Bringt denn Gegenprotest in diesem Fall etwas?
Jana Merkel: Das ist eine Debatte, die in der Zivilgesellschaft geführt worden ist und nach unserem Eindruck auch immer wieder geführt wird. Viele Leute in Halle fragen sich, muss man stärker und jeden Montag widersprechen oder gibt ihm das zu viel Aufmerksamkeit. Es gab in den vergangenen Jahren immer wieder Gegenveranstaltungen. Aber diejenigen, die dort Gesicht zeigen, erzählen uns, dass Liebich dann eher noch lauter wird, verbal noch mehr aufdreht. Und häufig dann auch die Menschen, die sich am Gegenprotest beteiligen, verbal zur Zielscheibe macht. Das ist das Eine. Dazu kommt, dass inzwischen nur noch ein vergleichsweise kleines Grüppchen dort mit Liebich steht, das oftmals aus denselben Leuten besteht. Und dann haben Menschen, die sich ehrenamtlich gegen Rechtsextremismus engagieren, eben auch noch etwas anderes zu tun. Sie haben Jobs, Familien, Hobbys, also begrenzte Kapazitäten – und überlegen sich dann: Wann und wie ist Gegenprotest notwendig und wann eher nicht?
Wer sind eigentlich seine Unterstützer*innen? Bei Gerichtsprozessen wird er oft von Personen begleitet, die zum Teil recht aggressiv auftreten.
Jana Merkel: Während unserer Recherchen gab es ein paar Situationen, wo sich jemand aus dem Tross bei seinen Demos herausgelöst und mit uns geredet, aber oft eher auf uns eingeredet hat. Da kam dann z.B. viel Verschwörungsideologisches. Aber ob das repräsentativ ist für die Gruppe, die ihn unterstützt oder für die 9000 Leute, die ihm bei Telegram folgen, ist schwer einzuschätzen. Als wir versucht haben, Liebich mit unseren kritischen Fragen zu konfrontieren, hat sich ein Mann dazwischen gestellt und versucht, ihn von uns abzuschirmen. Vor Gericht begleiten ihn oft Personen, die wir zum Teil auch von seinen Demos kennen. Da kommt es dann auch schon mal während der Verhandlung dazu, dass jemand aus dieser Gruppe laut dazwischen redet und stört. Oft ist es so, dass die Gerichte erhöhte Sicherheitsvorkehrungen treffen und eine Sicherheitsschleuse einrichten.
Wie gefährlich ist das alles?
Jana Merkel: 2020 haben wir Jochen Hollmann interviewt, den Leiter des Verfassungsschutzes in Sachsen-Anhalt. Der hat damals gesagt, das Risiko bei Liebich sei, dass er andere aufstachele, die sich dann berufen fühlen könnten, zur Tat zu schreiten. Und unserer Erfahrung nach heißt das schon was, wenn der Verfassungsschutz eine Einzelperson namentlich so explizit heraushebt. Hollmann formulierte in diesem Interview auch sinngemäß die Aussage, dass der Rechtsstaat Liebich konsequent in die Schranken weisen müsse. Er hat damals von einem „Warnschuss“ gesprochen, also dass jede Ordnungswidrigkeit und jedes Vergehen geahndet werden müsse.
Das hat ja nicht so gut funktioniert. Ihr berichtet von 342 Ermittlungsverfahren, die Stand März 2023 allein bei der Staatsanwaltschaft Halle gegen Liebich anhängig sind. Und ihr stellt im Podcast fest, dass in der Vergangenheit die meisten Verfahren gegen ihn eingestellt wurden. Wie erklärt ihr euch das?
Jana Merkel: Das ist der Kern der Kritik von vielen Betroffenen: Das Agieren der Staatsanwaltschaft Halle. Für die Ermittlungsverfahren gegen Liebich war bisher häufig dieselbe Staatsanwältin zuständig. Leider war die Staatsanwaltschaft Halle aber nicht zu einem Interview bereit, bei dem wir die Kritik der Betroffenen und die sich daraus ergebenden kritischen Fragen hätten besprechen könnten. Dass es angesichts der vielen Ermittlungsverfahren so wenige Anklagen und Urteile gegen ihn gibt, empfinden viele Betroffene als Hohn und als inkonsequentes Agieren der Staatsanwaltschaft und der Justiz.
Einige Fragen hat die Staatsanwaltschaft schriftlich beantwortet. Und am Rande eines Berufungsprozesses hat der dort zuständige Staatsanwalt auch vor dem Mikro den Ablauf dieses Verfahrens erklärt. Wir wollten aber gern die Hintergründe verstehen, die Begründungen hinter den Einstellungen. Deshalb haben wir die Paragraphen und rechtsstaatlichen Mechanismen, mit denen die Staatsanwaltschaft ihre Entscheidungen begründet, mit anderen Juristen besprochen. Das wird auch Thema in Folge 5 sein.
Ihr habt im dritten Teil darüber gesprochen. Ist oder war Liebich ein V-Mann?
Jana Merkel: Um das ganz klar zu sagen: Wir haben keine Belege dafür gefunden. Liebich selbst hat bei mehreren Gelegenheiten und auch schon mal vor Gericht bestritten, ein V-Mann gewesen zu sein. Trotzdem stellen sich viele Menschen, mit denen wir in der Recherche gesprochen haben, genau diese Frage. Und deshalb stellen wir sie auch im Podcast. Wir haben beim Bundesamt für Verfassungsschutz nachgefragt und dem Innenministerium Sachsen-Anhalt. Das ist zuständig für den Verfassungsschutz Sachsen-Anhalt, aber auch das LKA und die Polizei in Halle. Denn Informanten gab und gibt es ja nicht nur beim Verfassungsschutz, sondern auch immer wieder mal bei Polizeibehörden. Die Behörden haben uns aber nahezu wortgleich geantwortet: Sie geben über den Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel keine Auskunft. Und sie haben betont, dass aus dieser Nicht-Antwort nicht hergeleitet werden könne, ob überhaupt nachrichtendienstliche Mittel eingesetzt wurden. Es gab also weder eine Bestätigung noch ein Dementi zu dieser Frage.
Tim Schulz: Es gibt Szenekenner, die es für eine plausible Möglichkeit halten, beweisen können sie es aber nicht. In Liebichs Umfeld gab es einige V-Männer, zum Beispiel bei Blood and Honour. Und noch viele mehr im Umfeld des NSU. Liebich stand damals in Kontakt mit Thomas Richter, der später als V-Mann „Corelli“ aufflog und Verbindungen zum NSU hatte. Der Neonazi galt lange Zeit als eine der Top-Quellen in der rechtsextremen Szene. Über seine Rolle im NSU-Komplex wurde schon viel berichtet.
Gestorben ist er 2014, überraschend mit 39 Jahren.
Jana Merkel: Richter und Liebich kannten sich. Liebich sagt, er habe aber von Richters V-Mann-Tätigkeit nichts gewusst. Und das ist dann angesichts der Behördenauskunft einfach eine Stelle, an der wir nicht weiterkommen. Wir sprechen im Podcast auch offen darüber, weil es eben nun mal so ist, dass wir nicht alle Fragen abschließend klären können. Wir haben keine Belege.
Und die Tatsache, dass Liebich trotz seiner einschlägigen Aktivitäten in den 90ern und frühen 2000ern nicht verurteilt worden ist, soweit wir das wissen, muss auch nicht zwangsläufig mit der V-Mann-Frage zusammenhängen. Es ist gut möglich, dass es andere Gründe gab: dass Verfahren oder Ermittlungen eingestellt worden sind, dass es Kapazitätsprobleme bei den Behörden gab, dass irgendjemand nicht genau genug hingeguckt hat usw. Wir wissen es schlicht und ergreifend nicht. Was wir aber wissen: dass es auch schon in den 1990ern und frühen 2000ern mehrere Ermittlungsverfahren gegen ihn gegeben hat und auch eine Anklage. Das war 2002. Aber an deren Ausgang erinnert sich niemand und wir konnten keine Unterlagen dazu finden.
Tim Schulz: Wir haben einen Bericht für mdr exakt gemacht, in dem wir Archivmaterial des MDR aus dem Jahr 1998 zeigen. Da präsentiert das LKA Dinge, die bei einer Razzia bei Liebichs damaligen Versandhandel beschlagnahmt worden waren. Da ist ein ganzes Sortiment zu sehen: Plakate, Fahnen mit offen nationalsozialistischer Symbolik, Bilder von Hitler, Propagandaposter mit SS-Bezug und massenweise Rechtsrock-CDs. Einige davon waren auch indiziert. Und das können wir auch aus Akten belegen, die uns vorliegen: Liebich hat damals offenbar unter anderem mit illegalem Material gehandelt.
Jana Merkel: Wir haben übrigens sehr gestaunt, als wir dieses Material im MDR-Archiv gefunden haben. 1998 war noch keiner von uns dabei. Und wir wussten zunächst nicht, ob es darüber Berichterstattung gegeben hatte. In dem Archivbeitrag sagt ein LKA-Beamter sinngemäß, einen Fund in dieser Größe hätte es in Sachsen-Anhalt noch nicht gegeben. Und im Nachgang dieser Razzia kam es 2002 zu der erwähnten Anklage, aber offenbar ohne ein Urteil. Das fanden wir interessant.
Heute ist die vierte Episode erschienen. Ihr plant insgesamt sechs Folgen. Was erwartet uns noch?
Jana Merkel: Die Hörerinnen und Hörer erwarten Weihnachtsbäume und ein Elefant. Ja, ein Elefant. Und es wird um die Frage gehen, wie viel rechtsextreme Hetze eine Stadt aushalten muss. Da geht es dann um das Versammlungsrecht und die Frage, wann und ob überhaupt Versammlungs- und Meinungsfreiheit irgendwo enden. Wir werden uns in Folge 5 damit beschäftigen, wie Plattformbetreiber und Justiz mit Hass im Netz umgehen. Und gehen auch noch mal ausführlicher auf die Kritik an der Staatsanwaltschaft Halle ein und auf die Muster, die wir in ihrem Vorgehen identifiziert haben. Wir glauben, das ist wichtig, um zu verstehen, was da passiert. Denn der Fokus unseres Podcasts ist nicht dieser eine Rechtsextremist, sondern die Frage, wie der Rechtsstaat mit ihm umgeht.
Tim Schulz: Und schließlich schauen wir uns die Geschäfte und damit auch das engere Unterstützerumfeld von Liebich an. Darum wird es in Folge 6 gehen. Und ohne zu viel verraten zu wollen, das ist schon ziemlich interessant. Zum Abschluss beleuchten wir, was sich in der Zwischenzeit getan hat, ob das Eis womöglich etwas dünner für ihn wird. Denn Liebich steht aktuell wieder vor Gericht. Das Urteil wird aber vermutlich erst fallen, nachdem der Podcast abgeschlossen ist.
„Extrem rechts – der Hass-Händler und der Staat“ ist auf der Website des mdr zu hören und überall dort, wo es Podcasts gibt.