Ende November veranstaltete die Amadeu Antonio Stiftung im Nachklang der Landtagswahlen in drei ostdeutschen Bundesländern ein Vernetzungstreffen der ostdeutschen Zivilgesellschaft. Dabei stand der Umgang mit rechtsextremer Hegemonie und das Organisieren von Solidarität im Mittelpunkt des Austausches. BTN sprach im Anschluss mit zwei Organisatoren. Enrico Glaser und Jan Riebe meinen, wir müssen uns jetzt erst einmal darauf verständigen, bestehende Räume und Strukturen zu erhalten. Beide arbeiten für die Amadeu Antonio Stiftung im Kompetenznetzwerk Rechtsextremismus. Dort ist es ihre Aufgabe, Bedarfe, Forderungen und Wissen der Zivilgesellschaft zu transferieren – in die Politik und in die Öffentlichkeit. Ein Interview zur Bestandsaufnahme der demokratischen Zivilgesellschaft.
Belltower.News: Wie steht es derzeit um die Zivilgesellschaft?
Jan Riebe: Die Zivilgesellschaft ist ausgelaugt. Das ist auch kein Wunder, schließlich erleben wir seit knapp zehn Jahren eine stetige Zunahme von Rechtsextremismus. Menschen, die seit langem aktiv sind, sind erschöpft. Zum einen sind sie mit Bedrohungen konfrontiert. Zudem werden ihnen von Behörden oftmals Steine in den Weg gelegt. All das führt dazu, dass sich Aktive zurückziehen, zum Teil sogar aus ihren Orten wegziehen. Wir haben jetzt weniger Ansprechpartner in der Zivilgesellschaft als noch vor ein paar Jahren.
Seit wann beobachtet ihr diese Erschöpfungsanzeichen?
Enrico Glaser: Das ist ein schleichender Prozess. Wobei es die Belastung ja immer schon gab. Schließlich existiert in vielen ostdeutschen Regionen schon immer eine starke extreme Rechte. Vor gut zehn Jahren kam dann das Aufkommen der rechten Straßenproteste und des Rechtspopulismus hinzu. Über die Zeit hinweg gab es immer viele Menschen, die das als Problem gesehen haben und dagegen protestierten. Es gab auch gemeinsame politische Erfolge. Das ist mit diesem Jahr irgendwie zum Ende gekommen. Zumindest ist das der Eindruck vieler aus der ostdeutschen Zivilgesellschaft. Die Kommunalwahlen im Frühjahr und die Landtagswahlen in drei ostdeutschen Ländern haben die Landgewinne und die Normalisierung rechter Ideologie noch mal manifestiert und markieren eine Zäsur.
Es wird wohl künftig weniger darum gehen, Einflussmöglichkeiten auszubauen. Jetzt geht es darum, die Strukturen und Erfolge zu verteidigen, zu sichern und zu schützen.
Hätte das Demokratiefördergesetz ein positiver Ausblick sein können, den die Zivilgesellschaft bitter nötig hat?
JR: Das Demokratiefördergesetz hätte die Zivilgesellschaft noch mal ganz anders abgesichert. Es braucht aber viel mehr als nur das. Und es ist falsch, sich nur darauf zu fokussieren. Eine Koalition, die sich als Fortschrittskoalition verstand, hätte das Gesetz mit Leichtigkeit auf den Weg bringen können. Aber es scheint den Parteien nicht wichtig genug gewesen zu sein. Vielleicht hat die Zivilgesellschaft es einfach nicht klar genug gemacht, wie schlimm es vor Ort zum Teil ist.
Du sagst, dass die Zivilgesellschaft vielleicht nicht laut genug um Hilfe geschrien hat. Aber vielleicht hat auch einfach niemand zugehört. Wie laut will man denn noch schreien, frage ich mich? Letztendlich wird ja alles immer auf die Zivilgesellschaft geschoben, die es dann schon richten soll.
JR: Wir als Zivilgesellschaft müssen uns fragen, ob wir uns strategisch nicht anders aufstellen müssen. Sind Presseerklärungen und öffentliche Briefe wirklich das beste Mittel? Vielleicht merken wir bei einer Rekapitulation, dass einige Parteien gar nicht so sehr auf unserer Seite sind, wie sie immer behaupten. Und vielleicht müssen wir dann unangenehmer werden.
Was könnte die Zivilgesellschaft in Zukunft besser machen?
JR: Anfang des Jahres fanden die größten zivilgesellschaftlichen Demonstrationen statt, die es in der Geschichte der Bundesrepublik gegeben hat. Sicherlich hätte man die mit konkreten Forderungen unterlegen müssen. Vielleicht wäre ein stärkerer Austausch zwischen ostdeutschen und westdeutschen Akteur*innen fruchtbarer gewesen. Im Westen ist die Zivilgesellschaft noch nicht so bedroht wie im Osten, aber es deutet viel darauf hin, dass die rechtsextremen Landgewinne bald ähnlich aussehen können wie derzeit im Osten. Das wollen viele im Westen noch nicht wahrhaben.
EG: Das Demokratiefördergesetz wäre ein wichtiger Baustein gewesen. Aber es gibt weitere Bereiche, die man hätte angehen müssen, bevor sich die Kräfteverhältnisse so darstellen, wie es jetzt in einigen ostdeutschen Ländern und in vielen Kommunen der Fall ist. Demokratiearbeit und zivilgesellschaftliches Engagement muss abgesichert werden, über Parteigrenzen hinweg. Gerade auf kommunaler Ebene hat es bei den Kommunalwahlen im Frühjahr diese Erdrutschsiege der AfD gegeben. Dort würde kein Demokratiegesetz helfen. Aber dort hätte man sich zum Beispiel über die Zusammensetzung der Begleitausschüsse von Partnerschaften für Demokratie Gedanken machen müssen.
JR: Viele Partnerschaften für Demokratie haben sich bereits demokratisch abgesichert, sodass jetzt keine rechtsextreme Partei im Begleitausschuss sitzt. Kommunen, die das nicht getan haben oder die gesagt haben ‚Uns ist aber wichtiger, dass die Parteien drin sitzen’, haben nun teilweise Rechtsextreme im Gremium.
Erklärt doch bitte mal Partnerschaften für Demokratie.
JR: Städte, Gemeinden und Landkreise können im Rahmen von lokalen Partnerschaften für Demokratie Handlungskonzepte zur Förderung von Demokratie und Vielfalt entwickeln und umsetzen. Zur Durchführung konkreter Vorhaben stellt das Bundesprogramm „Demokratie leben!“ den geförderten Kommunen Gelder für einen Aktions- und Initiativfonds zur Verfügung. Über die Vergabe der Gelder entscheidet im Wesentlichen ein Begleitausschuss. Die Besetzung dieser Begleitausschüsse ist von Kommune zu Kommune unterschiedlich geregelt. Neben der kommunalen Verwaltung werden diese oft mehrheitlich mit Vertreter*innen der demokratischen Zivilgesellschaft besetzt. Vielfach sitzen aber auch Vertreter*innen der im Kommunalparlament vertretenen Parteien im Begleitausschuss, um über die Vergabe der Gelder zu entscheiden. Das kann dazu führen, dass Rechtsextreme über Demokratiegelder entscheiden. Das ist fatal.
EG: Die Landgewinne der extremen Rechten, die wir an den Wahlen ablesen können, machen das Problem deutlich: Es findet eine Normalisierung auf allen Ebenen statt. Es sind jetzt nicht nur Projekte bedroht, die Arbeit gegen Rechtsextremismus machen, sondern auch Regelstrukturen wie Sozialarbeit, die sich antifaschistisch positionieren. Auch dort erleben wir zunehmend, dass die AfD direkt Druck auf Träger ausübt. Der Vorwurf lautet dann meist, sie würden sich nicht politisch neutral verhalten.
Was können Kommunen oder Bundesländer im Westen jetzt daraus lernen, um Situationen wie in Ostdeutschland zu verhindern?
EG: Um beim Beispiel zu bleiben: Gemeinden, in denen die AfD noch nicht so stark verankert ist, müssen sich mit diesem instrumentellen Gebrauch von Neutralitätsforderungen auseinandersetzen und diese zurückweisen. Demokratie lebt vom Streit und der Auseinandersetzung – jedoch sollten im demokratischen Diskurs antidemokratische Positionen nicht „neutral“ unkommentiert bleiben oder normalisiert werden. Und es kann nicht sein, dass dieses Einfallstor von demokratischen Parteien mit geöffnet wird, wenn es gegen „missliebige“ antifaschistische und demokratisch positionierte Träger geht. Die Kommunen müssen die Mittelvergabe und den politischen Umgang mit den Trägern auf sichere Beine stellen. Die Träger selbst müssen prüfen, ob ihre Gemeinnützigkeit abgesichert ist. Jetzt ist die Zeit, sich abzusichern.
JR: Das Selbstverständnis, ‚Das ist der Osten, das passiert bei uns im Westen nicht’, muss abgelegt werden. Es muss heißen: ‚Wir haben noch ein bisschen Zeit, bis die Verhältnisse ähnlich sind wie im Osten, nutzen wir diese Jahre’. Warum nicht Städtepartnerschaften zwischen Ost und West nutzen, um die Zivilgesellschaft zu vernetzen, um besser voneinander zu lernen. Generell muss sich auf kommunaler Ebene die Haltung in Ost und West ändern. Wie wäre es mit implementierten kommunalen Leitbildern, basierend auf einem demokratischen Selbstverständnis, das auch Minderheitenposition mit einschließt. Und wenn man nach Italien, Frankreich, Niederlande schaut, dann wäre es nur arrogant zu glauben, das passiert bei uns, in den westdeutschen Bundesländern, nicht. Wir wissen doch, es kann passieren.
Wie kann eine Neuausrichtung der Zivilgesellschaft aussehen?
EG: Fast flächendeckend gibt es im Osten noch Orte und Strukturen, die gewissermaßen demokratische Kerne und Handlungsräume darstellen. Das sind bspw. soziokulturelle oder Jugendzentren und um die wird es künftig immer stärker gehen. Die müssen wir schützen und sichern – mit vereinten Kräften.
JR: Wir müssen uns zukünftig breiter aufstellen. In vielen Regionen sind migrantische Selbstorganisationen entstanden, die oft nicht Teil dieser anti-rechts Bündnisse sind. Vielleicht findet man in der Freiwilligen Feuerwehr oder im Kleingartenverein auch noch Verbündete. Derzeit findet an vielen Orten durch Geldkürzungen Sozialabbau statt. Da sollte sich jetzt auch die Zivilgesellschaft gegen Rechtsextremismus engagieren. Zum einen betrifft sie Kürzungen oft als Erstes. Zum anderen profitieren Rechtsextreme, wenn soziale Einrichtungen geschlossen werden. Außerdem können hier neue Bündnispartner gefunden werden. Wir müssen selbstbewusster werden. Selbstbewusster um Räume kämpfen und nicht jede Kröte schlucken, die von den demokratischen Parteien kommt.
Die extreme Rechte greift in ihrem Kulturkampf ja auch ganz gezielt linke Rückzugsräume an. Wie soll die Gesellschaft darauf reagieren?
JR: Die Rechten haben die Wichtigkeit dieser Orte längst begriffen und deshalb greifen sie die Räume an. Aber für manche in der Politik sind sie nur Kostenfaktoren. Aber in Wirklichkeit sind sie ein Pfeiler der Demokratie und deshalb total wichtig.
EG: Gleichzeitig muss man sich klarmachen, dass dieser rechte Kulturkampf ja allumfassend ist. Derzeit hat er Akteure im Visier, die engagiert sind, gegen Rechtsextremismus. Letztendlich geht es der extremen Rechten aber um einen kompletten Um- und Abbau von demokratischen Strukturen. Besonders im Kulturbereich ist es derzeit recht offensichtlich, dass es lokal zunächst um alternative Jugendclubs und Kulturzentren geht. Aber perspektivisch geht es um den Umbau der kompletten Theaterlandschaft. Das muss man klarer benennen. Insofern ist die ganze Anstrengung der Aufklärung und der Sensibilisierung noch lange nicht abgeschlossen.
Was ist der Unterschied zwischen der Situation heute und den Baseballschläger Jahren in den 1990ern?
JR: Damals gab es fast keine Zivilgesellschaft. Heute ist sie ziemlich gut vernetzt. Mir kommt es so vor, als sei der extremen Rechten viel bewusster, wie viel demokratische Zivilgesellschaft es noch gibt, als dass die das selber sieht, weil sie seit Jahren mit Rückzugskämpfen beschäftigt ist. In manchen Regionen haben wir seit 20 Jahren mit rechter, rechtsextremer Hegemonie zu tun und trotzdem gibt es dort immer noch Zivilgesellschaft. Das müssen wir uns auch mal bewusst vor Augen führen.
EG: Es gibt jetzt diese breite Akteurslandschaft. Gleichzeitig ist die Gefahr der rechtsextremen Hegemonie derzeit so groß wie noch nie. Schon zur Zeit der rechtsextremen Gewalt der 90er Jahre kamen Rassismus und Menschenfeindlichkeit aus der Mitte der Gesellschaft. Organisiert wurde der Rechtsextremismus in neonazistischen Kleinstparteien. Heute bündelt sich der Hass in einer Sammlungspartei, die in vielen Regionen ja schon ein Drittel der Stimmen einsammelt. Die Herausforderungen sind damit größer. Aber wie damals geht es darum, die Brandmauer aufrecht zu halten.
Was sind die Herausforderungen in den kommenden Jahren?
JR: Wir müssen uns als Zivilgesellschaft vielleicht in manchen Punkten strategisch neu aufstellen und auch Revue passieren lassen, was gut gelaufen ist und was nicht. Vergessen wir nicht: Die Zivilgesellschaft hat einen langen Atem. Wir sollten an dem Glauben festhalten, dass die Demokratie nicht nur nicht so einfach verschwinden wird, sondern dass sie auch wieder gefestigt, gestärkt und verbessert werden kann.
EG: Jetzt geht es um die Sicherung der Ausgangsbedingungen der Arbeit für die nächsten Jahre. Und das heißt erstmal erhalten und verteidigen. Sich Fragen zu stellen: Welche eigenen Inhalte haben wir und mit wem teilen wir die? Wie gehen wir damit um, wenn wir demokratische Parteien mit der AfD rassistisch konkurrieren? Welche Abhängigkeiten sind wir bereit, auch finanziell, einzugehen? Wo gibt es für uns rote Linien? Für diese strategischen Diskussionen braucht man Räume und solidarisches Streiten. Dazu diente auch unser Austauschtreffen der Zivilgesellschaft Ende November in Leipzig, wo viele dieser genannten Ansätze besprochen wurden.
Wo liegen die Grenzen dessen, was die Zivilgesellschaft alles leisten kann?
JR: Wir dürfen den Staat nie aus der Verantwortung nehmen. Die Würde des Menschen ist unantastbar, das Grundrecht durchzusetzen ist eine Staatsaufgabe. Wir als Zivilgesellschaft müssen den Staat immer daran erinnern. Natürlich hat der Staat noch viele andere Aufgaben. Die Zivilgesellschaft ist aus gutem Grund manchmal staatsfern und manchmal auch staatskritisch. Vielleicht haben wir den Staat in der Vergangenheit aber zu oft aus der Verantwortung herauskommen lassen, einfach nur aus Dankbarkeit, dass man Gelder bekommt.
Wir hatten im Frühjahr die größten Proteste der Geschichte der Bundesrepublik. Was ist daraus gefolgt? Nichts. Wir hatten davor relativ kleine Proteste von Bauern. Was ist gefolgt? Wenige Wochen später gab es ein neues Gesetz. Und so funktioniert Politik. Einerseits können wir es beklagen, aber andererseits müssen wir daraus Lehren ziehen. Lieber Staat, wir lassen dich jetzt nicht einfach so davonkommen, dass ihr die Zivilgesellschaft immer lobt, aber nicht ins Handeln kommt. Große Teile der Bevölkerung scheinen Angst vor einem Erstarken von Rechtsextremismus zu haben. Als Abgeordneter sollte man sich da doch fragen, was man dagegen unternehmen, statt vor die Kameras zu treten und zu loben, dass so viele Menschen demonstrieren. Die Aufgabe der Politikerinnen und Politiker ist es nicht zu demonstrieren, ihr habt ein anderes, viel mächtigeres Werkzeug zur Verfügung.
EG: Die AfD will ganz bewusst die Demokratie untergraben und abwickeln. Aufgabe der demokratischen Parteien ist es, sich endlich dazu zu verhalten, auch mit Blick auf die Prüfung eines AfD-Verbots.