Schüsse in Bobstadt. Als das SEK in dem 400-Seelen-Dorf im Nordosten Baden-Württembergs anrückt, um die Wohnung von Ingo K. wegen illegaler Waffen zu durchsuchen, eröffnet er mit einem vollautomatischen Gewehr plötzlich das Feuer. Denn K. ist Reichsbürger – mutmaßlich. Und das SEK: Repräsentant eines verhassten Staates, dessen Existenz er angeblich nicht anerkennt. Ein Beamter wird am Bein getroffen und sinkt unter Schmerzensschreien zu Boden, ein weiterer kommt dank Schutzkleidung glimpflich davon. K.s Haus geht unterdessen in Flammen auf, Brandursache unklar. Es ist der 20. April 2022, ausgerechnet Hitlers Geburtstag. Und der Tatort Bobstadt sorgt für bundesweite Schlagzeilen.
Erst vier Monate zuvor zieht Ingo K. nach Bobstadt, mietfrei in die Wohnung eines „Selbstverwaltungsbauernhofs“ vom Eigentümer Heiko A. Sein eigenes Reich. Eines, das zur Not mit Waffen verteidigt werden muss. Die Gegenstände, die die Polizei nach der Schießerei auf dem Grundstück sicherstellt, lassen wenig Interpretationsspielraum: ein Dolch mit integriertem Hakenkreuz, eine Reichskriegsflagge, eine Axt mit Runen. Hinzu kommt ein regelrechtes Arsenal an Waffen. Und 5.116 Schuss Munition.
Genau ein Jahr später wird der Prozess gegen Ingo K. eröffnet, in einem Hochsicherheitsaal in Stammheim. Seit den Schüssen in Bobstadt sitzt er in Untersuchungshaft, Begründung: Fluchtgefahr. Die Anklage wiegt schwer: 14-facher Mordversuch. Eine Schwere, die den Angeklagten aber wenig zu beeindrucken scheint. Der Mann, der wild auf das Spezialeinsatzkommando schoss, wirkt vor dem Stuttgarter Gericht erstaunlich ruhig. Hinter einer Glaswand streichelt er seinen grauen Bart mit den Fingern, seine Haare trägt er im Zopf, am Hals ein runenähnliches Tattoo.
Vor Gericht will Ingo K. plötzlich kein Reichsbürger mehr sein. Der Reichsbürger-Ausweis, den er im Schützenverein zeigte, die Briefe an Behörden, in denen er die Bundesrepublik als Firma im US-amerikanischen Delaware abtat, die Äußerungen gegenüber Freund*innen, dass die Alliierten Deutschland noch kontrollierten – alles nur ein Scherz. „Ich wollte etwas provozieren“, sächselt der 55-Jährige, ursprünglich aus Plauen. Oder er will alles auf seinen Vermieter und Freund Heiko A. schieben. Und dass er behauptet haben soll, Juden würden Kinder schlachten und deren Fleisch verkaufen? Eine „glatte Lüge“.
Eine Verteidigung, die ohnehin wackelig ist. Und die durch einen Blick auf seine Vita richtig ins Wanken kommt: ein vorbestrafter Kampfsportler und Waffennarr, der „Querdenken“-Kundgebungen besuchte, der eine Richterin mit Hund und Taschenmesser dabei „zur Rede stellen“ wollte, der vermummt mit Schutzhandschuhen an einer rechtsextremen Demonstration gegen „verfehlte Migrationspolitik“ teilnahm.
Rechtsunten mit Tradition
Bobstadt ist kein Einzelfall, sondern reiht sich ein in eine lange Reihe rechtsextremer Umtriebe in Baden-Württemberg. Das weiß Andreas Hässler aus erster Hand. Seit Jahren recherchiert er zur extremen Rechten in der Region, seit 2017 bei mobirex – einer Fachstelle im Demokratiezentrum Baden-Württemberg. Denn Rechtsextremismus ist kein „Problem des Ostens“, wie manche gerne behaupten. „Das ist zu verkürzt, das ist Projektion“, sagt Hässler. „Auch hier haben wir einen relativ hohen Anteil extrem rechter Aktivitäten“, sagt der Mann Ende 30 mit Bart und Brille im Stuttgarter Büro der Organisation.
Das zeigen exemplarisch die Wahlen für den Bundestag und Landtag 2021: Hier erreichte die AfD knapp zehn Prozent, so viel wie nirgendwo sonst in Westdeutschland, 2016 waren es in Baden-Württemberg sogar 15,1 Prozent. Und das hat Tradition: Schon 1968 hatte die NPD mit 9,8 Prozent ihr bislang bundesweit bestes Ergebnis im Ländle. Die Republikaner schafften es in den 1990er Jahren zweimal in den Landtag. 2013 wurde die neonazistische Kleinpartei „Der III. Weg“ in Heidelberg gegründet und fasste in den vergangenen Jahren in der Region zunehmend Fuß.
Heilbronn war lange Hotspot: Dort erschoss 2007 der NSU die Polizistin Michèle Kiesewetter. Vier Jahre später am 1. Mai marschierten rund 750 Neonazis direkt am Tatort vorbei. Im Abschlussbericht des NSU-Untersuchungsausschusses in Baden-Württemberg heißt es: In Heilbronn gebe es „eine durchgehende, überregional gut vernetzte, aktive rechtsextremistische Szene“.
2020 war Stuttgart Geburtsort der „Querdenken“-Bewegung, die Esoteriker*innen, Verschwörungsfans und Rechtsextreme im Kampf vereinte.
Hässler betont: „Auch in einem relativ wohlhabenden Bundesland wie Baden-Württemberg, mit gut aufgestellter Automobilindustrie und solidem Mittelstand, finden extrem rechte Akteur*innen Resonanz.“
Der Prinz und der Putsch
Vor allem das reichsideologische Spektrum sei lange unterschätzt worden, so Hässler. Ein Umdenken innerhalb der Sicherheitsbehörden kam erst mit Georgensgmünd in Bayern, einem Fall, der einige Parallelen zu Bobstadt aufzeigt: 2016 erschoss ein 49-jähriger Reichsbürger einen Polizisten in der mittelfränkischen Gemeinde, als ihm seine Waffen entzogen werden sollten, weitere Polizisten wurden verletzt. In jüngerer Vergangenheit sorgte ein Vorfall in Lörrach, am südlichen Ende Baden-Württembergs, für Schlagzeilen: Ein 62-jähriger Reichsbürger wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt, nachdem er im Februar 2022 einen Polizisten bei einer Verkehrskontrolle umgefahren und schwer verletzt hatte.
Im Dezember 2022 machte ein spektakulärer Fall Reichsbürger weltweit bekannt: Das Netzwerk „Patriotische Union“ um Heinrich XIII. Prinz Reuß soll vor Weihnachten einen Staatsstreich geplant haben. Bei den Razzien war Baden-Württemberg ein Schwerpunkt: Ein Drittel der 25 Festgenommenen wohnte dort, rund 40 der 182 Hausdurchsuchungen fanden in dem Bundesland statt. Heiko A., Vermieter von Ingo K., hatte Kontakt zu einem der Mitbeschuldigten: Matthes H., der im künftigen „Reich“ von Reuß „Minister für Völkerrecht“ werden sollte. Nach dem SEK-Einsatz in Bobstadt bat er ihn auf Telegram um Hilfe, „wie ich mich gegen dieses Verbrechen zur Wehr setzen kann“.
Trotzdem wird die Gefahr von Reichsbürgern immer wieder verharmlost: „Manche sprechen vom Rentner-Putsch, aufgrund des hohen Alters der Tatverdächtigen. Aber damit wird das Gefahrenpotenzial unterschätzt“, so Hässler. „Und wenn jemand tief in dieser Ideologie drin steckt und Waffen besitzt dann ist das ein explosives Gemisch.“
Davor warnt auch Anna Weers, Referentin für Rechtsextremismus im ländlichen Raum bei der Amadeu Antonio Stiftung: „Die Gefahr wird von Sicherheitsbehörden immer noch nicht richtig anerkannt.“ Laut Zahlen des Verfassungsschutzes sollen nur etwa fünf Prozent der insgesamt 23.000 Reichsbürger überhaupt rechtsextrem sein. Ihre Strategie ähnele jedoch vermehrt der der völkischen Siedler*innen, so Weers: „Es geht um Landnahme, ob in Niedersachsen, der Uckermark oder auch Baden-Württemberg: Sie kaufen Flächen und Immobilien, als rechtsextremen Rückzugsort.“
Ein „unauffälliger Mitbürger“
Besuch in Bobstadt: ein Stück ländlicher Idylle, umrahmt von Hügellandschaften und Windrädern. Mittendrin: ein oranges Haus mit großer Rune an der Fassade. Dort wohnt Heiko A., sein Name steht in Frakturschrift an der Tür. „Bitte keine Post mehr einwerfen für Ingo K.“, heißt es auf einem Schild. Darunter K.s neue Adresse: die JVA Schwäbisch Hall. Auf dem Grundstück steht noch die Brandruine von K.s Wohnung, überdeckt mit einer Plane.
Aber das Grundstück von Heiko A. ist nicht das einzige, was in dem sonst unauffälligen Dorf hellhörig macht: Um die Ecke steht ein Zigarettenautomat, auf dem Sticker des „III. Weg“ und der „Identitären Bewegung“ klebten, inzwischen wurden sie entfernt. Und da ist auch noch die Geschichte mit dem stellvertretenden Ortsvorsteher von Bobstadt, Heiko Gubelius, der Black-Metal-Konzerte mit Rechtsrock-Bands veranstaltete.
„Wir waren alle erschüttert“, erzählt Heidrun Beck, Bürgermeisterin der Stadt Boxberg, zu der Bobstadt gehört. Sie empfängt im Rathaus, einem blassgelben Barockbau fünf Autominuten vom Tatort entfernt. Die parteilose Politikerin wuchs in Bobstadt auf. Als die Schüsse fallen, ist die 37-Jährige erst ein Jahr im Amt, sie erfährt davon morgens früh via WhatsApp. Die Meldung kommt überraschend. Heiko A. sei ein „unauffälliger Mitbürger“ gewesen, der in der Solarbranche gearbeitet habe, bevor seine Firma in Konkurs gegangen sei.
Eigentlich liegt Becks Schwerpunkt auf Bildung und Betreuung, nicht auf bewaffneten Reichsbürgern: „Darauf hätte ich gerne verzichtet“, lacht die Bürgermeisterin. Seitdem gehört auch politische Aufklärung zu ihrem Job. Die Stadt arbeitet mit dem „Netzwerk gegen Rechts Main-Tauber“ zusammen, das vergangenes Jahr den Antisemitismusbeauftragten des Landes, Michael Blume, zu einem Vortrag nach Boxberg einlud. Ab Mai 2023 veranstaltet das Netzwerk die dreiteilige Eventreihe „Tatort Bobstadt“, gefördert von der Amadeu Antonio Stiftung. Zu den Redner*innen zählen Soziologie-Professor Matthias Quent, taz-Autor Andreas Speit und NSU-Nebenklage-Anwältin Seda Başay-Yıldız.
Rückzugsort ländlicher Raum
Organisiert wird die Reihe „Tatort Bobstadt“ unter anderem von Timo Büchner. Der junge Journalist ist im „Netzwerk gegen Rechts Main-Tauber“ aktiv und kennt die extreme Rechte in Baden-Württemberg wie kein zweiter. Seit Jahren beleuchtet er deren Umtriebe, schreibt in Artikeln und Büchern zu Rechtsrock, Rechtsterrorismus und geheimen Neonazi-Treffen. „Es ist mir wichtig, den Blick auf den ländlichen Raum zu werfen“, sagt Büchner mit sanfter Stimme. Das gefällt nicht allen in der Region. Deshalb möchte er lieber nicht vor die Kamera.
Vor allem eine Adresse kommt bei Büchners Recherche immer wieder vor: das „Jugendheim Hohenlohe“ in Herboldshausen, 50 Kilometer südlich von Bobstadt, eine Immobilie des „Bundes für Gotterkenntnis (Ludendorff) e.V.“. Seit 1972 besitzt die völkische Gruppe das alte Fachwerkbauernhaus im württembergischen Weiler. Ein unscheinbares Örtchen. Doch die Kulisse trügt: „Das Objekt ist zum Dreh- und Angelpunkt der extremen Rechten in Süddeutschland geworden“, erklärt Büchner bei einem Ortsbesuch. Heute ist das Haus leer, die Vorhänge zu. Wenig deutet auf die Relevanz des „Jugendheims“ für die extreme Rechte hin, bis auf eine Überwachungskamera auf dem Gelände.
Das Ludendorffer-Haus ist ein wichtiger Vernetzungsort, der verschiedene Teile der Szene zusammenbringt. So lud die Neonazi-Gruppe „WIR Heilbronn“ dort im Oktober 2021 zum „Thing der Titanen“ ein. Es kamen Szene-Promis wie „Hammerskin“-Funktionär Malte Redeker und NSU-Anwältin Nicole Schneiders. Im März 2022 fand im Haus ein „Aktivistenwochenende“ der „Identitären Bewegung“ statt. Im November 2022 organisierte die NPD-Jugend JN einen „Gemeinschaftstag“. Und zum Neujahr 2022/23 führte der rechtsextreme „Sturmvogel – Deutscher Jugendbund“ dort ein geheimes Winterlager durch. 2022 gab es im Schnitt ein Treffen pro Monat.
„Gerade im ländlichen Raum ist es ein Rückzugsort, um sich ungestört austauschen zu können“, sagt Büchner, der über die Aktivitäten in Herboldshausen für Belltower.News berichtet. Aber es regt sich auch Widerstand vor Ort: „Ein zivilgesellschaftliches Bündnis gegen das Haus, gegen die rechtsextremen Umtriebe in Herboldshausen ist gerade in der Gründungsphase“, erklärt er.
Auch den Bobstadt-Prozess gegen Ingo K. beobachtet Timo Büchner für Belltower.News. „Mir ist wichtig klarzumachen, worum es da geht: dass das keine Spinner sind, sondern Menschen mit einer Ideologie. Und dass diese Ideologie, die den Staat ablehnt oder nicht anerkennt, zu einer Bluttat wie in Bobstadt führen kann.“ Es sei Zufall, dass niemand gestorben ist.
Der Prozess dauert noch an. Er zeigt eindrücklich: Auch im Ländle tobt der rechte Rand.