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Ein lang gezogener grauer Plattenbau mit Balkonen. Die Fenster sind zerstört. Anwohner:innen stehen vor dem Gebäude und johlen. Aus einem zerbrochenen Fenster schaut ein Mosambikaner fassungslos auf die Menge. Im September 1991 gingen diese Bilder um die Welt. Es war die hässliche Fratze des wiedervereinigten rassistischen Deutschlands.
Wie alles begann
Alles begann mit einem Angriff von mindestens acht jungen Neonazis auf eine Gruppe vietnamesischer Händler:innen auf dem Marktplatz des sächsischen Hoyerswerda, am Dienstag den 17. September 1991. Die Vietnamesen flohen schließlich in ein Wohnheim für Vertragsarbeiter:innen in der Albert-Schweitzer-Straße, mitten im riesigen Plattenbauviertel WK X der damals noch über 50.000 Einwohner:innen großen Stadt. Etwa 120 Vertragsarbeiter:innen aus Mosambik und Vietnam waren hier untergebracht.
Sie waren mehrheitlich Mitte der 1980er Jahre in die DDR gekommen, hatten Ausbildungen in Industrieberufen gemacht und wurden in den diversen Werkstätten sowie im Braunkohletagebaubetrieb VEB Schwarze Pumpe eingesetzt. Die Braunkohleindustrie, Hauptarbeitgeber der Region, entließ im Jahr 1991 Tausende. Die Arbeitsverträge der Vertragsarbeiter:innen mit der Nachfolgegesellschaft LAUBAG AG wurden zum Ende des Jahres 1991 gekündigt, genau wie die Verträge vieler Menschen aus Hoyerswerda, die in der Schwarzen Pumpe arbeiteten.
Die Neonazis folgten den vietnamesischen Händler:innen zum Wohnheim. Innerhalb der nächsten Stunden kamen stetig mehr Rechtsextreme und „normale Bürger:innen“ dazu. Sie begannen das Haus mit Steinen zu bewerfen und rechtsextreme Parolen zu grölen. Immer mehr Menschen versammelten sich vor dem Haus. Schließlich erschien auch die Polizei. Die forderte Gaffer:innen und Gewalttäter:innen auf, den Ort zu verlassen – vergeblich.
Am nächsten Tag griff der wachsende rechte Mob das Haus schließlich sogar mit Molotow-Cocktails an. Die Bewohner:innen fürchteten um ihr Leben, denn eine völlig überforderte Polizei ließ die Angreifer:innen weitestgehend unbehelligt – während Anwohner:innen entweder teilnahmslos zusahen, wie sämtliche Fenster des Heims eingeworfen wurden oder Beifall klatschten.
Ermutigt „durch biedere Einwohner“
Der spätere Innenminister Sachsens (1991- 1995), Heinz Eggert, erklärt die Eskalation später in einer Dokumentation damit, dass die radikalen Jugendlichen „durch biedere Einwohner Hoyerswerda“ ermutigt wurden. Zwei Tage und Nächte belagerte der rechte Mob aus hunderten Menschen das Haus der Vertragsarbeiter:innen. Die Menschen im Haus erkannten teilweise ihr Kolleg:innen unter den Angreifer:innen. Manuel Nhacutou aus Mosambik, der zum damaligen Zeitpunkt in dem Gebäude wohnte, schilderte die Ereignisse später gegenüber dem AIB: „Die Nachbarn ermutigten die Skinheads, klatschten in die Hände. Viele von denen, die ich vor dem Haus gesehen habe, waren keine Skins, sondern Nachbarn und Kollegen. Viele habe ich erkannt, das war schmerzlich.“
Schließlich kapitulierte der Rechtsstaat: 60 Personen aus dem Haus wurden am 20. September unter Polizeibegleitung mit Bussen aus Hoyerswerda gebracht. Fast alle Vertragsarbeiter:innen wurden direkt nach Frankfurt am Main oder Berlin transportiert und von dort aus abgeschoben.
Der Mob zieht weiter zum Flüchtlingsheim
Doch damit waren die Ausschreitungen noch lange nicht zu Ende. Sichtlich angestachelt, von ihrem Sieg über die Staatsgewalt und dass die Migrant:innen auf Grund ihrer Gewalt-Eskapaden nun tatsächlich Hoyerswerda verlassen mussten, verlagerte sich der rassistische Mob am Abend des 20. Septembers 1991 zur nahegelegenen Thomas-Müntzer-Straße, dort befand sich das Asylbewerberheim. Hier waren etwa 240 Geflüchtete unter anderem aus Vietnam, Rumänien, Ghana, dem Iran und Bangladesch untergebracht. Schon in den Wochen zuvor schmissen Neonazis die Fensterscheiben des Hauses ein und bei den wenigen Ausflügen in die Stadt wurden die Bewohner:innen von Neonazigruppen angegriffen.
Rechtsextreme Skinheads und angeblich „normale Bürger:innen“ bewarfen das Gebäude mit Steinen und Molotow-Cocktails. Sie zündeten ein Feuer um das Haus. Der Mob skandierte rassistische und neonazistische Parolen wie „Ausländer raus“ und „Deutschland den Deutschen“. Schließlich griffen Neonazis einzelne Bewohner:innen der Einrichtung auch körperlich an. Die Geflüchteten waren quasi in ihrem Haus eingeschlossen. Sie waren von rund 1.500 Menschen umzingelt.
„Alle Fenster im Wohnheim waren kaputt. Wir sind dann alle aufs Dach hoch, damit niemand verletzt wird“, berichtet Emmanuel Adu Agyeman, ein ghanaischer Geflüchteter der zum damaligen Zeitpunkt in dem Gebäude wohnte, dem AIB 2011 in einem Interview. Die Angst, der die Bewohner:innen des Hauses ausgesetzt waren, mag man sich kaum vorstellen.
Die Polizei kapituliert vor dem Mob
Wieder ist die Polizei vollkommen überfordert von der Situation. Sie ist nicht in der Lage die Geflüchteten zu schützen, sie können sich kaum selber vor dem Mob schützen. Drei Polizeifahrzeuge gehen in Flammen auf, zahlreiche Polizist:innen werden verletzt. Schließlich muss der Rechtsstaat auch hier wieder vor den rassistischen Gewalttäter:innen kapitulieren: „Es besteht einheitliche Auffassung dazu, dass eine endgültige Problemlösung nur durch Ausreise der Ausländer geschaffen werden kann,“ so die Lageeinschätzung des Landratsamts Hoyerswerda am 20. September 1991 um 12 Uhr mittags. Am Morgen des 21. September werden die 240 Bewohner:innen des Hauses unter SEK-Begleitung mit Bussen abgefahren — unter johlendem Beifall. Doch die Nazis und Zuschauer:innen haben noch nicht genug. Sie bewerfen die abfahrenden Busse mit Steinen und Flaschen, dabei wird der 21-jährige Tam Le Thanh aus Vietnam durch eine zerberstende Fensterscheibe schwer verletzt.
Neonazis feiern Hoyerswerda als „ausländerfreie Stadt“
Nach der Kapitulation der Sicherheitsbehörden vor den rassistischen Gewalttäter:innen und den zahlreichen Schaulustigen feierten Neonazis Hoyerswerda als bundesweit erste „ausländerfreie Stadt“. Die fünf Tage andauernden Angriffe gelten als das erste rassistische Pogrom in Deutschland nach 1945.
Befeuert von der Ohnmacht des Staats angemessen auf diese rassistischen Ausschreitungen zu reagieren, war Hoyerswerda der Startschuss und Legitimation für Neonazis und Rassist:innen zahlreiche weitere Angriffe auf Migrant:innen zu verüben. Auf das Hoyerswerda-Pogrom folgten Gewalttaten im gesamten Land. Noch während am 19. September 1991 vor dem Vertragsarbeiterwohnheim in Hoyerswerda überforderte Polizist:innen zusahen, wie eine Fensterscheibe nach der anderen eingeworfen wurde, verbrannte der 27-jährige ghanaische Flüchtling Samuel Yeboah bei einem Brandanschlag auf ein Flüchtlingswohnheim im saarländischen Saarlouis. Alleine am folgenden Wochenende kam es zu 78 rassistischen Überfällen im Bundesgebiet. Es folgten unter anderem die Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen vom 22. und 26. August 1992 und den Mordanschlägen von Mölln vom 23. November 1992 und Solingen vom 29. Mai 1993.
Nur vier Festnahmen
Das Ausmaß dieses blanken Hasses erschütterte Deutschland. Dabei war Neonazi-Gewalt kein neues Phänomen, auch in der DDR nicht. Zwar gab es in der DDR offiziell keine Rechtsextremen, immerhin war der Staat per Deklaration antifaschistisch, doch Neonazi-Gewalt gab es hier auch. Neu war an Hoyerswerda die breite Zustimmung zu den Pogromen aus der angeblich „normalen” Bevölkerung. Aufgewiegelt in einem Rausch des Hasses feuerten sie die Gewalttäter:innen von damals an, stimmten in die nationalistischen Chöre mit ein und wurden schließlich selbst zu Gewalttäter:innen. Während der Ausschreitungen kam es zu 82 vorläufigen Festnahmen, allerdings wurden von den Verdächtigen nur vier Personen verurteilt.