Mittwoch, 15. November 2023: Eine Glaswand trennt das Publikum vom Rest des Sitzungssaales 2 ab. An der Trennwand warten Filmer*innen und Fotograf*innen. Denn sie wollen dokumentieren, wie der Angeklagte den Saal betritt. Um 10:15 Uhr wird die Tür geöffnet, Ingo K. wird mit Hand- und Fußfesseln in den Saal geführt. Mit einer Hand winkt K., der ein schwarzes Sakko mit weißem Hemd trägt, ins Publikum. Dort sitzt seine frühere Ehefrau. Rasch sucht er den Austausch mit seiner Verteidigung. Als der 7. Strafsenat den Saal betritt, nimmt ein Polizist die Handfessel ab. Dann verkündet der Vorsitzende Richter das Urteil: Der Angeklagte wird zu einer Haftstrafe von 14 Jahren und 6 Monaten verurteilt. Eine anschließende Sicherungsverwahrung wird vorbehalten. Ingo K. nimmt das Urteil – wie bereits die Forderung der Bundesanwaltschaft nach lebenslänglicher Haft – regungslos zur Kenntnis.
„Außergewöhnlicher Fall“
Der Vorsitzende Richter erklärt, die Anklagepunkte der Bundesanwaltschaft seien „weitestgehend bestätigt“. Er führt aus, man habe vier Taten, darunter zwei Fälle des versuchten Mordes, festgestellt. Der Tatkomplex sei ein „schwer fassbares, ungemein komplexes Geschehen“ und ein „in vielerlei Hinsicht außergewöhnlicher Fall“. Außergewöhnlich – wegen Ingo K.s Persönlichkeit und Radikalisierung sowie wegen der Dichte und Schwere der Taten. Der Vorsitzende Richter merkt an, „die Taten lassen einen noch immer erschaudern“, und sie zeigten, wohin Radikalisierung und Staatsablehnung führen können. Er spricht vom „blanken und grenzenlosen Hass“. Dann fügt er hinzu: „Es grenzt an ein Wunder“, dass nur zwei SEK-Beamte verletzt wurden. Schließlich habe Ingo K. einen „Kugelhagel mit mehr als 40 Schüssen“ abgegeben. Schüsse auf Polizist*innen, „die nichts anderes getan haben, als ihrem Beruf nachzugehen“.
„Hass auf den Staat“
Die Arbeit der Polizei sei „nicht einfach“. Sie habe „höchsten Nutzen“ und „unschätzbaren Wert“. Der Angeklagte habe „Hass auf den Staat“ und sei in einer „Kampfhaltung“ gewesen. Als der Vorsitzende Richter erklärt, man habe sich „in aller Neutralität und Sachlichkeit“ mit dem Tatkomplex befasst, grinst Ingo K. leicht. Es folgen Ausführungen über seine Ideologie, seine Radikalisierung, seine Waffen. Über die „Reichsbürger“-Ideologie sagt der Richter, staatliche Maßnahmen würden abgelehnt, aber staatliche Leistungen allzu gerne genutzt. Der Glaube an Verschwörungsmythen befeuere die staatsfeindliche Haltung. Dann spricht er über „Mischideologien“, über die Verschmelzung der „Reichsbürger“-Ideologie mit rechtsextremen Ideologien. Mit der Verschmelzung wachse die Gefahr, mit Waffengewalt gegen den Staat vorzugehen.
„Erster deutlicher Einschnitt“
Der Vorsitzende Richter fragt: „Wie kam es zu einer solch unglaublichen Radikalisierung des Angeklagten?“ Er thematisiert die Schule und Ausbildung in der DDR, die Ausreise in den Westen, das Scheitern im Beruflichen und im Privaten. Das Scheitern sei nichts Ungewöhnliches. Erst 2016 erfolgte mit der „Flüchtlingskrise“ ein „erster deutlicher Einschnitt“. Seine staatskritische Haltung, die Ingo K. in der DDR entwickelt hatte, sei verstärkt worden. Mit der Corona-Pandemie erfolgte 2020 ein weiterer Einschnitt. Chemtrails, Reptiloiden – und Juden, die Kinder schlachten und deren Blut trinken: Mit dem Glauben an Verschwörungsmythen habe die Radikalisierung ihren Lauf genommen. Der Radikalisierungsprozess sei „nicht von 0 auf 100“ erfolgt. Erst 2021, als Ingo K. nach Bobstadt zog, sei der „maßgebliche Einschnitt“ erfolgt. Nun lebte er auf dem Bauernhof des „Reichsbürgers“ Heiko A. und dessen Familie.
„Entscheidender Schub“
Nun, unter Gleichgesinnten, habe der Radikalisierungsprozess einen „entscheidenden Schub“ erhalten. Man sei überzeugt gewesen, der Bauernhof liege außerhalb der bundesrepublikanischen Rechtsordnung. Auf dem Hof habe Ingo K. gemeinsam mit seinem Vermieter mehrere Behördenschreiben verfasst. Die Schreiben enthielten Formulierungen aus dem „Reichsbürger“-Milieu. Mit dem Hofleben habe er den „Kontakt zur Außenwelt und damit auch jedwedes Korrektiv andersdenkender Personen“ verloren. Seine Waffen habe er nicht mehr abgeschlossen, sondern sie seien „jederzeit zugriffsbereit“ und mehrheitlich „einsatzbereit“ gewesen. Im Frühjahr 2022 sei das Auftreten gegen den Staat „massiver“ geworden. So habe er am 8. April, knapp zwei Wochen vor der Tat, einen Finanzbeamten bedroht. Am Ende mündete der Radikalisierungsprozess in die „Anwendung massivster Gewalt“.
„Aus Gründen der Verhältnismäßigkeit“
Der Vorsitzende Richter spricht über den Widerruf der Waffenbesitzerlaubnis. Der Widerrufbescheid vom 28. August 2021 sei „ordnungsgemäß zugestellt“ worden. An der Zustellung bestehe kein Zweifel. Ingo K. selbst habe laut seinem Vermieter gesagt, er müsse seine Pistole Glock abgeben. Da er die Abgabefrist verstreichen lässt, sei die Schusswaffe illegal geworden. Um die Waffe einzuziehen, sei das SEK angefragt worden. Schließlich sei die Gesinnung von Ingo K. und der Familie A. bekannt gewesen. Am 20. April 2022 seien 43 Polizist*innen, darunter 16 SEK-Beamt*innen, im Einsatz gewesen. Man habe „besonderen Wert“ auf die Erkennbarkeit der Polizei gelegt (Blaulicht, Martinshorn, „Polizei“-Rufe). Grundstückszaun und Rollladen der Terrassentür seien „aus Gründen der Verhältnismäßigkeit“ mit einem Trennschleifer geöffnet worden.
„Brutalstmögliches Vorgehen“
Der SEK-Beamte Nr. 10 habe die Flex um 6:10 Uhr am Rollladen angesetzt. Er schneidet erst vertikal, dann horizontal. Er setzt ab, es folgt ein „Polizei“-Ruf. Als er den Trennschleifer zur Seite legt und zum Entglasungswerkzeug greift, folgte ein weiterer „Polizei“-Ruf. Der Vorsitzende Richter betont, der Angeklagte müsse die Polizei durch die geöffneten Lamellen seines Rollladens gesehen haben. Er hätte die Gefahrensituation durch Abgabe der Waffe oder durch Rufe aus dem Haus beenden können. Stattdessen habe er das „brutalstmögliche Vorgehen“ gewählt und das Feuer mit 21 Einzelschüssen eröffnet. Bereits der dritte und vierte Schuss habe die beiden Oberschenkel des SEK-Beamten Nr. 10 getroffen. Als SEK-Beamt*innen das Gegenfeuer eröffnet, habe Ingo K. das Zimmer gewechselt, um seinen Beschuss fortsetzen zu können.
„Niedrigkeit und Verwerflichkeit“
Der Vorsitzende Richter kommentiert: „Wer glaubt, es sei keine Steigerung an Niedrigkeit und Verwerflichkeit möglich“, werde mit den folgenden Schusssequenzen eines Besseren belehrt. Nun habe der Angeklagte auf diejenigen SEK-Beamt*innen, die den Verletzten evakuiert haben, geschossen. Die zweite Sequenz erfolgte mit neun, eine dritte – nach einer Pause von sieben Sekunden – mit sechs Einzelschüssen. Nach zweiminütiger Pause erfolgt die vierte und letzte Sequenz mit drei Dauersalven (drei, zwei, vier Schüsse). Während der Angeklagte mit Max A., dem Sohn des Vermieters, in der Wohnung ausharrt, sei eine Nebelgranate eingesetzt worden, um den Rückzug dreier SEK-Beamt*innen zu ermöglichen. Die Granate habe einen Holzstapel getroffen und den Carport in Brand gesetzt. Später habe das Wohnhaus gebrannt. Um 8:03 Uhr verlassen Ingo K. und Max A. das Haus, deren Festnahme erfolgt um 8:12 Uhr.
„Kein umfassendes Geständnis“
Nun thematisiert der Vorsitzende Richter die vier Einlassungen des Angeklagten. Gegenüber der Polizei, gegenüber zwei Gutachtern, gegenüber dem Senat. Er stellt fest, Ingo K. habe „kein umfassendes Geständnis“ abgelegt. Aussagen seiner Einlassungen seien teils widerlegt, teils „Schutzbehauptungen“ gewesen. Eine akute Panikreaktion sei auszuschließen. Zur Frage, ob eine zweite Person geschossen habe, sagt der Vorsitzende Richter, es sei aus einer Waffe geschossen worden. Die einzigen DNA-Spuren, die an der Waffe sichergestellt wurden, stammten vom Angeklagten. Daher sei ein zweiter Schütze auszuschließen. Über die Mordmerkmale sagt der Vorsitzende Richter, in allen vier Sequenzen sei das Merkmal der niedrigen Beweggründe erfüllt. Der Angeklagte habe die Schüsse „aus ideologischer Überzeugung heraus“ abgegeben.
„In Sicherheit gewiegt“
Im Falle der Schüsse auf den SEK-Beamten Nr. 10 komme das Merkmal der Heimtücke hinzu; er sei arg- und wehrlos gewesen. Die Aufnahmen mehrerer Helmkameras, die am 7. Prozesstag gezeigt wurden, hätten gezeigt, wie lange das Aufschweißen des Rollladens dauerte. Indem Ingo K. ruhig blieb und nicht reagierte, habe er sein Opfer „in Sicherheit gewiegt“. Abschließend sagt er, der Strafsenat verhänge 12 Jahre und sechs Monate für die erste Tat (1. Schusssequenz; versuchter Mord inkl. gefährliche Körperverletzung), 11 Jahre für die zweite (2./3. Schusssequenz; versuchter Mord), vier Jahre für die dritte (Widerstand gegen und tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte) und vier Jahre für die vierte (Verstöße gegen das Waffen- und Kriegswaffenkontrollgesetz). Die Einzelstrafen würden wegen der einheitlichen Tatmotivation und des engen Zeitrahmens zu 14 Jahren und sechs Monaten zusammengefasst.
„Künftige Gefährlichkeit“
Aus Sicht des Strafsenats bestehe eine „deutliche Wahrscheinlichkeit“, dass Ingo K. erneut Straftaten verüben würde. Aktuell sei von einer „künftigen Gefährlichkeit“ auszugehen. Bislang habe er noch „keinen Ansporn“ erkennen lassen, das „Reichsbürger“-Milieu zu verlassen. Der Vorsitzende Richter resümiert: Ob eine Sicherungsverwahrung vonnöten sei, werde die „künftige Entwicklung“ zeigen. Dann ist der Prozess – nach 29 Hauptverhandlungstagen, den beiden Plädoyers der Bundesanwaltschaft und der Verteidigung sowie dem Urteil des 7. Strafsenats – beendet. Nun hat der Angeklagte binnen einer Woche die Möglichkeit, Revision gegen das Urteil einzulegen.
Unsere bisherige Berichterstattung
Tag 1: „Reichsbürger“ wegen 14-fachem Mordversuch vor Gericht
Tag 2: „Mein Wunsch war, Verfassungsschützer zu werden“
Tag 3: Hobbys – Buddhismus und Waffen
Tag 4: Eine Garderobe mit Waffen
Tag 5: Die Kurkuma-Verschwörung
Tag 6: „Wir haben Waffen, um gegen die Tyrannei zu kämpfen“
Tag 7 und 8: „Es kann alles oder nichts passieren“
Tag 9 und 10: Mein Nachbar, der freundliche „Reichsbürger“
Tag 11 und 12: Die Schmauchspuren des Schützen
Tag 13 und 14: Die Schützenhilfe der Familie A.
Tag 15 und 16: „Die wollten rein, ich bin durchgetickt“
Tag 17 und 18: Die Hilferufe des „Reichsbürgers“
Tag 19 und 20: „Absolutes Bedauern“ bei mutmaßlichen Täter
Tag 21: Reichsbürgerprozess Bobstadt: Der angebliche „Personenschützer-Reflex“
Tag 22: Eine Friedenstaube mit Hakenkreuz
Tag 23: Alles „amüsant“ und „lächerlich“?
Tag 24 und 25: Schüsse – eine „affektive Überreaktion“?
Tag 26 und 27: Die zwei Phasen der Radikalisierung des Angeklagten
Tag 28: „Ich bitte um Verzeihung“
Tag 29 und 30: Bundesanwaltschaft fordert lebenslängliche Haft