Die Geschichte klingt zwar schräger als mancher Groschenroman, doch sie birgt eine allzu reale Gefahr: 2017 behauptete ein anonymer Whistleblower namens „Q“ auf dem Imageboard 4chan (später 8chan), in Besitz von Insider-Information zu sein. Er lieferte Enthüllungen über einen geheimen Machtkampf um Donald Trump, über den sogenannten „Deep State“, über die Clintons und einen unterirdischen Pädophilenring – und mehr. Es war die Geburtsstunde von „QAnon“: Eine verschwörungsideologische Online-Bewegung, die schnell viral ging. Seitdem hinterlässt „Q“ kryptische Nachrichten in unregelmäßigen Abständen auf Internetforen, die eine indoktrinierte Community zu entschlüsseln versucht. Von Tippfehlern bis hin zur Uhrzeit des Posts kann dabei alles ein Hinweis sein. Worauf? Auf das wirre Evangelium nach „Q“, das ein übergreifendes Narrativ für diverse Klassiker des verschwörungsideologischen Kanons bietet.
In Zeiten von Covid-19 befindet sich „QAnon“ auf dem virtuellen Vormarsch: So hat die Verschwörungsideologie sich durchaus als anpassungsfähig angesichts der Pandemie erwiesen. Auch offline findet die Bewegung Unterstützung im Impfgegner-Milieu und unter Demonstrant*innen gegen die Lockdown-Maßnahmen zur Eindämmung des Virus: Auf sogenannten „Hygienedemos“ oder Trump-Kundgebungen gehört das Q zur Ausstattung.
Keine reine Lachnummer
Ein altbekanntes Phänomen: Gegen Verunsicherung und Verzweiflung suchen Menschen nach einfachen Erklärungen, die ihnen helfen, die Kontrolle zurückzugewinnen. Doch eine reine Lachnummer ist die Bewegung nicht. Denn hinter solchen absurden Erzählungen steckt ein grassierender Antisemitismus – und eine ernstzunehmende Gefahr.
Das zeigt der im Juni veröffentlichte Bericht „QAnon and the Growing Conspiracy Theory Trend on Social Media“ des Londoner Media Diversity Institute, das die Bewegung unter die Lupe nimmt. Der Bericht erschien im Rahmen des Projekts „Get The Trolls Out!“, das religiöse Diskriminierung und Intoleranz im Netz bekämpft. Zusammen mit Organisationen aus sechs europäischen Ländern, unter anderem die Amadeu Antonio Stiftung, die International League against Racism and Anti-Semitism (LICRA), das Center for Independent Journalism, das European Network on Religion and Belief und die European Union of Jewish Students, hat das Projekt den Auftritt und die Kommunikation der Bewegung in sozialen Netzwerken dokumentiert und ausgewertet.
Die Bilanz des Berichts ist alarmierend. Miro Dittrich, Leiter des „de:hate“-Projekts bei der Amadeu Antonio Stiftung, das rechtsextreme Online-Phänomene beobachtet, hat am Bericht mitgearbeitet. Er warnt: „Die Verbreitung der „QAnon“-Verschwörungsideologie stellt tatsächlich einen sehr gefährlichen und nicht zu unterschätzender Trend dar. Unter dem Deckmantel von kryptischen Codes werden antisemitische Inhalte im Netz verbreitet. Dass die Bewegung immer mehr Anhänger*innen findet – auch international – muss ein großer Grund zur Sorge sein.“
Q-Anon goes global
Trotz ihrer Anfänge in den USA und ihres starken inhaltlichen Fokus auf US-amerikanische Politik, konnte die Bewegung sich mittlerweile weltweit ausbreiten. Und obwohl die Mehrheit der Inhalte immer noch auf Englisch erscheinen, sind Posts inzwischen auch auf Niederländisch, Französisch, Deutsch, Griechisch und Ungarisch zu finden. Zu den größten nicht englischsprachigen Facebook-Plattformen, die „QAnon“-Inhalte teilen, gehören die französischsprachige Gruppe „17FR“ mit mehr als 27.500 Mitgliedern sowie die niederländischen Facebook-Seiten „Nederland wordt wakker“ mit knapp 18.000 Likes und „QAnon Nederland“ mit über 8.500 Likes.
Bekannte Persönlichkeiten spielen allerdings auch eine äußerst wichtige Rolle für die Verbreitung solcher Verschwörungsideologien. Das überrascht nicht sonderlich in einem Universum, das den Personenkult von „Q“ obsessiv pflegt. In Großbritannien ist der ehemalige Fußballer und Autor David Icke mit seinen knapp 350.000 Twitter-Follower von besonderer Bedeutung. Er trug wesentlich zur Verbreitung des Verschwörungsmythos bei, dass 5G-Masten für das Coronavirus verantwortlich seien. Icke ist zudem immer wieder wegen antisemitischen Äußerungen aufgefallen. In den Niederlanden hat der Fernsehmoderator Robert Jensen eine bedeutsame Reichweite. Seine Talk-Show „De Jensen Show“, in der er Fake News rund um die Coronavirus-Pandemie verbreitet, erreicht 45.000 bis 55.000 Zuschauer*innen. Auch seine Artikel werden in „QAnon“-nahestehenden Gruppen eifrig verteilt. Auf Twitter und Facebook hat er insgesamt knapp 100.000 Follower. In Deutschland gehören der Reichsbürger-nahe Soulsänger Xavier Naidoo, der vegane Kochbuchautor Attila Hildmann und der ehemalige RBB-Moderator Ken Jebsen zu den Anhänger*innen von „QAnon“. Auch die Rapper Kollegah und Sido haben „QAnon“-Inhalte oder -Mythen verbreitet.
Vereint im Antisemitismus
Was die internationalen Ableger allerdings vereint, ist eine antisemitische Weltanschauung, die Jüdinnen und Juden dämonisiert. Zu den Gründungsmythen der Bewegung gehört die wirre These, dass der israelische Geheimdienst Mossad US-amerikanische Unternehmen, Medien und Politik kontrolliere. Doch oft lauert auch ein latenter Antisemitismus hinter scheinbar harmlosen Erwähnungen von gewissen Personen, Begriffen und Narrativen in „QAnon“-Kreisen. Durch sogenanntes „Dog Whistling“, also die Verwendung von bestimmten Codes, die nur Eingeweihte verstehen, versuchen Anhänger*innen der Bewegung die Schuld für alles Übel in der Welt auf Jüdinnen und Juden zu schieben – wie beispielsweise die Coronavirus-Pandemie.
So tauchen in Videos und vermeintlichen „Dokus“ der Szene immer wieder die Familie Rothschild und der Philanthrop George Soros auf. Antisemitische Hetze gegen beide ist nichts Neues, doch die „QAnon“-Bewegung erklärt sie zu Gründern der Weltgesundheitsorganisation oder gar Pandemie-Profitjägern, die wahlweise die Patente für das angeblich künstlich hergestellte Coronavirus besitzen und/oder mit einem Impfstoff die Weltbevölkerung sterilisieren wollen. Zum Narrativ gehört auch, dass eine mächtige Gruppe von Prominenten, Banker*innen und Politiker*innen Kinder in unterirdischen Anlagen foltern und sexuell missbrauchen, um das fiktive Medikament „Adrenochrome“ herzustellen – ein Narrativ, das sich des tradierten Musters des Sexualantisemitismus und der Ritualmordlegende bedient.
Wölfe im Schafspelz
Auch Hashtags sind ein wichtiges Kommunikationsmittel der Bewegung – so lassen sich teils abstrakte Posts in sozialen Netzwerken dem Verschwörungsnarrativ „QAnon“ zuordnen. Der Hashtag #WWG1WGA, der für „Where we go one we go all“ steht, ist zum Standardkennzeichnen der Bewegung geworden. Doch auch spezifische Verschwörungserzählungen wie #Obamagate und #Pizzagate, sowie deutlich abstraktere Sprüche wie #GreatAwakening, #FollowTheWhiteRabbit und #FreeTheChildren verzieren die typischerweise mit vielen Hashtags markierten Posts. Vor allem die Hashtags #Globalist und #NWO (New World Order) deuten auf eine vermeintliche jüdische Weltübernahme. Auch Begriffe wie „Marionetten“ und „Puppen“ fungieren als antisemitische Chiffren.
Das stelle eine besondere Hürde dar, was die Bekämpfung solcher Narrative online betrifft, so der Bericht. Denn die Gemeinschaftsstandards der sozialen Netzwerke verbieten lediglich explizite und spezifische Formen von Antisemitismus. So können Anhänger*innen von „QAnon“ weiterhin antisemitische Ressentiments unter der Deckung abstrakter Formulierungen verbreiten. Das macht sie allerdings keineswegs harmlos.
Nürnberg 2.0
Dass aus Worten Taten folgen, zeigen die traurigen Ereignissen von Halle, Hanau, Christchurch und zahlreiche weitere Anschläge von menschenverachtenden Tätern, die sich online radikalisiert haben. Zwar ruft die „QAnon“-Bewegung selten explizit zu Gewalttaten auf, doch die Verschwörungsideologie schafft ein Klima der Dringlichkeit, die allzu leicht in Anschläge umkippen kann. Das zeigen zum Beispiel die vielen Online-Aufrufe zu einem zweiten Nürnberger Prozess gegen Soros, Gates, die Clintons und Merkel, die Mordphantasien verbergen.
Miro Dittrich ist besorgt: „Es ist ein epischer Kampf zwischen dem Guten – Trump – und dem Bösen – die pädophile, satanistische, Kinderblut trinkende Elite. Man imaginiert eine Transformation, was sie als „The Storm“ bezeichnen, wo alle Bösen verhaftet oder umgebracht werden. Da dies nie passieren wird, werden sich Menschen genötigt fühlen, es selbst in die Hand zu nehmen. In den USA ist dies bereits passiert.“
So stürmte am 4. Dezember 2016 der bewaffnete 28-jährige Edgar Welch in das Washingtoner Pizza-Restaurant „Comet Ping Pong“. Auf den Internetseiten 4chan und Reddit wurde zuvor behauptet, dass Hillary Clinton einen Pädophilenring aus dem Keller des Restaurants betreibe. Welch wollte die dort gefangen gehaltenen Kinder befreien. Dort fand er allerdings weder entführte Kinder, noch einen Keller.
Im März 2019 fielen auf dem New Yorker Staten Island Schüsse im Namen von Q. Der mutmaßliche Täter, Anthony Comello, erschoss den mutmaßlichen Mafiaboss Frank Cali. Comello war überzeugt, dass Cali Teil einer “Deep-State”-Verschwörung gegen Trump sei. Gerichtsdokumenten zufolge war Comello von der “QAnon”-Verschwörungsideologie besessen.
Gegen solche Verschwörungsideologien hilft Aufklärung: „QAnon“-Inhalte müssen erkannt, benannt und verbannt werden. Denn hinter szenigen Chiffren steckt bloß altbekannter Menschenhass. Mit tödlichen Folgen.