Bernd Wagners Schrift beginnt mit ausführlichen Überlegungen zur Theorie, Methode und zeithistorischen Kontextualisierung seiner Studie. Im Kern entwickelt er dabei eine Vorstellung von freiheitsfeindlichen Ideologien, die er in den Gegensatz zum real existierenden Sozialismus in der DDR setzt. Spannend und ins Heute übertragbar sind seine Überlegungen zu Radikalisierungsprozessen des Einzelnen. Dabei betont er nicht alleine den individuellen Weg, sondern dessen kulturelle Verortung in die jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Kontexte. Besondere Bedeutung bekommen für Wagner in der DDR verbreitete völkische Vorstellungen des Deutschseins und Diskurse, die explizit gegen schwache oder als fremd definierte Gruppen gerichtet sind. Der Rechtsradikalismus der DDR breitet sich zwar gegen eine staatliche Gegenmacht aus und ist dennoch als Kontrastgesellschaft – basierend auf diesem völkischen Milieu und stabilisiert über feindselige Diskurse – verwurzelt in Sphären gesellschaftlicher Normalität. Dies ist die Basis seiner späteren Ausprägung in Ostdeutschland, seines bewegungsförmigen Charakters, der Entwicklung der umstrittenen Dominanzzonen im Alltag und seiner gesellschaftlichen Unterstützung in den Gewaltexzessen der frühen 90er Jahre. Und diese Phase ist wiederum die Blaupause für den modernen Rechtsradikalismus, der wesentliche Elemente des ostdeutschen Vorbilds aufnimmt und später auch im Westen unter veränderten Umständen erneuert umsetzt.
Lehrreich für das Heute sind auch die Kapitel zum staatlichen und gesellschaftlichen Umgang mit der Problematik. Wagner differenziert die Auseinandersetzung, lobt einzelne Kirchenkreise, Wissenschaftler und Einzelpersonen, spart aber insgesamt nicht mit massiver Kritik. Aussagekräftig ist die folgende Ausspruch eines Polizeichefs: „Es gibt eine Wissenschaftlichkeit, und es gibt eine Parteilichkeit, und wir sind parteilich.“ In abgeschwächter Form zeigen sich auch heute noch solche Bedeutungen politischer Vorgaben „von oben“, die nicht immer mit den empirischen Realitäten übereinstimmen und zu Unverhältnismäßigkeiten der Beobachtung wie Nicht-Beobachtung freiheitsfeindlicher Ideologien und ihrer Träger führen.
Überhaupt lesen sich weite Strecken des Buches wie eine Geschichte der Hilflosigkeit im Umgang mit dem Phänomen. Die offiziellen, vom Staat verwendeten Theorien erlauben keine konkrete Beschreibung der Phänomene, erwirken nur trüben Erkenntnisnebel und überhöhen Mosaike der Gesamtschau in ihrer Bedeutung. Auf die Repression des Staates erfolgen in Permanenz Innovationen der rechtsradikalen Seite. Die gesellschaftliche Verankerung des Rechtsradikalismus weit über die unmittelbaren politischen Kerne hinaus wird weder analytisch erfasst noch zum Gegenstand öffentlicher Diskussionen bezüglich des Umgangs mit der Grundthematik. Alles somit „nur“ Zeitgeschichte? Wohl kaum.
Wagners Schrift wird die Bestsellerlisten vielleicht nicht stürmen. Für die wissenschaftliche Analyse und praktische Auseinandersetzung mit dem Rechtsradikalismus liefert sie jedoch zahlreiche neue Erkenntnisse und verdient eine breite Beachtung. Die Arbeit ist nicht nur detailreich, sondern in seiner analytischen Anlage anregend breit – und damit dem Gegenstand angemessen und vorbildlich – aufgestellt.
Bernd Wagner (2014): Rechtsradikalismus in der Spät-DDR. Zur militant-nazistischen Radikalisierung. Wirkungen und Reaktionen in der DDR-Gesellschaft, edition widerschein, ISBN 978-3-945529-02-7