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Reportage Eine Roma-Community in Berlin wird bald obdachlos

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Ein Haus, das für Schlagzeilen sorgt. Die ganze Community wird nun von Obdachlosigkeit bedroht
Ein Haus, das für Schlagzeilen sorgt. Die ganze Community wird nun von Obdachlosigkeit bedroht (Quelle: Nicholas Potter)

David steht vor seinem Dorf – einem fünfstöckigen Betonbau im Berliner Stadtteil Friedrichshain. Auf den Balkonen hängen Wäscheleinen. Die Fassade sieht immer noch so aus wie zu DDR-Zeiten: trüb, rau, grau. Hier wohnt David zusammen mit etwa 350 anderen Rom:nja in rund 40 Wohnungen. Der älteste Bewohner ist um die 80 Jahre alt, die jüngste Bewohnerin ist erst wenige Wochen alt. Alle kommen aus demselben Ort in Rumänien, Fântânele, ein kleines Dorf in der Nähe von Bukarest. Seit 2015 ist der Wohnblock in der Straße der Pariser Kommune ihr Zuhause – eine kleine Gemeinde mitten in der Großstadt. Das sei wichtig, betont David. „Die meisten Roma-Communitys versuchen, sich im gleichen Kiez niederzulassen“, erklärt der 22-Jährige. „Dahinter steht Solidarität: Denn wenn du täglich mit so vielen Diskriminierungserfahrungen konfrontiert bist, geht das nicht anders. Du brauchst dein Netzwerk für die Unterstützung“.

1000 Mitglieder der ursprünglich 6000-Seelen-Gemeinde in Rumänien wohnen inzwischen in der Hauptstadt. Zunächst zog Davids Onkel nach Berlin, damals stand der Plattenbau in der Straße der Pariser Kommune größtenteils leer. Der Vermieter fragte ihn, ob er auch andere Menschen kenne, die einziehen würden. So zog nach und nach das Dorf in den Wohnblock ein. Ein Neuanfang, doch nicht ohne Probleme: „Ich habe mir das Leben hier einfacher vorgestellt“, sagt David, der inzwischen sechs Jahre in Deutschland lebt und fließend Deutsch spricht. „Aber es war in den ersten Jahren sehr schwierig – vor allem wegen der Sprachbarrieren und der Bürokratie“. Eine Motivation, zu bleiben, sei Bildung gewesen. „In Rumänien hatten wir keinen Zugang zu Bildung.“

Das „Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma“ spricht von insgesamt etwa 70.000 Sinti:zza und Rom:nja in Deutschland. Im Bildungssystem bleiben sie unterrepräsentiert: Laut der RomnoKher-Studie 2021 haben nur 15 Prozent der Befragten unter 30 Jahren Abitur, gegenüber 40 Prozent in der Gesamtbevölkerung. Nur vier Prozent schließen ihr Studium ab, knapp 60 Prozent der über 50-Jährigen haben gar kein Schulabschluss. Inzwischen hat David seine Ausbildung als Erzieher abgeschlossen und studiert jetzt Soziale Arbeit. Nebenbei arbeitet er ehrenamtlich bei RomaTrial, einer selbstorganisierten Gruppe, die über das Thema Antiziganismus auf der Bühne, in Workshops und auch im Internet aufklärt.

Ein Thema, das für David Alltag ist. Die Medien beschreiben sein Haus als „Schrottimmobilie“, als „Problemhaus zwischen Berghain und Zalando“. Vor allem die Boulevard-Presse stellt das Haus gerne als sozialen Brennpunkt oder neulich auch Corona-Hotspot in rassistisch aufgeladenen Berichten dar. Im Juni 2020 gab es im Haus einen Covid-Ausbruch, 44 Bewohner:innen infizierten sich. Das ganze Haus stand unter Quarantäne und musste von außen versorgt werden.

Doch schon vor der Pandemie stand das Haus in der Presse: Im Juni 2018 schoss ein Anwohner aus Belarus auf ein siebenjähriges Roma-Mädchen, das im Haus wohnt, weil die spielenden Kinder zu laut gewesen seien (siehe Die Welt). Er traf sie am Arm, sie wurde leicht verletzt. Daraufhin stürmte eine SEK-Einheit mit Blendgranaten die Wohnung. Medienberichte zeigten sich empathisch auf der Seite des Schützen. Es war nicht der erste Vorfall dieser Art: Bereits 2015 schoss ein polnischer Anwohner aus seiner Wohnung heraus auf einen neunjährigen Roma-Jungen, der vor dem Haus spielte (siehe Tagesspiegel). Er musste im Krankenhaus notoperiert werden. Der 49-jährige Schütze hatte mehr als drei Promille Alkohol im Blut.

Dass die Familien im Haus zu laut seien, kann David nicht verstehen: „Wir sind Finsler, das ist eine sehr christliche Gemeinde. Bei uns wird nicht getanzt oder gefeiert, wir sind nicht laut und möchten keinen Stress mit anderen Menschen“, betont er. „Es ist ganz ruhig bei uns.“ Um den negativen Schlagzeilen entgegenzuwirken, entstand 2018 ein Film über das Haus, organisiert vom Projekt „Gangway“, das sich für die Community einsetzt. „Bei uns ist das so! – Roma in Berlin Friedrichshain“, heißt die Dokumentation, die von den Sorgen, Wünschen und Alltag der Bewohner:innen erzählt.

Die Wohnbedingungen verschlechtern sich allerdings zunehmend, das Gebäude ist in einem verwahrlosten Zustand: Bewohner:innen kritisieren gefährliche Wasserrohre und Stromleitungen, die direkt nebeneinander gelegt sind. Auch Wasserschäden an den Decken, kaputte Heizungen im Winter und eine unzureichende Müllentsorgung gehören zu den Mängeln. Im Sommer dieses Jahres wurde der Keller mit Fäkalienwasser überschwemmt, nachdem ein Abwasserrohr geborsten war. Zwei Wochen vergingen, bevor das Problem behoben wurde – ein erhebliches Gesundheitsrisiko für das Haus. „Wäre das in einem anderen Bezirk passiert, wo nur Deutsche leben, hätte das Bezirksamt in zwei Tagen alles geregelt“, moniert David. Im Juli 2021 erklärte das Bezirksamt sogar eine Wohnung für unbewohnbar, die Familie musste in eine andere Wohnung im Haus umziehen.

Nun droht dem Dorf allerdings vollständig das Aus – wegen eines Vermieterwechsels. Die neue Vermieterin soll nach der Scheidung von ihrem Ehemann Eigentümerin des Gebäudes geworden sein. Das Haus gehört seit Oktober 2019 der neugegründeten „Str. der Pariser Kommune 20A-E UG“, deren Geschäftsführerin Natalia I. ist (Name der Redaktion bekannt, ehemals Natalia P.). Natalia I. ist zudem seit 2013 Geschäftsführerin von „Berlin Invest Partner AN GmbH“, seit 2019 auch von „i.c.s. PaKo GmbH“ und „PK20 Investment GmbH“. Alle Unternehmen sind an der gleichen Adresse in Berlin-Friedrichsfelde angemeldet. „Berlin Invest Partner AN GmbH“ spezialisiert sich laut angegebenen Unternehmenszweck u.a. auf die Bereiche Bauwesen, Immobilienentwicklung und Hausverwaltung. Von 2010 bis 2018 war Natalia I. Geschäftsführerin der „Immobilienpartner EU Natil Gesellschaft für Wohn- und Gewerberaum mbH“, die vor drei Jahren in sieben Liegenschaften aufgeteilt wurde. Dem Wirtschaftsportal „CompanyHouse“ zufolge kommt sie aus Moskau. Laut ihrem privaten Facebook-Profil wohnt Natalia I. inzwischen in Berlin, auch Fotos auf ihrem Instagram zeigen sie in der Haupststadt.

Seit Natalia I. Vermieterin des Hauses ist, häufen sich die Mängel. 2020 entschloss sie sich, das Haus abzureißen und dort einen hochmodernen Wohn- und Arbeitskomplex zu errichten. Dafür muss sie die Bewohner:innen, die allesamt unbefristete Mietverträge haben, loswerden. „Sie versucht alles Mögliche, um uns hier rauszukriegen“, beklagt David. Auf eine Anfrage von Belltower.News mit einem umfangreichen Fragenkatalog reagierte Natalia I. nicht.

Der Unwille, das Wohnhaus instandzusetzen, sei aber nur eine Taktik. Laut Bewohner:innen werde das Mietkonto ständig gewechselt, wegen angeblich fehlender Mietzahlung werde dann eine Kündigung geschickt. Das Berliner „Bündnis gegen Antiziganismus und für Roma*-Empowerment“ (BARE) erzählt gegenüber Belltower.News, dass ein Anwalt der Vermieterseite dem Jobcenter aufgetragen habe, die Mieten der Bewohner:innen gesplittet auf verschiedene Konten zu überweisen, da eine Gütertrennung nach der Scheidung des Vermieterpaares angestanden habe. Das Ergebnis: ein Chaos und schließlich Kündigungen, da angeblich ein Teil der Miete gefehlt habe. „In einem gemeinsamen Kraftakt von Gangway Friedrichshain, RAA Berlin und der Mieterberatung Asum konnten die Kündigungen aber erfreulicherweise abgewendet werden“, erzählt Irene Eidinger, Pressesprecherin von BARE.

Bewohner:innen werfen der Vermieterin zudem vor, regelmäßig Müll im Hinterhof abzuladen. Oder sie bekommen Räumungsklagen: In sechs Jahren habe Davids Vater nur einmal einen Tag zu spät die Miete überwiesen, das war 2018. „Es war ein Versehen“, erklärt David, für die Vermieterin aber trotzdem ein Kündigungsgrund – den ein Gericht allerdings zurückwies.

Auch mit dem gekippten Mietendeckel stellt sich die Vermieterin quer: Nachdem das Bundesverfassungsgericht 2021 das Berliner Gesetz für ungültig erklärt hatte, mussten Berliner Mieter:innen die Differenz zurückzahlen. In diesem Fall sollte die Miete vom Jobcenter bezahlt werden, das allerdings ein Schreiben von der Vermieterin über die Höhe der fehlenden Miete benötigt. Die Vermieterin wollte dieses Schreiben nicht ausstellen, klagte aber trotzdem, dass der Betrag nicht überwiesen wurde.

Hinter dem Verhalten der Vermieterin sieht David antiziganistische Ressentiments. Auch in Rumänien wird die Roma-Community systematisch und strukturell diskriminiert. „Die Situation in Deutschland ist für uns aber schlimmer“, so David. In Berlin hat er bereits die ganze Bandbreite an Diskriminierung erlebt: „Von Beleidigungen bis zur Schlägerei“, sagt er. Ob in der U-Bahn, im Supermarkt oder auf der Straße, ist er ständig mit Antiziganismus konfrontiert: „Einfach nur, weil wir unsere Sprache sprechen. Und ja, wir sprechen vielleicht ein bisschen lauter. So ist unsere Sprache aber halt“. David und seine Freund:innen werden in der Öffentlichkeit oft aufgefordert, Deutsch zu sprechen, „weil wir hier Deutschland sind“. Sie werden mit dem Z-Wort beleidigt, oder ihnen wird vorgeworfen, Diebe zu sein.

Die offiziellen Zahlen bilden das Phänomen aber kaum ab: Auf eine Anfrage der Linksfraktion im Berlin Abgeordnetenhaus im Jahr 2020 antwortete die Senatsverwaltung für Inneres und Sport, dass zwischen 2017 und 2020 lediglich 56 antiziganistische Vorfälle erfasst wurden. Seit vier Jahren wird Antiziganismus als eigenständige Kategorie in der Statistik „politisch motivierte Kriminalität“ dokumentiert – mit einer stetigen Zunahme. 2017 wurden 41 Fälle aufgezeichnet, 2019 waren es mit 78 fast doppelt so viel, darunter zwei versuchte Tötungsdelikte. Die Dunkelziffer dürfte aber wesentlich höher sein.

Auch wegen der gesellschaftlichen Stimmungen gegen Rom:nja ist die Situation in der Straße der Pariser Kommune besonders gravierend. Auf dem sowieso angespannten Wohnungsmarkt haben die Familien kaum eine Chance, eine Wohnung zu bekommen. In einem offenen Brief vom 8. Oktober an die Bezirksstadträtin Clara Herrmann (Grüne) wirft das Bündnis BARE ihr vor, die Obdachlosigkeit von ungefähr 30 Familien bewusst in Kauf zu nehmen. „Wir sind alarmiert über die noch immer ausbleibenden Lösungen für die Wohnsituation der Bewohner*innen“, schreibt BARE. Unter anderem kritisiert das Bündnis, dass der Bezirk die Chance, die Immobilie in das Eigentum kommunaler Wohnungsbaugesellschaften zu überführen, ungenutzt verstreichen ließ. So hätten sie die kommunale WBM verpflichten können, das Haus zu erwerben und selbst zu sanieren. Von Beginn an sei der Bezirk auf die Situation hingewiesen worden, heißt es. Mehrere Stellungnahmen und Brandbriefe von sozialen Trägern habe der Bezirk aber bis heute unbeantwortet gelassen, berichtet BARE gegenüber Belltower.News.

Seit November 2020 soll der Bezirk versucht haben, ein Sozialplanverfahren zu vereinbaren, um die drohende soziale Katastrophe abzuwenden. Es fand eine Mieter:innenversammlung im Haus mit dem Baustadtrat Florian Schmidt (Grüne) statt, bei der er beteuerte, dass niemand auf der Straße landen werde. Danach sei Schmidt aber nicht mehr erreichbar gewesen, kritisiert BARE. Seit einem Jahr herrscht Stillstand: BARE fordert nun ein schnelles Handeln vom Bezirk. Auf eine Bitte um Stellungnahme von Belltower.News reagierte weder Florian Schmidt noch Clara Herrmann.

BARE betont, wie wichtig es ist, dass die Familien in Friedrichshain bleiben. „Die Kinder der Familien sind in Betreuungsinstitutionen im Kiez gut eingebunden“, heißt es im offenen Brief. Über die Jahre habe sich ein enges vertrauensvolles Unterstützungsnetzwerk durch Friedrichshainer Träger für die Familien etablieren lassen. Hinzu kommen bürokratische Hürden: Bürger:innen mit rumänischen Ausweispapieren müssen bei Bezirkswechsel einen kompletten Neuantrag stellen und ihre Bezugsberechtigung vorweisen, obwohl sie bereits vorher in einem anderen Bezirk Leistungen bezogen haben.

„Ich will, dass jemand uns hilft“, sagt David verzweifelt. „Ich habe Angst, dass wir auf der Straße oder in irgendwelchen Wohnheimen landen, wo viele Menschen auf engstem Raum wohnen. Ich habe Angst um meine kleinen Geschwister.“ Manche Familienmitglieder überlegten, ob sie wieder nach Rumänien gehen müssen. „Wir fühlen uns im Stich gelassen – von der Politik, aber auch von der Gesellschaft“. Die ersten Räumungen stehen bevor, die Zeit läuft.

Update 29. Oktober 2021: Eine Pressesprechin des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg teilte mit, dass es seit zwei Jahren Gespräche mit der Eigentümerin gegeben habe. Seit April seien insgesamt 16 Wohnungsaufsichtsverfahren aufgrund von Mängeln im Haus gestartet worden, die teilweise noch laufen. Für 16 Haushalte mit 47 Menschen habe der Bezirk zusammen mit der Mieterberatung asum bereits geeignete Umsetzwohnungen finden können.

Laut Baustadtrat Florian Schmidt wurde nun ein Sozialplanverfahren mit der Eigentümerin vereinbart, das noch von der russischen Immobilienfirma, die das Grundstück entwickeln will, unterschrieben werden muss: Nach diesem Plan sollen die Bewohner:innen nach Fertigstellung des Neubaus zu bezahlbaren Mieten wieder einziehen dürfen. Schmidt dementiert, nicht erreichbar gewesen zu sein. Der Bezirk könne der WBM nicht verpflichten, das Haus zu kaufen. Gespräche zwischen Eigentümerin und WBM habe es bereits gegeben, doch diese seien aus unbekannten Gründen gescheitert, heißt es weiter auf Anfrage.

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