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Rechtsextreme Szene 11 Prozent mehr rechte Straftaten, aber Verfassungsschutz unterschlägt Todesopfer

Neonazis hinter Polizeiabsperrung; Foto: hk

Offiziell führte der Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2008 zwei Tötungsdelikte und vier versuchte Tötungsdelikte im Jahr 2008 auf, außerdem 893 Körperverletzungen (im Vorjahr 845). Initiativen wie die Amadeu Antonio Stiftung widerspreachen dieser Zählung. Auf die beiden Todesfälle ging der Innenminister nicht näher ein, „Jedes Opfer von Gewalt“ sei „schlimm“, reagierte er auf eine Nachfrage. Die Amadeu Antonio Stiftung dazu:

„Die Ergebnisse zeigen die Dimension der Ideologie des Rechtsextremismus und seine tödliche Konsequenz“, erklärte Anetta Kahane, Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung, anlässlich der gestiegenen rechten Gewaltdelikte (2008: +5,6%) im Verfassungsschutzbericht. „Es fehlt an Beratungsstellen und Anlaufpunkten für Opfer rechter Gewalt und jener, die sich dagegen wenden wollen – insbesondere im Westen der Republik“. Rechte Gewalt ereignet sich nicht selten am helllichten Tag. Trotzdem gibt es eine hohe Dunkelziffer in der Bundesrepublik. „Während der Verfassungsschutz zwei Todesopfer rechter Gewalt benennt, haben wir im vergangenen Jahr bedauerlicher Weise fünf zählen müssen!“, korrigiert Kahane den Verfassungsschutzbericht 2008. Neben Bernd K. in Templin und Bastian O. in Magdeburg wurde ebenfalls im August Marcel W. in Bernburg von einem einschlägig vorbestraften Neonazi getötet. Auf offener Straße in Berlin erstochen wurde Chan Dong N., nachdem sich der Täter zuvor mehrfach rassistisch über „diese Fidschis“ geäußert hatte. In Dessau wurde Hans-Joachim S. von zwei Rechtsextremisten zu Tode geprügelt. „Das Ausmaß rechter Gewalt muss bekämpft und deren Opfer geschützt werden – ohne Zahlen zu beschönigen“ kritisierte Kahane.

Alle 26 Minuten eine rechte Straftat

Die Dimension rechter Gewalt ist für viele Menschen nicht greifbar und unterliegt viel zu oft konjunkturellen Schwankungen. Alle 26 Minuten heben Neonazis in Deutschland den Arm zum Hitlergruß, beschimpfen Menschen rassistisch oder verteilen rechtsextreme Musik. Und das sind nur die erfassten Fälle. „Vielerorts – gerade in ländlichen Regionen – kämpfen wenige zivilgesellschaftliche Kräfte gegen eine rechte Hegemonie“ so Timo Reinfrank, Koordinator der Amadeu Antonio Stiftung. „Politik und Gesellschaft sind zum Handeln aufgefordert“. Die Amadeu Antonio Stiftung hat aus diesem Zweck die Kampagne KEIN ORT FÜR NEONAZIS IN THÜRINGEN ins Leben gerufen. Unkompliziert und schnell werden lokale Initiativen mit mikro-Förderung in ihrem Engagement gegen rechtsextreme Strukturen unterstützt.

In einer die Pressekonferenz einleitenden Erklärung des Bundesinnenministers wurde vorrangig auf die Sicherheitsgefährdung Deutschlands durch islamistische Terroristen eingegangen. Dann heißt es:

„Der islamistische Terrorismus ist die herausragendste, nicht aber die einzige Form der Bedrohung von Sicherheit und Ordnung in unserem Land. Nach wie vor stellt auch der nationale Extremismus weiterhin einen Schwerpunkt in der präventiven und repressiven Arbeit der Verfassungsschutz- und Polizeibehörden dar. Zum nationalen Extremismus zählen der Rechtsextremismus mit seinen nationalsozialistischen Kernelementen – Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus – ebenso wie der Linksextremismus.

Der während des Jahres 2008 zu verzeichnende Anstieg von Gewalt im Bereich des Rechtsextremismus ist besorgniserregend. Hervorzuheben sind dabei insbesondere die vermehrten gewalttätigen Auseinandersetzungen von Rechtsextremisten, insbesondere mit dem politischen Gegner und das verstärkte Auftreten gewaltbereiter Strukturen, wie der „Autonomen Nationalisten“ bei rechtsextremistischen Veranstaltungen. Auch diese Entwicklung erfordert unsere konzentrierte Aufmerksamkeit und den konsequenten Einsatz aller zur Verfügung stehenden Mittel.

Mit dem Verbot gegen die „Heimattreue Deutsche Jugend …“ (HDJ) am 31. März 2009 hat der Bundesminister des Innern seine Entschlossenheit gegenüber verfassungsfeindlichen rechtsextremistischen Umtrieben deutlich gemacht. Die Organisation hatte es sich zum Ziel gesetzt, Kinder und Jugendliche unter dem Deckmantel von scheinbar unpolitischen Freizeitangeboten, mit nationalsozialistischem und rassistischem Gedankengut zu infiltrieren. Diesem Wirken galt es mit Nachdruck und Entschiedenheit zu begegnen.“

Innenministerium sieht Islamisten als vorrangiges Problem

Die Mitgliederzahl rechtsextremer Parteien sei leicht gesunken, vermeldet der VS-Bericht, bei der NPD auf 7000, der DVU auf 6.000. Die Zahl bekennender Neonazis sei dagegen um 9 Prozent auf 4.800 gestiegen, 65 Neonaziorganisationen würden gezählt. Ein Verbot der NPD, wie es die SPD-Innenminister fordern, lehnte Schäuble ab, dies könne bei einem Scheitern des Verfahrens wie schon 2003 „zu einem Bumerang“ werden und die rechtsextreme Partei eher auf-, als abwerten. Wörtlich heißt es in Schäubles Erklärung:

„Die Verfassungsfeindlichkeit einer Organisation oder Partei ist eine, nicht aber die einzige Voraussetzung, um ein tragfähiges Verbot aussprechen zu können, und bisweilen schadet bereits die öffentliche Diskussion über ein mögliches Verbot der Sache mehr als sie nützt. So verhält es sich auch bei der NPD. Niemand zweifelt ernsthaft daran, dass es sich bei der NPD um eine verfassungsfeindliche Partei handelt. Dies allein reicht jedoch nicht aus, um das erfolgreiche Bestreiten eines Parteiverbotsverfahrens sicherzustellen. Die Hürden, die sich aus Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hierfür ergeben, sind hoch und bergen ein deutliches Risiko, auch bei einem erneuten Anlauf zu scheitern. Damit würden wir unserem eigentlichen gemeinsamen Anliegen, nämlich der wirksamen Bekämpfung des Rechtsextremismus, einen Bärendienst erweisen.“

Gefahr durch Rechtsextremismus „vollkommen unterschätzt“

Explizit nannte der damalige Innenminister Wolfgang Schäuble als Ziel, Rechtsextremismus im Internet zu bekämpfen, blieb aber eine Erklärung schuldig, wie. Rund 1000 „von Deutschen betriebene rechtsextremistische Internetpräsenzen“ zählt der VS-Bericht und verweist außerdem auf die hohe Anzahl rassistischer und gewaltverherrlichender Videos, die auf allgemein zugängliche Videoplattformen eingestellt würden – obwohl deren Nutzungsbedingungen solche Inhalte eigentlich für unerwünscht erklären. Dies werde jedoch „von Seiten der verantwortlichen Betreiber nicht immer konsequent umgesetzt“, kritisiert der VS-Bericht. Schäuble bekräftigte auf Nachfrage von MUT, dass er dies als Appell an Provider verstehe, freiwillig von sich aus mehr Bewusstsein und Einsatz für „eine wehrhafte Demokratie“ zu zeigen, in der jeder gefordert sei, Extremisten entgegenzutreten.

Aus der Arbeit seiner Behörde lobte der Innenminister die Arbeit der Bundeszentrale für politische Bildung und des Bündnis für Demokratie in ihrer Arbeit gegen Rechtsextremismus und hob zugleich die Arbeit des Familien- und Arbeitsministeriums gegen Neonazismus hervor. Zusätzlich mobilisierbare Haushaltsmittel für Projekte gegen Rechtsextremismus sehe er in diesem Haushaltsjahr nicht. Heftige Kritik erntete Schäuble zunächst von den Grünen. Deren damalige Vorsitzende, Claudia Roth, sprach von einer „fatalen Abschlussbilanz“ des Bundesinnenministers. Schäuble habe in seiner Amtszeit die Gefahr durch Rechtsextremismus „vollkommen unterschätzt“.

Dieser Beitrag ist ursprünglich auf dem Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ erschienen (2002-2022).

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