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Probleme einer linken DDR-Kritik …..vertuscht oder bagatellisiert wurde die Shoa nicht?

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Antisemitismus in der DDR: Manfred Wekwerth, Präsident der Akademie der Künste der DDR, bei einer Ansprache vor dem mit antisemitischen Parolen geschändeten Grab von Bertold Brecht und Helene Weigel auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Ostberlin im Mai 1990. (Quelle: picture alliance/akg-images)

Teile einer linken wissenschaftlichen und publizistischen DDR-Kritik verschließen die Augen vor offen zu Tage liegenden Tatsachen und verlängern, mit ihrer unzureichenden Darstellung, die unproblematisierte Existenz von linkem Antisemitismus und linker Entschuldung deutscher Nazi-Täter*innen. Sie nimmt die wesentliche Aufgabe von Geschichtsschreibung nach 1945 nicht ernst. Wie lässt sich Geschichte nach Shoa und Zivilisationsbruch schreiben?

Gesellschaftsanalyse

Nicht wenigen linken Autorinnen und Wissenschaftler*innen scheint das Thema DDR zu kompliziert. Wie analysiert man eine Gesellschaft, die zweifellos in ihrem ökonomischen System nicht kapitalistisch war, in ihrem politischen System eine Diktatur darstellte und in ihrer politischen Kultur auch Spuren der Volksgemeinschaft aufwies? Ein solch ungewöhnliches Zusammentreffen verschiedenster Faktoren ist nicht ganz leicht zu entwirren.[2]

Darüber hinaus ist für marxistisch und leninistisch orientierte linke Wissenschaftler*innen das Problem zu bewältigen, dass die Eliten der DDR zur Rechtfertigung ihrer Politik gerade solche Denk- und Analysetraditionen in Anspruch nahmen. Analyse der DDR bedeutet für solche Wissenschaftler also immer auch kritische Selbstreflektion und Verabschiedung von den autoritären Gehalten des Marxismus und Leninismus.

Walther geht es in seinem Artikel um die Zurückweisung der Behauptung, es habe in keinem Bereich der DDR-Gesellschaft eine offene Auseinandersetzung um die Shoa gegeben. Er kritisiert mit seinem Artikel ein Buch, das kürzlich vom Historiker Norbert Frei und anderen veröffentlicht wurde.[3]

Einen Versuch, sich analytisch des gesellschaftlichen Zusammenhangs zu versichern, vor dem diese Frage einer gesellschaftlich breiten Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus überhaupt erst beantwortbar wird, unternimmt Alexander Walther nicht. Sein Artikel zeigt paradigmatisch verschiedene Mängel einer von Linken, im weitesten Sinne, betriebenen DDR-Analyse, die hier skizziert werden sollen.

 

SED-Diktatur

Walther unterschlägt die Analyse des politischen Systems der DDR, einer Diktatur. In Diktaturen sind öffentliche politische Kontroversen nur ganz selten vorgesehen. Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, politischer Pluralismus und Gewaltenteilung sind Eigenschaften, die Diktaturen „sowjetischen Typs“ nicht kannten.

Dies wurde auch gar nicht verborgen. Die sozialistische Theorie seit Marx und Lenin – anders als ihre Traditionen von etwa Moses Hess oder Eduard Bernstein -, die von den DDR-Eliten in Anspruch genommen wurde, spricht ausdrücklich von einer „Diktatur des Proletariats“.[4] Eine solche Diktatur kennt keine öffentlichen Auseinandersetzungen, auch nicht solche über den Nationalsozialismus und seine Verbrechen.

Alexander Walther zeigt in seinem Artikel lediglich, dass es in der DDR durchaus, in Literatur, Film und sogar in Schulbüchern, Texte gab, die von der Shoa handelten. Das jedoch ist kein Gegenargument zu der Behauptung, dass die DDR eine öffentliche Auseinandersetzung um Ursachen und Hintergründe des Nationalsozialismus nicht kannte und deshalb ein breiter gesellschaftlicher Lernprozess ausblieb.

 

Halbe Wahrheiten

In der Art und Weise, wie Alexander Walther seine Beispiele präsentiert, die die These einer angeblich vorhandenen gesellschaftlichen Auseinandersetzung in der DDR mit der Shoa belegen sollen, wird ein zweiter Mangel großer Teile linker sozialwissenschaftlicher Kritik der DDR sichtbar: Geschichten werden oft unvollständig dargestellt.

So zum Beispiel zitiert Walther als Beleg der Existenz einer Auseinandersetzung in der DDR über Shoa und Zivilisationsbruch den Historiker Helmut Eschwege. „Der Historiker Helmut Eschwege“, so heißt es in seinem Text, „schrieb trotz größter Widerstände Bücher über die Shoa, den jüdischen Widerstand oder die Synagogen in Deutschland, die er indes nicht alle in der DDR veröffentlichen konnte.“[5] Dies ist weniger als die halbe Wahrheit.

Eschwege schrieb seine Bücher nicht nur gegen große Widerstände. Eschwege, der in Hannover geboren wurde und noch 1938 aus Deutschland entkommen konnte, im britischen Mandatsgebiet Palästina bei der britischen Armee gearbeitet hatte, wurde in der DDR die Anerkennung als Kämpfer gegen den Faschismus entzogen. Das Ministerium für Staatssicherheit bedrohte ihn mit einer Anklage wegen geheimdienstlicher Tätigkeit und führte deshalb den „OV Zionist“ gegen ihn. Letztlich fand sich aber kein Beleg für eine Zusammenarbeit mit dem israelischen Geheimdienst.

Weniger als die halbe Wahrheit ist Walthers Aussage über Eschwege auch, weil alle seine in der DDR erarbeiteten Publikationen vor der Veröffentlichung mehrere Jahre auf den Tischen von Zensor*innen und Redakteur*innen lagen, die ihren Inhalt in vielen kleinen Schritten so lange zerlegten, bis ihre Aussagen weitestgehend entschärft waren. Publikationen, bei denen Eschwege dies nicht zuließ, musste er in der Bundesrepublik veröffentlichen.[6] Die Geschichte seiner Publikationen ist also die Geschichte eines veritablen Krieges darum, die Stimme der Überlebenden in der DDR überhaupt zu Gehör zu bringen. Als Beispiel dafür, dass es eine Thematisierung der Shoa in der DDR doch gegeben habe, so wird er von Walther dargestellt, taugt Eschwege nicht.

 

Faschismus statt Shoa

Damit wird ein dritter Mangel linker sozialwissenschaftlicher DDR-Analysen sichtbar: Ideologie wird nicht ernst genommen. Eine ideologiekritische Analyse der wesentlichen Begrifflichkeiten der DDR – Faschismus, Zionismus, Antifaschismus u. a. – unterbleibt, auch bei Walther.

Dass es in der DDR keine öffentliche Auseinandersetzung um die Shoa geben konnte, hat etwas damit zu tun, dass die offiziöse Interpretation des Nationalsozialismus, die Faschismus-Analyse, eine Beschäftigung mit und eine Analyse der Shoa ausschloss. Die offiziöse Interpretation des Faschismus wurde, wo nötig auch mit Gewalt und Zensur durchgesetzt.[7] Sie sah die Verbrechen des Nationalsozialismus wesentlich seinem kapitalistischen Charakter und der bürgerlichen Ideologie geschuldet. Rassismus, Antisemitismus und Judenmord galten als Nebenwidersprüche und durften nicht das Zentrum der Analyse rücken. Dass es auch einzelne Autor*innen gab, die gegen diese Interpretation des Nationalsozialismus aufbegehrten, ist kein Gegenbeleg zu diesem allgemeinen Zustand.

Die klassische marxistische Theorie, wie auch viele andere sozialwissenschaftliche Analyse-Konzepte, sträuben sich, den Tatsachen ins Auge zu blicken. Die deutsche Gesellschaft hat zwischen 1933 und 1945 den Versuch unternommen, alle Juden und Jüdinnen überall auf der Welt zu ermorden. Dieses Ziel war ihr so wichtig, dass sie es selbst dann noch weiterverfolgte, als sichtbar wurde, dass es nur um den Preis des eigenen Untergangs weiterverfolgt werden konnte. Das ist es, was man den „Zivilisationsbruch“ nennt.[8]

Walther dagegen behauptet, dass in der DDR-Faschismusinterpretation und Analyse der Shoa und des Zivilisationsbruchs eine Einheit gebildet hätten. Im Zusammenhang mit dem Prozess gegen Adolf Eichmann sei es gelungen, dass „die Shoa in eine marxistische Faschismusinterpretation integriert werden konnte.“[9] Diese angebliche Integration sah so aus, dass das Wort „Auschwitz“ durchaus eine Rolle spielte, die Vernichtung der europäischen Juden in solchen Analysen aber auf ein Element einer wesentlich kapitalistischen Expansions- und Ausplünderungspolitik reduziert wurde.

Die Vernichtung der europäischen Juden und Jüdinnen, der Versuch der Deutschen alle Juden und Jüdinnen auf dem Planeten umzubringen, wurde in solchen Darstellungen gerade nicht zum Thema gemacht.

 

Vertreibung von Juden und Jüdinnen

Die mangelnde ideologiekritische Orientierung und mangelnde selbstkritische Befragung linker Begrifflichkeit bei einigen linken Autoren ziehen einen vierten Mangel unmittelbar nach sich. Eine solche Analyse der DDR verharmlost den Antisemitismus in der DDR-Gesellschaft in fast derselben Weise, in der das die DDR selbst tat.

Antisemitismus in der DDR richtete sich gegen die immer kleiner werdende Anzahl von Juden und Jüdinnen. Der größte Teil von ihnen war im Winter 1952/53 vertrieben worden. Alexander Walther schreibt: „1953 gilt als Zäsur in der Auseinandersetzung mit der Shoa in der DDR. Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) wurde zwangsaufgelöst, der größte Schlag traf aber die Jüdischen Gemeinden. Die Verfolgung jüdischer Parteimitglieder, die in der Sowjetunion und der Tschechoslowakei eingesetzt hatte, fand nun auch in der DDR statt. Fast alle Vorsitzenden und etwa die Hälfte der Mitglieder der Jüdischen Gemeinden flohen aus der DDR. Dies als rein antisemitische Vertreibung zu deuten, wäre aber verfehlt. Die SED-Führung dachte zwar durchaus auch in antisemitischen Kategorien, etwa die Vorstellung, die Restitutionsabsichten seien lediglich ein Vorwand gewesen, um dem vermeintlich jüdisch dominierten „Finanzkapital“ Zugang zur DDR zu ermöglichen. Doch die Verfolgung jüdischer und nicht-jüdischer Parteimitglieder, die durch vermeintliche oder tatsächliche Kontakte in den Westen pauschal verdächtig wirkten, diente eher der Befriedung eigener Ängste der SED-Führung.“[10]

Die wesentliche Analyse von Jeffrey Herf, die den Kontext dieser Vertreibung analysiert, zitiert Walther nicht.[11] In welcher Weise die angebliche „Befriedung eigener Ängste“ der Tatsache antisemitischer Motive bei der Vertreibung der DDR-Juden und Jüdinnen im Winter 1952/53 relativiert und welche Ängste dies gewesen sein sollen, erläutert Walther nicht.

 

Kriege gegen Israel

So wenig in solchen Analysen der linke Antisemitismus der DDR-Führung wahrgenommen wird, so wenig wird ihre antiisraelische Außenpolitik thematisiert. Bei Walther kommt sie überhaupt nicht vor.

Die DDR unterstützte seit dem 6-Tage-Krieg sowohl die radikalen Palästinenserfraktionen als auch diejenigen arabischen Gesellschaften, die Krieg zur Vernichtung Israels führten. Zwar hat die DDR keine NVA-Piloten eingesetzt, keine eigenen Soldaten in die Kämpfe geschickt. Militärisches Material, Waffen, Training aller Art aber wurden aber zur Verfügung gestellt.

Diese Tabuisierung des Antisemitismus der DDR-Führung schließt ein, dass die initiierende Rede zu dieser Politik, von Walther Ulbricht am 15. Juni 1967 in Leipzig gehalten, nicht zitiert wird. Ulbricht hatte in dieser Rede Israels Selbstverteidigung gegen eine bevorstehende Aggression von Ägypten und anderen als imperiale Aggressionspolitik gedeutet, die im globalen Kontext der Politik von USA und NATO stünde. Außerdem setzte Ulbricht Israels Politik mit der von Nazi-Deutschland gleich und kritisierte die halbherzige westdeutsche Unterstützung Israels, als Beitrag zu Israels Aggressionspolitik.[12] Der Holocaust Forscher Robert Wistrich nennt ein solches Narrativ „Holocaust Inversion“.[13]

Die DDR bediente darüber hinaus in der UNO alle Versuche der Dämonisierung Israels. Man kann sagen, dass ihre internationale Anerkennung in den 1970er und 1980er Jahren der Tatsache geschuldet war, dass die DDR-Führung sich solchen Dämonisierungskampagnen verschiedenster Gesellschaften in der UNO anschloss.

 

Generalexkulpation

Aus der Tabuisierung der Existenz von Antisemitismus in der DDR-Führung folgt in solchen Analysen auch häufig eine Tabuisierung antisemitischer, rassistischer Personen, Gruppen und Bewegungen sowie ihrer Handlungen in der DDR. Die große Masse der Bevölkerung in Nazi-Deutschland galt der SED-Führung als lediglich verführt. Wie Patrice Poutrus formuliert, gewährte die SED den deutschen Arbeitern eine „Generalexkulpation“.[14]

Da lag es nahe, dass nach 1945 weiter geschwiegen und exkulpiert wurde. Die seit der Gründung der DDR anhaltenden Angriffe auf jüdische Friedhöfe, aber auch tödliche Angriffe gegen verschiedene Gruppen von sogenannten „Vertragsarbeiter*innen“, Funktionäre der SED, die vor 1945 Funktionäre der NSDAP waren, selbst nazistische Schmierereien im Gebäude des SED-Zentralkomitees, deren Urheber*in nicht ermittelt werden konnten, all dies schien für die DDR nur in geheimen Informationen für Parteikader zu existieren. Dass es seit 1945 in der DDR eine veritable „Systemgegnerschaft von rechts“ gab, wie das Enrico Heitzer formulierte[15], wurde in den gelenkten Medien unterschlagen.

Dass es auch Literatur gab, wie etwa Christa Wolfs Buch „Kindheitsmuster“, in dem sie exemplarisch ihre Familiengeschichte im Nationalsozialismus vorstellte, ist, anders als bei Walther behauptet, kein Gegenbeleg zur These, dass es eine intensive gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Nazi-Vergangenheit nicht gegeben hat. Der Verweis auf einzelne Autor*innen, die das Schema der Exkulpation durchbrachen, verweist auf Ausnahmen, beschreibt keine gesellschaftliche Tendenz.

Viele linke Sozialwissenschaftler*innen verlängern das Tabu bis in die Gegenwart. Die Recherchen über das Fortdauern der volksgemeinschaftlichen Ideologie in der DDR, über die gesellschaftliche Integration der Ex-Nazis in der DDR und die Verbreitung der Neo-Nazis in den 1970er und 1980er Jahren sind noch nicht breit gestreut. So wenig wie Autor*innen, die eher konservativer Politik nahestehen, haben Fans von „Die Linke“, Sozialdemokraten oder Bündnis 90/Die Grünen solche Analysen vorgelegt.[16] Die Explosion des rechten Radikalismus seit der Vereinigung beider deutscher Staaten hat Historiker*innen aller Farben unvorbereitet getroffen.

 

Antikapitalismus

Die wenig selbstkritische Diskussion einer eigenen linken Begrifflichkeit, wie zum Beispiel „Faschismus“, ruft eine fast automatische Abwehrreaktion hervor, wenn von Menschenrechtsverletzungen, von Rassismus und Antisemitismus in der DDR die Rede ist. Das antikapitalistische Welterklärungsmodell, das selbst Elemente eines strukturellen Antisemitismus in sich birgt[17], erträgt eine solche Kritik offenbar nicht. Solche Kritik, so heißt es dann, sei lediglich dazu da, von den großen Übeln des Kapitalismus abzulenken. Alexander Walther nennt dies die „politische Funktion“[18] der Kritik an der DDR. Damit solle lediglich das westdeutsche Modell der Aufarbeitung des Nationalsozialismus positiv hervorgehoben werden. Ein Beleg für diese Behauptung bleibt Alexander Walther schuldig. Die Behauptung deutet auf eine Abwehr kritischer Selbstüberprüfung.

Walther führt mit dieser Argumentation eine Form der Dethematisierung von Kritik fort, wie sie bereits in der DDR üblich war, als sie noch existierte. Jegliche Kritik, die von westlicher Seite an der DDR und der Sowjetunion geübt wurde, galt der Führung der DDR und ihren Medien als „imperalistisch“, häufig auch „faschistisch“ und war angeblich dazu bestimmt, von den Menschenrechtsverletzungen und faschistischen Machenschaften in westlichen Demokratien abzulenken.

Der Sozialwissenschaftler Mario Rainer Lepsius hat diesen Mechanismus als „Universalisierung“ deutscher Schuld gedeutet.[19] Die DDR hatte den Faschismus-Kapitalismus angeblich überwunden. Als faschistisch galten in den Augen ihrer Propaganda die USA, Israel und die meisten anderen westlichen Demokratien.

 

Erschrecken, Erstaunen, Verzweiflung und Verstummen

Viele linke Autor*innen, Historiker*innen und Wissenschaftler*innen, die sich mit den Nachkriegsgeschichten von Bundesrepublik und DDR beschäftigen, haben, wie bereits gesagt offenbar keinen Begriff von Shoa und Zivilisationsbruch, sie haben darüber hinaus häufig auch keine wirkliche Vorstellung davon.

Für die Nachkriegsgeschichten von Österreich, der Bundesrepublik und der DDR ist dies insofern relevant, als sich die Frage stellt, in welchen unterschiedlichen Weisen alle drei Gesellschaften mit diesem Zivilisationsbruch umgingen, welche Konsequenzen sie daraus zogen und wie die Überlebenden des Judenmords in diesen Gesellschaften lebten. Alle drei Nachkriegsgeschichten stehen neben dem Platz, den sie im Kalten Krieg einnahmen, immer auch im Kontext von Shoa und Zivilisationsbruch.[20]

Alexander Walthers Darstellung kommt ganz ohne eine konzeptionelle Reflektion zu dieser Vorgeschichte aus, darüber hinaus hat er von der Vorgeschichte offenbar auch kein wirkliches Bild. Die Situation eines aus dem Exil Zurückkehrenden, eines KZ-Überlebenden, eines im Untergrund überlebenden Menschen, der große Teile seiner Familie und Verwandtschaft verloren hat, scheint ihm nicht wirklich zugänglich zu sein. Dies scheint mir der wesentliche Grund dafür zu sein, warum er die Geschichten, die er darlegt, nicht wirklich versteht.

Hätte er sich intensiver mit den Geschichten von Helmut Eschwege und noch einigen anderen beschäftigt, z. B. Victor Klemperer, Rudolf Schottlaender, Eugen Golomb, den Stimmen der Überlebenden von Shoa und Zivilisationsbruch in der DDR, dann wäre ihm aufgefallen, dass sie alle nicht wirklich verstehen konnten, dass die linke DDR-Staatsführung die Politik betrieb, die sie betrieb.

Die Vertreibung der DDR-Juden und -Jüdinnen 1953 war für die allermeisten von ihnen ein großer Schock. Viele waren in der Absicht gekommen, an einer besseren demokratischen Gesellschaft mitzubauen, und nun vetrieb die DDR-Führung Juden und Jüdinnen, West-Emigranten u. a. unter dem Vorwurf, sie seien amerikanische Spion*innen. Die Zurückweisung und Zerstörung der Hoffnungen der Rückkehrer*innen hätte größer nicht sein können.

Die wenigen Stimmen der Überlebenden in der DDR, die nach 1953 überhaupt noch in der DDR blieben und sich nach Kräften mühten, ihre Erfahrungen und Analysen zu Gehör zu bringen, erlebten Zensur, massive Einschüchterung, Verfolgung, Ausgrenzung und Zerstörung ihrer beruflichen Existenzen. In ihren Augen bot die DDR darüber hinaus ein von ihnen so nicht erwartetes Lehrstück in linker, antisemitischer, antizionistischer Politik nach innen und außen, so wie einer gefährlichen Verharmlosung der Reste des alten Nazismus und einer Tatenlosigkeit gegenüber der Verbreitung eines neuen Neo-Nazismus. Manche Überlebenden verstummten über diesen Schocks vollends.

Linke Autor*innen und Sozialwissenschaftler*innen heute sind nicht nur aufgerufen, einen Begriff von Shoa und Zivilisationsbruch zu entwickeln, sondern auch hinter dieses Erschrecken, Erstaunen, die Verzweiflung und das Verstummen der in die DDR zurückgekehrten Überlebenden der Shoa nicht zurück zu fallen, es vielmehr zum Gegenstand ihrer Recherchen zu machen.

 

Scheuklappen

Der Text von Alexander Walther weist paradigmatisch Probleme auf, die sich bei vielen linken Autor*innen finden lassen, die heute zur DDR-Geschichte publizieren. Im Kontext des 30. Jahrestages der Maueröffnung und der folgenden Vereinigung der beiden deutschen Staaten verstärken solche Analysen, beabsichtigt oder nicht, den Eindruck, der von vielerlei politischen Kräften, u. a. auch der AfD, hervorgerufen wird, als sei die DDR nach der Vereinigung in geistiger und materieller Hinsicht angeblich ein Opfer westlicher Kolonialisierung geworden.

Nur, so könnte man Walthers Artikel zusammenfassen, wer die DDR nicht so scharf kritisiere, behalte sich auch ein waches Auge auf die Probleme des Westens. Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Nur wer die Nachkriegsgeschichten der alten Bundesrepublik und der DDR ohne Scheuklappen wahrnimmt, wer sich von den autoritären linken Denk-Varianten im Gefolge von Marx und Lenin trennt, bekommt einen klaren Blick für die Gefährdungen der Demokratie heute. Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus hatten in der alten Bundesrepublik und in der DDR ihr Zuhause. In der vereinigten Bundesrepublik sind sie zu einem veritablen politischen Faktor geworden.

Da sind Norbert Frei und seine Kollegen mit ihrem Buch „Zur rechten Zeit. Wider die Rückkehr des Nationalismus“[21], die von Walther heftig kritisiert werden, einen wichtigen Schritt vorwärts gegangen.[22] Es mangelt heute an Versuchen, die Geschichte beider deutscher Gesellschaften nach 1945 in einem Nahvergleich zu schreiben. Die wesentlichen Gefährdungen der Demokratie in der Bundesrepublik lassen sich ohne solche Versuche nicht erkennen.

Die Scheuklappen, die Alexander Walther erneut aufsetzt, sind doppelt kontraproduktiv. Sie verstärken ein wesentliches Element der Ablehnung der westlichen Demokratie in den fünf neuen Bundesländern und verringern die Fähigkeit, die Gefahren der Demokratie heute zu erkennen. Solange das fehlgeschlagene Experiment einer deutschen sozialistischen Gesellschaft nicht in all seinen Facetten ausgeleuchtet ist, werden die ganz verschiedenen Gefahren, die der Bundesrepublik heute drohen, nicht erkannt.

 

[1] Alexander Walther, Keine Erinnerung nirgends? Die Shoah und die DDR, in: Deutschland Archiv vom 15.7.2019 (http://m.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/293937/keine-erinnerung-nirgends-die-shoah-und-die-ddr).

[2] Vergleiche dazu: M. Rainer Lepsius, Das Erbe des Nationalsozialismus und die politische Kultur der Nachfolgestaaten des „Großdeutschen Reiches“, in: ders., Demokratie in Deutschland, Göttingen 1993, S. 229ff;  Werner Bergmann u. a. (Hg.), Schwieriges Erbe. Der Umgang mit Nationalsozialismus und Antisemitismus in Österreich, der DDR und der Bundesrepublik, Frankfurt 1995. Enrico Heitzer u. a. (Hg.), Nach Auschwitz: Schwieriges Erbe DDR, Frankfurt 2018.

[3] Norbert Frei, Christina Morina, Franka Maubach, Maik Tändler, Zur rechten Zeit. Wider die Rückkehr des Nationalismus, Berlin 2019.

[4] Sie zu einer Differenzierungen linker Positionen: Samuel Salzborn, Kampf der Ideen, Baden Baden 2015, S. 70ff.

[5] Zitiert nach: Alexander Walther, Keine Erinnerung nirgends? Die Shoah und die DDR, in: Deutschland Archiv vom 15.7.2019. (Leider hat der Artikel keine Seitenangaben).

[6] Siehe: Siegfried Theodor Arndt, Helmut Eschwege, Peter Honigmann, Lothar Mertens, Juden in der DDR – Geschichte – Probleme – Perspektiven. Arbeitsmaterialien zur Geistesgeschichte, Köln 1988; Helmut Eschwege, Konrad Kwiet, Selbstbehauptung und Widerstand. Deutsche Juden im Kampf um Existenz und Menschenwürde 1933–1945. Hamburg 1984.

[7] Wie das Ministerium für Staatssicherheit in diesen Prozess eingebunden war, findet man bei: Henry Leide, NS-Verbrecher und Staatssicherheit, Göttingen 2005.

[8] Dan Diner (Hg.), Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Frankfurt 1987; Dan Diner, Das Jahrhundert verstehen 1917 – 1989, München 1999; Dan Diner, Gegenläufige Gedächtnisse, Göttingen 2007.

[9] Zitiert nach: Alexander Walther, Keine Erinnerung nirgends? Die Shoah und die DDR, in: Deutschland Archiv vom 15.7.2019. (Leider hat der Artikel keine Seitenangaben).

[10] Zitiert nach: Ebenda.

[11] Jeffrey Herf, Divided Memory. Cambridge MA 1997. (Deutsch: Zweierlei Erinnerung 1998)

[12] Siehe zur ausführlichen Interpretation der Rede: Jeffrey Herf, Undeclared Wars with Israel, Cambridge University Press 2016, S. 55ff.

[13] Robert Salomon Wistrich, Antisemitism and Holocaust Inversion, in: Anthony McElligot, Jeffrey Herf (Ed.), Antisemitism before and since the Holocaust, Cham 2007, S. 37ff.

[14] Zitiert nach: Patrice Poutrus über den Ostdeutschen Opfermythos, in: belltower news vom 25. Juli 2019 (https://www.belltower.news/ostdeutsche-und-migranten-patrice-poutrus-ueber-den-ostdeutschen-opfermythos-88471/).

[15] Siehe: Enrico Heitzer, Systemgegnerschaft von rechts, in: ders. u. a. (Hrsg.), Nach Auschwitz: Schwieriges Erbe DDR, Frankfurt 2018, S. 64ff.

[16] Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel: Anetta Kahane, Anette Leo, Heike Radvan, Das hat’s bei uns nicht gegeben! Antisemitismus in der DDR, Berlin 2010; Harry Waibel, Die braune Saat, Stuttgart 2017. Ausgerechnet solche Ausnahmen werden von A. Walther in seinem Aufsatz nicht zitiert.

[17] Siehe dazu: Thomas Haury, Antisemitismus von links, Hamburg 2002.

[18] Zitiert nach: Alexander Walther, Keine Erinnerung nirgends? Die Shoah und die DDR, in: Deutschland Archiv vom 15.7.2019. (Leider hat der Artikel keine Seitenangaben).

[19] Siehe: M. Rainer Lepsius, Das Erbe des Nationalsozialismus und die politische Kultur der Nachfolgestaaten des „Großdeutschen Reiches“, in: ders., Demokratie in Deutschland, Göttingen 1993, S. 229ff.

[20] David Wyman (Ed.), The World reacts to the Holocaust, Baltimore 1996.

[21] Norbert Frei, Christina Morina, Franka Maubach, Maik Tändler, Zur rechten Zeit. Wider die Rückkehr des Nationalismus, Berlin 2019.

[22] Auch die Amadeu Antonio Stiftung ist mit ihrer Wanderausstellung „Germany after 1945“ bereits lange vor Norbert Frei und seinen Kollegen diesen Weg gegangen: Heike Radvan, Hagen Troschke (Ed.), Germany after 1945, Amadeu Antonio Stiftung 2012.

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