Es gab eine Sturmwarnung am Abend des 26. August 2020 in Duisburg. Dem Wind trotzend versammelte sich eine Gruppe von Menschen vor einem Wohnhaus in der Wanheimer Straße 301. An der Fassade des Hauses platzierten sie Fotos, die die Porträts von sieben Menschen zeigen – Döndü Satır, Zeliha Turhan, Rasim Turhan, Songül Satır, Ümit Satır, Çiğdem Satır und Tarık Turhan. An diesem Mittwoch ist es 36 Jahre her, dass diese sieben Menschen ihr Leben bei einem Brandanschlag auf die Wanheimer Straße 301 verloren. In der Nacht vom 26. auf den 27. August 1984 legte eine Brandstifterin Feuer in dem Wohnhaus. Schnell brannte es lichterloh. Familie Satır lebte zu diesem Zeitpunkt im zweiten Stock. Entgegen der Warnung ihrer Mutter sprangen Rukiye und Aynur Satır aus dem Fenster auf die Straße. Sie überlebten, während ihre Mutter, vier ihrer Geschwister, ihr Neffe und ihr Schwager im Feuer starben. Viele weitere Bewohner*innen des Hauses wurden schwer verletzt.
Rassistische Gesinnung nicht näher untersucht
Obwohl das Haus in der Wanheimer Straße 301 im Jahr 1984 ausschließlich von Menschen aus sogenannten „Gastarbeiter*innenfamilien‘‘ bewohnt wurde und der Tatort laut Medienberichten und Zeugenaussagen mit Hakenkreuzen beschmiert war, wurde ein rassistisches oder rechtsextremes Motiv von der Polizei und der Stadt Duisburg bereits wenige Tage nach der Tat ausgeschlossen. „Niemand hat zugehört, niemand hat über Rassismus gesprochen.“, erinnerte sich Rukyie Satır. Stattdessen vermuteten die Behörden einen ,,türkisch-jugoslawischen Bandenkrieg‘‘ als Hintergrund für den Anschlag. Noch im Krankenhaus befragte die Polizei die Überlebenden, ob sie mit anderen Familien Streit hatten. So trieben die Ermittlungsbehörden eine perfide Täter-Opfer-Umkehr voran, in der die Perspektiven der Überlebenden und Angehörigen unsichtbar gemacht wurden.
Erst 10 Jahre nach dem Anschlag wurde die tatsächliche Täterin gefasst. Diese gestand die Tat im Zuge von Ermittlungen zu einem weiteren Brandanschlag, den sie auf eine Flüchtlingsunterkunft begangen hatte. Eine rassistische Gesinnung wurde nicht näher untersucht. Stattdessen wurde die Täterin mit der Diagnose ,,Pyromanie‘‘ in eine Psychiatrie eingewiesen und „Duisburg 1984″ aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht. „Niemand hier erinnert sich. Nicht die jungen Leute, aber auch nicht die ältere Generation.“, erzählte ein Jugendlicher aus dem Stadtteil Wanheimerort – bis 2016 die Soziologin Ceren Türkmen im Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland (DOMiD) zufällig auf den Brandanschlag stieß.
Exemplarisch für die Verdrängung rechtsextrem motivierter Gewaltverbrechen
Es folgten lange Recherchen in Stadtarchiven sowie in Archiven der Staatsanwaltschaft. Mit dem Ziel, den historischen, politischen und rechtlichen Kontext der Tat neu zu beleuchten und ein kollektives Gedenken zu ermöglichen, gründete sie mit Wissenschaftler*innen, Künstler*innen, Aktivist*innen und Nachbar*innen die Initiative „Duisburg 1984“. Zusammen mit der Familie Satır erhebt die Initiative eine gesellschaftliche Anklage. Eine Anklage, die das Gerichtsurteil und die Ermittlungen in Abrede stellt und die Entpolitisierung der Tat verurteilt. Und eine Anklage, die die rassistische Grundstimmung der 80er Jahre thematisiert. Denn der Fall Duisburg 1984 steht exemplarisch für die Verdrängung und Relativierung rechtsextrem motivierter Gewaltverbrechen um 1980. Er verdeutlicht, dass solche Taten bei weitem kein ausschließlich ostdeutsches Problem sind. Bereits seit Ende der 70er/Anfang der 80er-Jahre wurde in der Bundesrepublik mit einer aggressiven ,,Rückkehrpolitik‘‘ Hass auf Migrant*innen und Angst vor vermeintlicher ,,Überfremdung‘‘ geschürt.
Im August 2020 sitzt der Schmerz des Verlusts und die Enttäuschung über die Ignoranz der deutschen Behörden bei der Familie noch immer tief. „Ich konnte sie nie vergessen, die Nacht. Wer wird die Rechnung dafür tragen? Wir wurden wie Stiefkinder alleine gelassen. Ich möchte den Fall neu aufgerollt sehen.“ forderte Aynur Satır bei der Gedenkveranstaltung in der Wanheimer Straße 301 am 26. August 2020. Eine längere Ansprache traute sich an diesem Tag keine der Schwestern zu, heute steht die Trauer um die Todesopfer im Vordergrund. Stattdessen sprachen zahlreiche migrantische Initiativen ihre Unterstützung und Solidarität aus. Ibrahim Arslan, der als 7-Jähriger bei dem rassistischen Brandanschlag in Mölln knapp überlebte, meldete sich via Telefon. Er kennt den Schmerz der Familie, er hat beim Brandanschlag seine Großmutter, seine Schwester und seine Cousine verloren. Das Versagen staatlicher Strukturen macht diese Art der Solidarität und Selbstorganisation überlebensnotwendig.
36 Jahre und unendlich viel Kraft der Angehörigen, Überlebenden und Betroffenen hat es gebraucht, bis im Januar erste Gespräche mit der Stadt Duisburg über ein würdevolles Gedenken und Aufklärung zustande kamen. Viel zu spät, um dem Verlust der Familie gerecht zu werden. Aber höchste Zeit, einen Schritt zur grundlegenden Veränderung zu tun.
Dieser Beitrag ist ursprünglich auf dem Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ erschienen (2002-2022).