Ein Beitrag von Pascal Begrich und David Begrich von Miteinander e.V.
Die Aufdeckung der Morde des NSU hat die politische und öffentliche Wahrnehmung von Neonazismus, Rassismus und Demokratiefeindlichkeit in Sachsen-Anhalt verändert. Deutlicher als in den Jahren zuvor wird seitdem das Gewaltpotential der neonazistischen Szene erkannt. Sowohl die extreme Rechte als auch rassistische und demokratiefeindliche Einstellungen stellen nach wie vor eine gesellschaftliche Herausforderung in Sachsen-Anhalt dar. So können Rechtsextreme mit ihren Aktivitäten insbesondere dort erfolgreich sein, wo es ihnen gelingt, aufgrund regionaler Ereignisse mit ihren Deutungsangeboten Anschluss an vorhandene Ressentiments in der Bevölkerung zu finden.
Neonazis erhalten Unterstützung von der Bevölkerung
Beispielhaft für diese Erfolge der Neonaziszene stehen die Ereignisse in der Gemeinde Insel. Nach dem Zuzug von zwei ehemaligen Sexualstraftätern im Juli 2011 forderten Einwohner_innen wiederholt auf Kundgebungen den Wegzug der beiden Männer. Ab Mitte September 2011 rief neben neonazistischen Gruppen auch die NPD zu Protesten in Insel und Stendal auf. Seitdem kam es immer wieder zu einer Interaktion zwischen den Protestorganisator_innen vor Ort und Neonazis. Dabei nahmen Einwohner_innen entweder an neonazistischen Kundgebungen teil oder hießen Neonazis auf ihren Aktionen willkommen. Am Abend des 1. Juni 2012 eskalierten die Ereignisse. Einwohner_innen und Neonazis versuchten nach einer Spontandemonstration, gewaltsam in das Haus der ehemalige Sexualstraftäter einzudringen. Der Polizei gelang es nur mühsam, eine Stürmung des Hauses zu verhindern.
NPD und Junge Nationaldemokraten
Am Fall Insel zeigt sich, dass die NPD trotz ihrer strukturellen Schwächung nach der Niederlage bei der Landtagswahl im April 2011 nach wie vor in verschiedenen Regionen des Landes kommunal verankert ist und Erfolge verbuchen kann. Organisatorisch jedoch konnte sich die Partei seitdem nicht wieder erholen. In einigen Kreisverbänden kam die politische Arbeit gänzlich zum Erliegen. Der Landesverband versank in Agonie. Die Mitgliederzahl stagniert bei etwa 250 Personen. Dennoch versucht die NPD, neben ihren 27 kommunalen Mandaten Präsens im öffentlichen Raum zu zeigen. Während ihrer „Deutschlandtour“ machten Vertreter_innen der NPD auch in Sachsen-Anhalt Station. In Magdeburg, Halle und Dessau erhielten sie Unterstützung von lokalen Vertreter_innen der Partei. In allen drei Städten stießen sie aber auch auf zivilgesellschaftlichen Protest.
Obzwar auch die Handlungsfähigkeit der Jungen Nationaldemokraten (JN) durch die Krise der NPD geschwächt ist, nehmen JN-Funktionäre aus Sachsen-Anhalt weiterhin eine führende bundespolitische Rolle im NPD-Jugendverband ein. Dies zeigten die Ergebnisse der Neuwahl des JN-Bundesvorstandes im Oktober 2012. Dort wurde der Magdeburger Andy Knape zum Nachfolger von Michael Schäfer aus Wernigerode gewählt. Schäfer ist als Beisitzer weiterhin im Bundesvorstand vertreten.
Rechtsrock-Konzerte
Das neonazistische Kernmilieu jedoch setzt sich in Sachsen-Anhalt aus militanten Kameradschaften und ihrem jugendkulturellen Umfeld zusammen. Die sogenannten Freien Kräfte profitierten von der Schwäche der NPD und erwiesen sich 2012 immer wieder als kampagnenfähig. Es sind vor allem aber neonazistische Bands und Rechtsrock-Konzerte, die über die eigene Szene hinaus Jugendliche und junge Erwachsene erreichen. Sie stellen ein niedrigschwelliges und attraktives Angebot zur Identifizierung mit rechtsextremen Inhalten dar. Die Zahl neonazistischer Konzerte liegt im Vergleich der neuen Bundesländer mit etwa 20 Konzerten im Mittelfeld. Zunehmend müht man sich in der Szene um Veranstaltungen auf privatem Gelände, um sich dem Zugriff der Sicherheitsbehörden zu entziehen. Oder aber Konzerte werden legal organisiert und offiziell beworben.
So fand am 16. Juli 2011 in Nienhagen eines der größten Rechtsrockkonzerte seit Jahren statt. Entgegen der langjährigen Praxis neonazistischer Veranstalter wurde dieses Konzert nicht im Verborgenen geplant und durchgeführt, sondern mit großem zeitlichem Vorlauf beim zuständigen Ordnungsamt angemeldet und langfristig beworben. Die Taktik der Veranstalter ging offensichtlich auf: Das Konzert konnte nicht verboten werden und fand – unter Auflagen – nahezu ungestört mit ca. 1.000 Teilnehmer_innen statt. Am 25. Mai 2012 konnte dieser Erfolg noch übertroffen werden. Diesmal versammelten in Nienhagen fast 1.800 Neonazis zu einer „European Skinhead Party“. Allerdings führten die Auseinandersetzungen um dieses Konzert zur Gründung eines Bürgerbündnisses in Nienhagen, das sich aktiv gegen die Weiterführung der Rechtsrockkonzerte ausspricht und Aktionen zur deren Verhinderung durchführt. Mittlerweile hat sich in einer Abstimmung die Mehrheit des Ortes gegen solche Konzerte ausgesprochen.
„Unsterbliche“-Aktionen
Die öffentliche Wahrnehmbarkeit der unterschiedlichen neonazistischen Akteur_innen resultiert aus flexiblen Interventions- und Aktionsformen der Szene. Hierzu zählen Mahnwachen, die Inszenierungen von Provokationen demokratischer Akteur_innen und unkonventionelle Methoden der medialen Kommunikation, wie die Aktionen der „Unsterblichen“. Ihre Aktionsformen gehen auf das Kameradschafts-Netzwerk „Spreelichter“ zurück. Ihre plötzlichen Aufmärsche unter Verwendung von Fackeln und Masken sind prinzipiell unangemeldet. Die Teilnehmer_innen verabreden sich konspirativ. Sinn und Zweck der Aufmärsche der „Unsterblichen“ ist vor allem, vermeintliche Macht und Stärke zu demonstrieren, einzuschüchtern und Angst zu verbreiten. Sie sind Teil eines Konzeptes der neonazistischen „Rückeroberung der Straße“, sollen die „Bewegung“ aber auch nach innen stärken. Besonders unter sehr jungen Neonazis finden diese Aktionen großen Anklang. Im Nachgang werden zumeist Videos der Aufmärsche im Internet veröffentlicht. Im Laufe des Jahres 2012 fanden solche Aktionen in verschiedenen Orten Sachsen-Anhalts statt – u.a. in Halberstadt, Halle, Aschersleben, Sangerhausen, Querfurt, Bad Dürrenberg und Landsberg.
Rassistisch motivierte Gewalt
Aus dem Kreis der Kameradschaftsszene samt subkulturell geprägtem Umfeld sind immer wieder politisch rechts und rassistisch motivierte Straftaten, insbesondere auch Gewaltstraftaten zu verzeichnen. In Sachsen-Anhalt vergeht auch 2012 fast kein Tag ohne rassistische, antisemitische und rechte Straf- und Gewalttaten. So wurde im Februar 2012 ein Imbissbetreiber in Mücheln zusammengeschlagen. Im April 2012 griffen Neonazis eine syrische Familie auf einem Volksfest in Eisleben an und verletzten sie schwer. Im November 2012 gab es einen rassistischen Angriff auf einen chinesischen Studenten in Köthen. Die Angriffe zeugen von der Bereitschaft der extremen Rechte ihre Ideologie auch mit Gewalt in die Tat umzusetzen. Auch jenseits der Schlagzeilen über den Terror des NSU erweist sich hier die Notwendigkeit einer konsequenten Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus und einem alltäglichen Rassismus.
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redaktionelle Betreuung: Theresa Heller