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Rezension Diagonose Judenhass – „Wir fühlen uns im Stich gelassen“

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(Quelle: C.H. Beck Verlag)

Dass diese Tat mitnichten überraschend kam, haben zivilgesellschaftliche Akteur*innen, vor allem aber jüdische Gemeinden, immer wieder betont. Mit Blick auf die zahllosen antisemitischen Vorfälle und Gewalttaten allein in den letzten Jahren scheint die Frage, warum Antisemitismus gerade in Deutschland, von dem einst die versuchte Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden ausging, eine Konstante ist, geradezu zynisch. Eva Gruberová und Helmut Zeller haben Betroffenen in ganz Deutschland zugehört und ihre Eindrücke in ihrem kürzlich erschienenen Buch „Diagnose: Judenhass. Die Wiederkehr einer deutschen Krankheit“ festgehalten. Das Ergebnis überrascht nicht wirklich – umso mehr ist es als Weckruf für die deutsche Gesellschaft zu verstehen.

Der Vorwurf des Antisemitismus wiegt, so scheint es mit Blick auf zahlreiche Gerichtsurteile, für Antisemit*innen, aber auch für die Gerichte, schwerer als die eigentliche Aussage oder Tat. Anders kann man sich geradezu absurde Urteilssprüche wie diesen kaum erklären: Drei junge Palästinenser, die Ende Juli 2014 Brandsätze auf die Wuppertaler Synagoge warfen, werden zu Bewährungsstrafen verurteilt. Das Amtsgericht Wuppertal sieht in dem Brandanschlag aber mitnichten ein antisemitisches Tatmotiv, sondern vielmehr einen politischen Protest gegen den zu dieser Zeit stattfindenden militärischen Konflikt der israelischen Armee gegen die Hamas. Dass deutsche Beamt*innen nicht einmal dann Antisemitismus erkennen, wenn sie geradezu darauf gestoßen werden, ist gelinde gesagt schockierend. Eva Gruberová, Autorin, freie Journalistin und Bildungsreferentin, und Helmut Zeller, Journalist der Süddeutschen Zeitung und Publizist, verdeutlichen in ihrem Buch „Diagnose: Judenhass. Die Wiederkehr einer deutschen Krankheit“ allerdings, dass das Wuppertaler Beispiel nur die Spitze eines riesigen Eisbergs ist.

Diese Erkenntnis gewinnen sie aus zahlreichen Gesprächen, die sie mit Jüdinnen und Juden sowie mit jenen führen, die sich mit diesen solidarisch zeigen. Dabei verschlägt es die Autor*innen beispielsweise in die Peripherie Mecklenburg-Vorpommerns, in der sie einen früheren parteilosen Bürgermeister treffen. Dieser wird systematisch gemobbt und bedroht, weil er sich für den Erhalt des örtlichen jüdischen Friedhofs einsetzt und sich klar gegen die rechtsextreme Szene positioniert. Während im ländlichen Raum (und nicht nur dort) also bereits tote Jüdinnen und Juden für viele offenbar einen Störfaktor darstellen, scheinen sich Politik und Gesellschaft abseits warmer Worte nur bedingt für jüdisches Leben zu interessieren.

Die offizielle politische Kultur Deutschlands ist nicht viel ehrlicher: Während das erinnerungspolitische Mantra „Nie wieder“ nicht abreißt, spüren viele jüdische Gemeinden und Einzelpersonen in Deutschland, dass dieses in Bezug auf jüdisches Leben eher ein Lippenbekenntnis bleibt. Juri Rosov, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Rostock, und Baruch Babaev, ehemaliger Dortmunder Rabbiner, können ein Lied davon singen. Letzterer stellte sich in der westdeutschen Neonazi-Hochburg viele Jahre den Drohungen und Provokationen der neonazistischen Kleinstpartei „Die Rechte“ entgegen – und wanderte schließlich resigniert nach Israel aus. Für eine pluralistische Gesellschaft und einen demokratischen Staat, die dieses Jahr 1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland feiern, ist dieser Umstand nichts anderes als ein Armutszeugnis.

Die Gespräche mit anderen Jüdinnen und Juden zeigen, dass viele mit diesem Gedanken spielen. Angesichts der permanenten Bedrohungslage ist das kein Wunder: Jüdische Einrichtungen gleichen eher Festungen als Schulen oder Kindergärten. Jüdisches Leben kann im Land, von dem einst die Shoah ausging, auch heute nur unter Hochsicherheitsbedingungen stattfinden. Nahezu alle Jüdinnen und Juden verdeutlichen Gruberová und Zeller in Gesprächen, warum dem so ist: Sobald diese im Alltag beispielsweise durch ihre Kippa oder eine Kette mit Davidstern als jüdisch erkennbar sind, dauert es meist nicht lange, bis sie argwöhnisch beäugt, verbal oder gar körperlich angegriffen werden. Nicht selten werden solche Vorfälle von der deutschen Mehrheitsgesellschaft vornehmlich muslimischen Täter*innen zugeschrieben. Vor allem die rechtsradikale AfD nutzt dieses Narrativ des vermeintlich „importierten Antisemitismus“, um Jüdinnen und Juden für die Hetze gegen Muslim*innen zu instrumentalisieren und gleichermaßen vom manifesten Antisemitismus im eigenen Milieu abzulenken. Dieses Thema spaltet auch die jüdischen Gemeinden selbst – auch gerade weil die Erfahrungen von Betroffenen antisemitischer Vorfälle und sozialwissenschaftliche Erhebungen zeigen, dass antisemitische Einstellung, insbesondere mit Bezug auf den israelisch-palästinensischen Konflikt, in muslimischen Communities mitunter stark ausgeprägt sind. Der Konflikt in Nahost dient hierbei, so das Fazit der Autor*innen, auch radikalen Linken wie der „bürgerlichen Mitte“ als Projektionsfläche, um antisemitische Ressentiments durch Codes und Chiffren zu äußern. Die antiisraelische BDS-Kampagne, die sich für einen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Boykott des jüdischen Staates einsetzt und dabei eindeutig antisemitische Narrative bedient, verschärft die Situation für Jüdinnen und Juden zusätzlich – auch außerhalb Deutschlands. Berechtigte Kritik an der Kampagne und ihren Akteur*innen wird nicht selten als „Antisemitismuskeule“ diffamiert und als Zensurversuch empfunden. Das vermeintliche Recht auf „Israelkritik“, und das zeigt beispielsweise die Debatte um die „Initiative GG 5.3. Weltoffenheit“, wollen sich diese nicht nehmen lassen.

Zu guter Letzt halten Gruberová und Zeller der „Mitte“ der deutschen Gesellschaft den Spiegel vor – und verdeutlichen, warum der Titel ihres Buches von Antisemitismus als einer „deutschen Krankheit“ spricht. Der Nationalsozialismus, aber auch die zutiefst antisemitischen Äußerungen von Wagner und Luther sowie die unverhohlenen Shoah-Relativierungen und antisemitischen Verschwörungsmythen auf Demonstrationen der sogenannten „Corona-Leugner*innen“, stehen für die kulturelle und historische Kontinuität dieser (in ihrer Ausprägung durchaus) deutschen Krankheit. Der Anschlag von Halle 2019 sowie die kaum mehr zählbaren Aufdeckungen rechtsextremer Vorfälle in der Polizei und der Bundeswehr sind eine dringende Warnung, wie richtig diese Einschätzung ist. Statt sich auf phrasenhaftes, ritualisiertes Gedenken um tote Jüdinnen und Juden zu verlassen, sollte sich Deutschland gleichermaßen um die Sicherheit des jüdischen Lebens sorgen. Ein Anfang wäre, es genauso zu machen wie die Gruberová und Zeller: Jüdinnen und Juden zuhören und ihre Wünsche, Sorgen und Forderungen endlich ernst nehmen.

Gruberová, Eva / Zeller, Helmut:
Diagnose: Judenhass. Die Wiederkehr einer deutschen Krankheit.
München, 2021
C.H. Beck Verlag
279 Seiten
16,95 Euro

https://www.chbeck.de/gruberova-zeller-diagnose-judenhass/product/30934893

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