Am 10. Mai 2022 stellten Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) und Holger Münch, Präsident des Bundeskriminalamtes (BKA), in Berlin die Zahlen zur politisch motivierten Kriminalität 2021 vor. Die Polizei hat 2021 so viele politisch motivierte Straftaten erfasst, wie noch nie, seit das Erfassungssystem „Politisch motivierte Kriminalität“ (PMK) 2001 eingeführt wurde. Bei der Vorstellung der PMK-Bilanz vermeldeten Faeser und Münch im vergangenen Jahr 55.048 Delikte. Das sind über 10.000 Straftaten mehr als 2020. Die Polizei zählte im vergangenen Jahr 3.889 militante Delikte, 15 Prozent mehr als 2020. Über 1.400 Menschen wurden verletzt, fünf starben.
Rechtsextreme Straf- und Gewalttaten
Die meisten politisch motivierten Straftaten wurden auch im Jahr 2021 im Phänomenbereich „PMK rechts“ begangen. Nach dem Höchststand im Jahr 2020 (23.604) sanken die Fallzahlen um rund sieben Prozent auf 21.964 Straftaten. Innenministerin Faeser betonte am Dienstag dennoch, „41 Prozent aller Opfer politisch motivierter Gewalttaten wurden 2021 von Rechtsextremisten attackiert“. Das zeige, dass Rechtsextremismus weiterhin die größte „extremistische Bedrohung für unsere Demokratie und die größte extremistische Gefahr für Menschen in unserem Land“ sei. Mit dem Aktionsplan gegen Rechtsextremismus „haben wir die Gangart deutlich verschärft“, sagte Faeser. BKA-Präsident Holger Münch kündigte an, „ab dem heutigen Tage“ würden rechte Gefährder:innen und „relevante Personen“ standardisiert bewertet. Das BKA habe dazu das Analyse-Instrument „RADAR-rechts“ entwickelt. Damit werden Biografien und Verhaltensweisen gewaltorientierter Rechtsextremisten ähnlich betrachtet wie bei militanten Islamist:innen.
Bei einer als rechts eingestuften Gewalttat starben vier Menschen. Im Dezember 2021 erschoss in Königs Wusterhausen (Brandenburg) ein radikaler Impfgegner, der an eine jüdische Weltverschwörung glaubte, seine Frau, die drei Kinder und sich selbst.
Hasskriminalität und Reichsbürger:innen
Insgesamt liegt die Anzahl der rechtsextremen Gewalttaten bei 1.042 (gegenüber 1.092 im Vorjahr). Im Bereich der Hasskriminalität hat sich eine leichte Zunahme um rund zwei Prozent auf 10.501 gezeigt. Vier von fünf dieser Straftaten wurden im Phänomenbereich „PMK rechts“ begangen. Auch im Themenfeld „Reichsbürger/Selbstverwalter“ stiegen die Fallzahlen stark auf 1.335 Straftaten.
Straftaten steigen durch die „Querdenken-Szene“ rasant
Der starke Anstieg der Zahlen, um über 10.000 Straftaten im vergangenen Jahr, sei auf politisch schwer einzusortierenden Coronaleugner:innen, Impfgegner:innen und anderen Protestler:innen zurückzuführen, teilten Faeser und Münch am Dienstag mit. Hier sei für die Polizei häufig keine Zuordnung zu „klassischen“ Phänomenbereichen wie rechts oder links motiviert möglich. In der Bilanz ist von 21.339 Straftaten, die „nicht zuzuordnen“ sind, die Rede. Das ist eine Zunahme um 147 Prozent, 2020 waren es noch 8.624 Delikte. Der Höhepunkt dieser Gewalt sei der Mord am 20-jährigen Alex W. in einer Tankstelle in Idar-Oberstein durch einen Mann gewesen, der das Tragen einer Maske verweigerte. „Wir haben 2021 sehr viele Straftaten im Zuge der Corona-Proteste registriert – bis hin zu exzessiven Gewaltdelikten.“ Die Ministerin mahnte, „wir müssen unsere Demokratie mit aller Kraft schützen“.
Antisemitische Straftaten stiegen um 29 Prozent
Antisemitische Straftaten stiegen im Jahr 2021 um 29 Prozent auf 3.027 an(gegenüber 2.351 im Vorjahr). 84 Prozent dieser Straftaten wurden im Phänomenbereich „rechts“ verzeichnet. Bei rund 61 Prozent der antisemitischen Delikte handelt es sich um Volksverhetzungen, das ist ein Plus von 40 Prozent, von denen wiederum die Hälfte im Internet verübt wurde. Ungefähr die Hälfte der antisemitischen Straftaten wurden im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie begangen. Auffällig sei aber auch der islamistisch geprägte Antisemitismus, der Hass gegen Jüd:innen und gegen den Staat Israel offen propagiert.
„Die massiv steigende Zahl antisemitischer Straftaten um noch einmal 29 Prozent macht mir größte Sorgen“, sagte Faeser. „Es ist eine Schande für unser Land, wie viel antisemitische Hetze und Menschenverachtung auch heute verbreitet wird.“ Faeser nannte es „beschämend, wie der Völkermord an den europäischen Juden von manchen Corona-Leugnern, die sich einen gelben Stern anheften, verharmlost wurde“.
Im Themenfeld „Geschlecht/sexuelle Identität“ wurden 340 Delikte an das Bundeskriminalamt gemeldet. Das ist ein Anstieg um 66 Prozent. Bei den Gewaltdelikten wurde ein Zuwachs um 42,5 Prozent registriert. Auch im Themenfeld „Sexuelle Orientierung“, in dem homo- und transfeindliche Straftaten erfasst werden, sind die Fallzahlen um rund 50 Prozent auf 870 Delikte angestiegen. Die 164 Gewalttaten in diesem Themenfeld bewegen sich etwa auf Vorjahresniveau, es sei jedoch von einer besonders hohen Dunkelziffer auszugehen, so das Innenministerium.
Dunkelziffer
Die massiv gestiegenen PMK-Zahlen können nur einen Eindruck vermitteln, denn zahlreiche Fälle politisch motivierter Kriminalität tauchen in der Statistik des Innenministeriums vermutlich gar nicht erst auf. Ob das Hassmotiv der Tat als solches erkannt wird, hängt von der Sensibilität und fachlichen Kenntnis der Polizeibeamt:innen ab. Dass Betroffene von den Ermittlungsbehörden häufig nicht ernst genommen werden, macht es für sie noch schwieriger, das Erlittene zur Anzeige zu bringen.
Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt
Wie schon in den Vorjahren gehen die Opferberatungsstellen auch in 2021 von einer hohen Anzahl nicht registrierter rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalttaten sowie von einer eklatanten Untererfassung von rassistischen, antisemitischen und rechten Tatmotivationen durch Polizei und Justiz aus. „Wir sehen mit Besorgnis, dass die Untererfassung rechter Gewalt zunimmt. Dies zeigt sich insbesondere auch bei der Verortung von Gewalttaten durch Anhänger:innen von Verschwörungsideologien und der Coronaleugner-Bewegung in der polizeilichen Kategorie ‚PMK nicht zuzuordnen/verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates’“, sagt Robert Kusche vom Vorstand des Verbands der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG e.V.) am Dienstag.
In den ostdeutschen Bundesländern sowie in Baden-Württemberg, Berlin, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein, in denen ein unabhängiges und einheitliches Monitoring rechter Gewalt durch die Opferberatungsstellen veröffentlicht wird, blieb die Anzahl der in 2021 registrierten rechten Gewalttaten im Vergleich zum Vorjahr konstant hoch. In mehr als der Hälfte aller Bundsländer wurden 2021 täglich mindestens drei bis vier Menschen Opfer rechter Gewalt. Trotz monatelanger Ausgangsbeschränkungen aufgrund der Pandemie wurden vergangenes Jahr 1.391 rechts, rassistisch und antisemitisch motivierte Angriffe mit 1.830 Betroffenen bei den Beratungsstellen registriert.
Rassismus war auch 2021 – wie schon in den Vorjahren – das bei weitem häufigste Tatmotiv. Rund zwei Drittel aller Angriffe (816 Fälle) waren rassistisch motiviert und richteten sich überwiegend gegen Menschen mit Migrations- oder Fluchterfahrungen und Schwarze Deutsche.