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Rezension Die innere Logik von Verschwörungserzählungen verstehen, um sie zu hinterfragen

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Ausschnitt aus dem Titelbild des Buches "Fake Facts - Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen" (Quelle: Quadriga / Lübbe Verlag)

Politisch motivierte, antisemitische und rassistische Verschwörungserzählungen gefährden die Demokratie seit Jahrhunderten, nicht erst seit Aufkommen des Coronavirus. Aber aktuell, in der Unsicherheit der Pandemie, boomt der Aufmerksamkeitsmarkt für erleichternde Welterklärungen verschwörungsgläubiger Natur. Warum dies geschieht, wie es geschieht, warum das gefährlich ist und was wir tun können, das erklären Netzaktivistn Katharian Nocun und Psychologin Pia Lamberty in ihrem Buch: „Fake Facts – Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen“. Es behandelt wissenschaftliche Themen in anekdotischer und leichtfüssiger Erzählweise und ist dadurch trotz des teilweise belastenden Themas süffig zu lesen.

Im Buch finden die verschiedensten Verschwörungserzählungsanlässe ihre Betrachtung und Darstellung, von der strategischen politischen Desinformation über die Klimakrise und ihre Leugner*innen, es geht um Freimaurer und Illuminaten, Anhänger*innen der „Flache Erde“-Erzählung und Echsenmenschen, die Verschwörungserzählungen der extremen Rechten, der Impfgegner und Schulmedizin-Leugner*innen, Esoterik, Antisemitismus – und ein bisschen Corona-Verschwörungserzählungen haben es auch noch ins Buch geschafft.

Besonders interessant ist allerdings die übergeordnete psychologische Analyse der Motive und Handlungs-Trigger, die dazu führen, dass Menschen plötzlich in Verschwörungswelten abtauchen, bisweilen überraschend lange darin bleiben – selbst, wenn diverse Prophezeihungen nicht eintreten -, und wie ihr Umfeld trotzdem versuchen kann, sie davon zu überzeugen, dass ihnen das nicht helfen wird, auch wenn es ihnen im Augenblick selbst vielleicht so scheint.

Grob lässt sich die Erkenntnis so zusammenfassen: Alle Menschen haben eine Anlage zur Wahrnehmungsverzerrung. Wir glauben etwa lieber Informationen, die zu unserem Weltbild passen, glauben am meisten Menschen, die wir als Expert*innen wahrnehmen (auch wenn die vielleicht nur Heavy User auf YouTube sind) – und die Informationen, die wir zu einem Thema als erstes erhalten, halten wir grundsätzlich für glaubwürdiger als solche, die später dazu kommen. Schon deshalb nützen etwa schlaue Studien und Argumente in der Diskussion mit der verschwörungsgläubig argumentierenden Oma allein wenig, wenn sie nicht bereit ist, ihre Meinung zu überprüfen. Viele erleben ja gerade im persönlichen Umfeld, dass der Glaube an Verschwörungserzählungen auch kein Randproblem von „Spinner*innen“, sondern in der gesamten Gesellschaft verbreitet ist – sogar unabhängig von Sozialisation oder Intelligenz.

Und warum wenden sich manche Menschen nun Verschwörungserzählungen zu? Die Auflistung in „Fake Facts“ klingt wie das Drehbuch zur Coronavirus-„Infodemie“, von der die WHO sprach, und zu dem, was der vegane Koch Attila Hildmann gerade auf seinem Telegram-Kanal und auf den Demonstrationen in Berlin veranstaltet:

  • Sie fühlen Kontrollverlust, Unsicherheit und Machtlosigkeit – Verschwörungserzählungen bringen für sie vermeintlich Ordnung in eine chaotische Welt
  • Sie wollen sich einzigartig fühlen, von der Masse abheben – Verschwörungserzählungen bieten das ihren Anhänger*innen, die dann auf die unwissenden „Schlafschafe“ herabblicken.
  • Sie haben Langeweile – und Verschwörungserzählungen bringen Abwechslung.

Während es vielen Menschen gelingt, auch in einer Ausnahmesituation solidarisch und demokratisch zu bleiben und auf die Expertise von Wissenschaftler*innen und Politiker*innen – und demokratischen Kontrollmechanismen – zu vertrauen, suchen andere Zuflucht in verschwörerischen Welterklärungsmodellen, die allem einem Sinn zu geben scheinen, ein Identitätsangebot machen und zu Handlungen motivieren und diese legitimieren. Spätestens hier wird es problematisch, weil die auserkorenen Feindbilder – oft genug Jüdinnen und Juden, aber auch demokratische Politiker*innen, Wissenschaftler*innen oder aus rassistischen Gründen gewählte Menschen – auch mit Gewalt bis zum Mord bekämpft werden.

Wenn das verschwörungsideologische Weltbild verfestigt ist, das finden Katarina Nocun und Pia Lamberty wie auch viele andere Expert*innen im Feld, braucht es für die Angehörigen professionelle Beratung, etwa durch Beratungsteams gegen Rechtsextremismus, Sektenbeauftragte oder spezialisierte Projekte wie „No World Order“ von der Amadeu Antonio Stiftung. Schnelles Eingreifen kann aber helfen, dass es dazu nicht kommt, wenn Menschen gerade erst anfangen, sich in die Verschwörungswelt zu begeben. Hilfreiche Diskussionstipps aus „Fake Facts“:

  • Zuerst das Grundgerüst der Annahmen abzuklopfen – ist hier Handlungsbedarf?
    (wer z.B. glaubt, das 50 % der Menschen in Deutschland Muslim*innen sind und deshalb Angst
    vor „Überfremdung” hat, sollte vielleicht zuerst erfahren, dass es nur rund 3 % sind)
  • Die innere Logik von Verschwörungserzählungen hinterfragen (Verallgemeinerungen, Widersprüche,
    Manipulationsmomente, Geheimhaltung mit tausenden Mitwisser*innen…)
  • Auf Graubereiche im Schwarz-Weiß-Gut-Böse-Schema hinweisen
  • Nicht in Details verrennen, sondern über Strukturen sprechen
  • Gemeinsam nach Erklärungen suchen, nicht nach Schuldigen
  • Bedürfnisse des Verbreitenden herausfinden und andere Wege der Befriedigung suchen
  • Auf Argumentationen mit Einzelfällen hinweisen, die andere Fakten ausblenden
  • Abgrenzung ohne Abwertung – „Ich schätze Dich, aber nicht den Rassismus, den Du verbreitest”
  • Ziel: Zweifel an der Verschwörungserzählung wecken

„Fake Facts – Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen“ ist somit ein hilfreiches Buch sowohl für den Überblick über problematische Verschwörungsdiskurse als auch für die Entwicklung von Gegenstrategien. Und wer sich jetzt noch fragt, wo der Unterschied zwischen Kritik der Verhältnisse und Verschwörungserzählungen liegt: Er liegt in der Bereitschaft, sich durch rationale Argumente, Belege, demokratische Kontrollmechanismen wie Medien, Wissenschaft oder Justiz davon überzeugen zu lassen, das die Annahme einer Verschwörung falsch ist. Verschwörungsgläubig ist dagegen, wer an der Verschwörungsidee festhält, auch wenn alle Fakten dagegensprechen – die Verschwörung also ein Welterklärungsmodell geworden ist.

Titelbild des Buches „Fake Facts – Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen“

Katharina Nocun, Pia Lamberty:

Fake Facts. Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen.

Quadriga Verlag, München 2020

352 Seiten, 19,90 Euro

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