Die Fragen beantworten Mitglieder der Mobilen Beratungsteams des Kulturbüros Sachsen.
Wie sieht Rechtsextremismus in Sachsen derzeit aus?
Parteipolitisch:
Sachsen hat den stärksten NPD-Landesverband der BRD mit über 1.000 Mitgliedern und flächendeckenden Kreisverbänden, auch wenn diese unterschiedlich stark und aktiv sind. Die NPD tritt seit dem Einzug als Fraktion in den sächsischen Landtag aktiver und z. T. auch intellektueller in Erscheinung. So unterstützen bspw. Mitarbeiter der Fraktion lokale Kader in öffentlichen Diskussionen vor Ort (Diskussion in der Mutzschener Kirche Frühjahr 2005, inhaltliche und organisatorische Unterstützung der Freien Kräfte, etc.)
Subkultureller Rechtsextremismus:
In Sachsen gibt es ein hohe Dichte an Kameradschaften, die vor allem im ländlichen Raum aktiv und stark gesellschaftlich verankert sind. Sachsen hat mit heute ca. 45-50 Kameradschaften auf seinem Gebiet ca. ¼ aller bundesweit bekannten Kameradschaften. Diese Strukturen sind sachsenweit immer mehr vernetzt und treten offensiv immer mehr unter dem Namen „Freie Kräfte“ oder „Freie Nationalisten“ auf. Die klassischen Ortsnamen geraten zunehmend in den Hintergrund, was auf eine überregionaler ausgerichtete Wirkungs- uind Aktionsweise schließen lässt. Die sächsische NPD ist inhaltlich eng mit dieser Kameradschaftsszene verbunden und personell verflochten.
Gesellschaftlich:
In der sächsischen Bevölkerung gibt es eine Menge an pro-rechtsextremen Meinungen und Stimmungen, die uns entgegengebracht werden: „Die NPD sitzt doch im Landtag. Ich habe keine Probleme mit denen. Wir müssen uns nicht wundern bei der hohen Arbeitslosigkeit. Warum hat der junge Mann auch grüne Haare. So läuft man hier nicht rum…..“ Hier sei auch an die beiden Studien von Heitmeyer und Brähler/Decker erinnert, die fremdenfeindliche und rechtsextreme Einstellungen abgefragt haben und gerade für Sachsen zu erschreckend hohen Ergebnissen in der Mitte der Gesellschaft kommen. Hinzu kommt, die von Heitmeyer dargestellte ‚Schweigespirale’ der gesellschaftlichen Mitte: Rechtsextremismus wird erst in seiner offen gewalttätigen Form zum Problem und auch dann oft nur nach Skandalisierung durch potenzielle und tatsächliche Opfergruppen (bspw. Aktion Zivilcourage und Alternatives Kulturzentrum in Pirna, NDK Wurzen) oder durch Personen außerhalb der (Dorf- bzw. kleinstädtischen) Gemeinschaften.
Gewalt, Opfer/ Angstzonen:
Einmal mehr suggeriert die polizeiliche Kriminalstatistik bzgl. politisch motivierter Gewalt- und Straftaten einen Rückgang der Straftaten und somit eine Verbesserung der Situation gegenüber den Vorjahren. Diese positiven offiziellen Daten werden jedoch von den sächsischen Opferberatungsteams vehement bestritten. Vielmehr gibt es, das bestätigen die aktuellen Opferstatistiken, aber auch die vielfältigen Gespräche und Erfahrungen der Mobilen Beratungsteams, weiterhin ein extrem hohes Niveau rechtsextremer Straf- und Gewalttaten, ja sogar eine Steigerung gegenüber dem bisherigen Rekordjahr 2005.
Wie zeigt er sich hauptsächlich? Gibt es Schwerpunkt-Regionen?
Rechtsextreme Erscheinungen in Sachsen sind extrem vielfältig und vielschichtig.
Es gibt die klassischen Schwerpunktregionen, wie bspw. die Sächsische Schweiz, in der Folgestrukturen der 2004 verbotenen SSS („Skinheads Sächsische Schweiz“) weiterarbeiten und sich neue rechtsextreme Kameradschaftsstrukturen entwickelt haben. In der Sächsischen Schweiz scheint auch der parteipolitische Rechtsextremismus ausgeprägter zu sein als in der Oberlausitz (KV Sächsische Schweiz der mitgliederstärkste und älteste Kreisverband.) In Ostsachsen treten nach wie vor die über Jahre bekannten Organisationen im Raum Zittau, wie die Kameradschaft Oberlausitz und der Nationale Jugendblock in Erscheinung. Die Region Ostsachsen beherbergt von den bekannten 45-50 sächsischen Kameradschaften mehr als die Hälfte.
Aktuelle Entwicklungen zeigen aber eine immer deutlichere Verlagerung rechtsextremer Aktivitäten und eine Verfestigung solcher Strukturen in nach Mittel- und Westsachsen:
Seit 2005 verzeichnen die dort zuständigen MBTs ein Wiederaufleben von rechtsextremen Szenen. Nazikader kehren nach Verbüßung mehrjähriger Haftstrafen im Zusammenhang mit politisch motivierten Straftaten von Mitte der 90er Jahre an ihre alten Wohn-, Wirkungsorte zurück. Andere rechtsextreme Akteure kommen nach mehreren Jahren beruflicher „Wanderschaft“ zurück und verstärken die Szene. Rechtsextreme Akteure im ländlichen Raum treten heute mobiler und in größeren Räumen auf, d. h. es gibt länder- und regionenübergreifende Verbindungen z. B. von Merseburg-Querfurt über Delitzsch, Thümmlitzwalde, Leisnig/Klosterbuch bis in die Region Döbeln / Mittweida.
Der Landkreis Mittweida entwickelte sich in den letzten Monaten zu einem Schwerpunkt rechtsextremer Aktivitäten im sächsischen ländlichen Raum. Zum einen gehört der Kreisverband Mittweida der sächsischen NPD zu den mitgliederstärksten in Sachsen. Andererseits gibt es in der Region eine seit Jahren etablierte rechtsextreme Kameradschafts- und Jugendszene. Die „Kameradschaft Mittweida“ war 2003 ein Zusammenschluss von ca. 15 Personen, schon damals gewaltbereit. Im Frühjahr 2007 machten die selben Personen unter dem „neuen“ Label „Sturm 34“, mit ca. 30 Personen deutlich größer und gewaltbereiter, von sich reden. Die Kameradschaft „Sturm 34“ ist inzwischen aber auch verboten. Darüber hinaus hat sich im Landkreis eine weitere Kameradschaft etabliert, die sich „Weißer Widerstand Rochlitz“ nennt. Ziel dieser gewaltbereiten Kameradschaftsszene ist die Schaffung eines Klimas der Angst bzw. die Etablierung von Angstzonen durch extreme uniforme Präsenz ihrer Mitglieder und SympatisantInnen sowie gezielte Angriffe auf nicht rechte Jugendliche und Einzelpersonen.
In einigen Kleinstädten des Landkreises hat sich dieses Klima der Angst bereits verfestigt. Opfer sind nicht mehr nur Punks und alternative Jugendliche, sondern auch die Junge Gemeinde resp. „ganz normale Jugendliche“. Gerade letztere beklagen das Schweigen und die Tatenlosigkeit der eigentlich vor Ort Zuständigen. Zivilgesellschaft, Verwaltung, lokale Zivilgesellschaft sind wenig sensibilisiert.
Rechtsextreme Aktivitäten spielen sich oftmals unterhalb von Straftatbeständen ab. Sie äußern sich bspw. im Alltag afro-europäischer Familien, die schikaniert und gedemütigt und in ihrer Menschenwürde permanent verletzt werden. Sie zeigen sich darin, dass nicht-rechte Jugendliche es oftmals nicht leicht haben, einen eigenen Raum ohne Stress in Anspruch nehmen zu können, wie das Beispiel eines HipHoppers in einem Dorf im Weißeritzkreis erinnert, der über Monate hinweg angepöbelt wurde und dem starken Druck nachgab, indem er sein Äußeres, seinen Stil aufgab, um Ruhe zu bekommen. Die Mutter erzählte, dass er die Schuld bei sich suchte und eine Zeit lang richtig krank gewesen sei.
Welche sind die wichtigsten Organisationen?
Auf der subkulturellen und gewalttätigen Aktionsebene mit Abstand die freie Kameradschaftsszene mit subkulturellen Angeboten vom Dartabend bis zum Konzertevent mit mehren rechtsextremen Bands.
Auf strategischer und politischer Ebene die NPD und ihre Jugendorganisation JN mit ihren Querfrontbündnissen („Bündnis gegen das Vergessen“ zum 13. Februar in Dresden, Nationales Bündnis Dresden als erste ostdeutsche überparteiliche Wahlplattform der Rechtsextremen, etc.) in denen Kameradschaftsszene und verschiedene politische Strömungen der extremen Rechten is die NPD-Strategiebildung integriert werden. Die intellektuellen Vorfeldorganisationen für eine solche bewegungsorientierte politische Strategie finden sich in dem im Aufbau befindlichen „Bildungswerk für Heimat und nationale Identität“, dass sich plakativ die „Dresdner Schule“ als national-völkischem intellektuellen Gegenpol zur „Frankfurter Schule“ auf die Fahne schrieb.
Gibt es „lokale Spezialitäten“ der Szene?
Ja und nein, u.E. ist das auch nicht wirklich wichtig diesen Unterschied aufzumachen, denn generell werden rechtsextreme Aktivitäten und Strategien umgesetzte, wie: Demonstrationen und Kundgebungen, Kranzniederlegungen, Pflege von Krieger-Denkmälern, Wortergreifung auf Veranstaltungen der politischen Gegner, Konzerte, Flugblattaktionen, Immobilienerwerb, Tagungen und Schulungen, Sonnenwendfeiern, Jugendthings, Germanische Zehnkämpfe, Pfingst- und Osterlager (Zeltlager), etc. Da gibt es kleine regionale Unterschiede innerhalb der Regierungsbezirke hinsichtlich des Organisationsgrades und damit der Größe und „Professionalität“ solcher Veranstaltungen, bzw. hinsichtlich des regional verankerten Brauchtums.
Ein besonders Datum/Thema ist die Bombardierung Dresdens am 13. Februar 1945, deren Bewertung auch in weiten Teilen der Bürgergesellschaft umstritten ist, bzw. in deren teilweise antiamerikanischer und relativierender Bewertung der Bürgergesellschaft sich diverse Andockpunkte für rechtsextreme Ideologien finden. Dies ist der Hintergrund für die Übernahmeversuche der Erinnerungskultur durch die extreme Rechte. Der traditionelle rechtsextreme „Trauermarsch“ am 13. Februar in Dresden ist der mittlerweile bundesweit bedeutsamste rechtsextreme Aufmarsch mit diverser Wirkung in die Szene hinein.
Wurzen ist somit nach wie vor ein wichtiger Ort in der Infrastruktur der rechtsextremen Szene. Für letzteres spricht auch die Anwesenheit eines Fight Clubs, in dem nahezu regelfreier Kampfsport betrieben wird, in dessen Kontext Gewaltformen „kultiviert“ werden und der auf dieser Basis ein Anziehungspunkt und Sammelbecken für rechtsextrem gesinnte, gewaltbereite junge Männer ist.
Der Deutsche Stimme Verlag mit seinem heutigen Geschäftsführer Jens Pühse verfügt neben seinem Zeitungsverlag mit einem bundesweit bedeutende Versandhandel über ein zweites, sehr profitables Standbein und wirkt somit nicht nur in die NPD-nahe Szene sondern auch in das subkulturelle Umfeld bzw. anpolitisierte Kreise hinein.
Schließlich gibt es in Sachsen mit dem vom bekannten Rechtsextremisten Hendrik Lasch betriebenen Chemnitzer Label „PC Records“ und seinem Versandhandel/Ladengeschäft „Backstreet Noise“ einen dritten bundsweit bekannten und bedeutsamen Schnittpunkt zwischen rechtsextremer Ideologie und subkultureller Szene mit immenser Wirkung.
Schließlich gibt es im Umfeld der traditionsreichen Fußballclubs Sachsens, die heute allesamt in unteren bis mittleren Ligen spielen (FC Chemnitz, Lok Leipzig, Dynamo Dresden), eine seit Jahren stark ausgeprägte, mit rechtsextremen Akteuren durchsetzte bzw. mit rechtsextremen Strukturen vernetzte Hooliganszene. Aktuelle Medienberichte und Vorkommnisse mögen dies als neue, gefährliche Erscheinung präsentieren. Neu aber ist davon nichts.
Zusammenfassend:
Sächsische Spezialitäten sind extrem vielschichtige und verankerte Kameradschaftsszene; rechtsextreme subkulturelle Szene mit nationaler, ja internationaler Ausstrahlung durch Versandhandel und Plattenlabel; ökonomisch weitgehend unabhängige Infrastruktur (subkulturelle Ladenszene als Marktfaktor), die Gewinne in der Szene anlegt, bzw. für die Szene nutzt; rechtsextrem unterwanderte (Fußball- bzw. Sport-)Fanszene; intellektuelle Avantgarde im Umfeld der NPD-Landtagsfraktion; eine extrem unklare, tlw. relativierende Haltung weiter Teile der Bürgergesellschaft hinsichtlich politischer Streitfelder, wie Erinnerungskultur, die es Rechtsextremen leicht macht, anzudocken/Themen zu besetzen.
Welche aktuellen Trends, Strategien beobachten Sie?
Die aktuellen Trends sind die alten Trends und Strategien: Immer wieder mal bürgerlich nah und harmlos zu erscheinen, d.h. immer wieder mal als „Bürgerinitiative“ (gegen den Flughafenausbau in Leipzig, gegen die teure Abwasserentsorgungsanlage, „Schöner Wohnen in Hoyerswerda“, „Interessengemeinschaft Brausenstein“ oder „Pro Sächsische Schweiz“) daher zu kommen. Dass dieses nicht neu ist, zeigt, dass bereits rechtsextreme Demos 2004 und 2005 im Bereich Hoyerswerda mit Namen versehen waren wie „Arbeitsloseninitiative in Gründung“ oder SSS mit „Drogenfrei Leben in Pirna“ oder Ähnlichem.
Als wie bedrohlich schätzen Sie Rechtsextremismus in Sachsen derzeit ein und warum?
Bedrohlich und gefährlich nach wie vor: siehe Angstzonen, Situation Afreu, HipHopper Weisseritzkreis, nicht rechte Jugendliche im Landkreis Mittweida, Widerstand gegen die Polizei…..
Nach wie vor für uns am meisten erschreckend ist, dass so viele Bürger*innen sagen, „…das geht mich nichts an“, oder: „Die NPD ist nicht verboten“, oder „…wenn man gegen rechts was macht ist man automatisch links…“. Das wohl bedrückendste Ergebnis der aktuellen Umfragen von Heitmeyer und Brähler/Decker ist doch die klammheimliche Zustimmung bzw. nicht Wahrnehmung des Problems in der Mitte der (nicht nur) sächsischen Gesellschaft.
Interview: Simone Rafael
Dieser Beitrag ist ursprünglich auf dem Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ erschienen (2002-2022).