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Rechte Szene Hessen: Vier-Säulen-Modelle und konservative Schnittmengen

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Aktive NPD-Strukturen in Niedersachsen; Foto (Archiv): Holger Kulick

Wie sieht Rechtsextremismus in Hessen derzeit aus?

Die hessische Neonazi-Szene hat sich in den letzten Jahren qualitativ verändert. Zum Aufmarsch am 7. Juli in Frankfurt am Main riefen NPD und Freie Nationalisten Rhein-Main auf. Der Aufmarsch wurde von Marcel Wöll angemeldet, einer zentralen Figur der Szene. Marcel Wöll ist einerseits Landes-Vorsitzender der NPD, er sitzt für die NPD im Wetterauer Kreistag und in der Butzbacher Stadtverordnetenversammlung. Andererseits steht er mit an der Spitze der Freien Nationalisten Rhein-Main. Deren Mitglieder waren nach und nach in die NPD eingetreten und heute wird der Landesverband durch die Freien Nationalisten stark bestimmt. Dies ermöglicht nun je nach strategischem Ziel völlig unterschiedliches Auftreten und breite Aktivitäten zur Anwerbung insbesondere von Jugendlichen. Allerdings bietet dies zweigleisige Vorgehen – nicht sauber durchgehalten – auch Raum für verbale oder handgreifliche Entgleisungen an exponierter Stelle, wie sie derzeit etwa Marcel Wöll vorgeworfen werden.

Die nordhessische Neonaziszene orientiert sich zurzeit nach Nord – und Westdeutschland. Auch hier findet sich eine Vernetzung der Kameradschaftsszene mit dem Spektrum der Jungen Nationaldemokraten. Die JN-Strukturen befinden sich hier im Aufbau.

Wie zeigt er sich hauptsächlich? Gibt es Schwerpunkt-Regionen?

Überall in Hessen finden sich Kameradschaftsstrukturen, die zum Teil sehr aktiv sind und dauerhaft agieren, zum Teil haben sie sich offiziell aufgelöst, agieren aber weiter, aufgegangen in NPD- oder Aktionsbüro-Strukturen. Wichtig sind in Südhessen die genannten Freien Nationalisten Rhein-Main oder die Berserker aus dem Vogelsberg. Zum Teil sind Gruppierungen aber auch wenig oder vor allem punktuell auf Aufmärschen aktiv und basieren auf wenigen Personen. Verbindungen über die Landesgrenzen hinaus, wie etwa beim Aktionsbüro Rhein-Neckar, ergänzen das Bild.

Mitglieder der rechten Szene zeigen sich häufig auf örtlichen Festen wie etwa auf der Dorfkirmes. Dort gibt es nicht selten Schlägereien. Die Musikszene spielt eine wichtige Rolle. Ein Beispiel für die regen Aktivitäten im Bereich der rechten Musik ist die rechtsextreme Band HKL (Hauptkampflinie). Der Sänger der Band wohnt im nordhessischen Schwalm-Eder-Kreis. Dort finden regelmäßig als Geburtstagsfeiern oder ähnliches getarnte rechtsextreme Konzerte statt. Eine z.T. sehr aktive Internetpräsenz ist zu erwähnen, die auch der Anwerbung dient. Im Sportbereich sind die Fußball-Ligen betroffen. So wird von einem Vorfall berichtet, bei dem ein Torwart mit der Rückennummer 88 auftrat. Die Folgen dieser strukturellen Veränderungen und Anwerbeaktivitäten zeigen sich in unserer täglichen Arbeit. So berichten immer mehr Jugendliche über Berührungspunkte mit rechtem Gedankengut oder Gruppierungen. Eine rechte (nicht nur Jugend)-Szene hat sich in vielen Orten entwickeln können.

Nicht nur in den ländlichen Regionen finden sich diese Aktivitäten. So wurden etwa in Frankfurt alternative Jugendliche von Neonazis überfallen. In Kassel wurde eine Schülervertreterin bedroht, die sich gegen Rechtsextremismus engagiert. Hier ist auch inzwischen damit zu rechnen, dass dort, wo Veranstaltungen zum Thema Rechtsextremismus stattfinden, auch Personen aus dem Spektrum auftauchen und sich selbstbewusst in Diskussionen einmischen.

Schwerpunkt-Regionen sind in Südhessen die Region Bergstraße und Odenwald, in Mittelhessen Vogelsberg und Lahn-Dill, in Nordhessen der Schwalm-Eder-Kreis. Ein wichtiger Stützpunkt der rechten Szene ist in Butzbach Hoch-Weisel im Wetteraukreis. Dort befindet sich ein so genanntes „nationales Wohnprojekt“, das durch den Kauf der genutzten Immobilie als Rückzugsort und Veranstaltungszentrum abgesichert wurde.

Welche sind die wichtigsten Organisationen?

Freie Nationalisten Rhein-Main, Berserker, die NPD mit fünfzehn Kreisverbänden (auch vertreten durch Mandate in Kommunen und Kreisen) und die JN, Aktionsbüro Rhein-Neckar.

Gibt es „lokale Spezialitäten“ der Szene?

Hessen liegt am unteren Ende der bundesweiten Statistiken zum Thema, was oft genug dazu einlädt, das Thema und die Aktivitäten der Szene klein zu reden. Der hessische Verfassungsschutz weist jedoch darauf hin, dass z.B. die vergleichsweise kleineren Personenzahlen im Kontext ihres hohen Mobilisierungs- und Gewaltpotentials zu sehen sind und daher Anlass zur Sorge bieten. Auch der Strukturwandel innerhalb der Szene hin zur NPD wird als vergleichsweise weit fortgeschritten angesehen.

Allgemein ist zu sagen, dass auch hier Aktive der rechten Szene häufig nicht etwa aus sozial schwachen Hintergründen stammen, sondern dass sie aus durchaus gesicherten Verhältnissen kommen und in die Gesellschaft integriert sind. Hervorzuheben sind hier die Verbindungen der rechten Szene zu Burschenschaften. Es wird ganz allgemein und durchaus erfolgreich der Anschluss an konservative Kreise gesucht.

Welche aktuellen Trends, Strategien beobachten Sie?

Die hessische JN propagiert ein so genanntes Vier-Säulen-Modell (korrespondierend zum wohlbekannten Drei-Säulen-Modell). Eine Säule ist die dabei die erwähnte Zusammenarbeit mit den Kameradschaften. Weitere Säulen sind der Kampf um die Dörfer und um die Schulen sowie eine Intellektualisierung der Jugend. Dabei ist es wichtig zu beachten, dass Jugendliche zwar über rechte Subkulturen angesprochen werden, zugleich versucht man sich aber an deren Intellektualisierung durch Schulungen. Diese werden als wichtiges Instrument genannt. Hier kann vermittelt werden, dass durch die Integration ins dörfliche Leben, soziales Gebaren und ein sauberes Auftreten ein Gewährenlassen bei Aktivitäten erreicht werden könnte. Auch „familienorientierte“ nach innen gerichtete Angebote passen in diesen Kontext. Auf Heimabenden und in Zeltlagern werden hier die Kinder und Jugendlichen der rechten Szene früh geschult.

Ein weiteres Feld ist die Nutzung des Internets: Eine internetbasierte Nachrichtensendung, die „Kritischen Nachrichten der Woche“, werden von der NPD ins Netz gestellt und vom Landesvorsitzenden moderiert.

Als wie bedrohlich schätzen Sie Rechtsextremismus in Hessen derzeit ein und warum?

Der Strukturwandel des Rechtsextremismus in Hessen lässt immer breitere gesellschaftliche Kreise darauf aufmerksam werden. Dies wurde deutlich in einer Anhörung zum Thema im Innenausschuss des hessischen Landtags im Frühjahr. Der Umgang mit den Aktivitäten ist auch hier häufig von Unsicherheiten geprägt. Erfreulicherweise hat seit dem letzten Jahr eine selbst organisierte Vernetzung zivilgesellschaftlicher Akteure in Hessen stattgefunden. Aus ihren Reihen stammt auch die Bestandsaufnahme zum aktuellen Rechtsextremismus und vor allem „Zivilgesellschaftliche Strategien gegen die extreme Rechte in Hessen“ (hrsg. von Frölich, Hafeneger, Kaletsch, Oppenhäuser, im Erscheinen bei Brandes & Apsel). Es ist zu hoffen, dass die Einrichtung eines landesweiten Beratungsnetzwerks aus Mitteln des Bundesprogramms „Mobile Intervention gegen Rechtsextremismus“ hier Unterstützung bieten kann und dass Opfer von Bedrohungen und Gewalttaten nun Gehör finden werden. Aus dem Vogelsbergkreis wurde z.B. berichtet, dass Jugendliche sich nicht trauen, gegen rechts einzutreten, weil sie bedroht und eingeschüchtert wurden. Wichtig ist auch, dass bei Aktivitäten gegen rechte Gruppierungen nicht gleich gewalttätige Auseinandersetzungen angenommen oder fast herbeigeredet werden, wie es etwa im Vorfeld der Demonstration in Frankfurt zu beobachten war, sondern dass angemessenes Engagement unterstützt und begleitet werden kann. Flankiert werden müssten diese Aktivitäten allerdings landesweit durch vielfältige präventive Maßnahmen.

Nach der größeren Demonstration in Frankfurt, die die Grenzen der Mobilisierungskraft der Aktiven um Wöll deutlich gemacht hat, bleibt abzuwarten, wie sich die hessische NPD im bundesweiten Kontext etablieren kann und wie sich die Zusammenarbeit mit der JN in Zukunft gestaltet. Die Landtagswahl 2008 bietet NPD und JN in Zusammenarbeit mit den Kameradschaften die Möglichkeit, in allen Facetten Präsenz zeigen. Verstärkt stellt die NPD auch Kandidaten für Direktwahlen für das (Ober-)Bürgermeister oder Landratsamt. Der Wahlkampf könnte ein weiterer Schritt in Richtung „Normalisierung“ werden, die gesellschaftliche Anerkennung könnte wachsen.

Interview: Simone Rafael

Sabine Diederich ist Beraterin im Projekt „Zivile Kräfte stärken“ der Jugendbegegnungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main, Christopher Vogel ist Berater im Mobilen Beratungsteam gegen Rassismus und Rechtsextremismus für demokratische Kultur in Hessen e.V. in Kassel (Stand: Sommer 2007).

Dieser Beitrag ist ursprünglich auf dem Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ erschienen (2002-2022).

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