Hoyerswerda, Mölln, Solingen. Oder: Freital, Heidenau, Tröglitz. Oder jüngst: Kassel, Halle, Hanau. Viele Menschen verbinden bestimmte Städtenamen längst mit rechten, rassistischen und antisemitischen Gewalttaten. Und: Viele Menschen haben sich an die rechten, rassistischen und antisemitischen Gewalttaten, die tagtäglich in Deutschland begangen werden, gewöhnt. Das ist die bittere Realität. Es gibt eine Kontinuität – und seit Jahren eine Normalisierung – rechter Gewalt. Die Aufklärung der Gewalt ist das eine, die praktische Solidarität mit den Betroffenen ist das andere. Das vorliegende Buch widmet sich ebendieser Solidarität. Die Herausgeberinnen des Buches, Harpreet Kaur Cholia und Christin Jänicke, schreiben in der Einleitung:
„Betroffene Communitys, migrantische (Selbst-)Organisationen, linke Initiativen und professionelle Opferberatungsstellen fordern seit vielen Jahren eine breite Solidarität mit den Angegriffenen, den Angehörigen und den Überlebenden. Wir wollen in diesem Sammelband diejenigen zu Wort kommen lassen, die seit Jahren vor rechter Gewalt warnen und dagegen handeln – die beraten, unterstützen, intervenieren, die Seite an Seite stehen mit den Betroffenen und gemeinsam mit ihnen für eine solidarische Gesellschaft einstehen. Die, die jeden Tag deutlich machen: Solidarität ist unentbehrlich!“ (S. 15)
Der Anlass des Buches ist das 20-jährige Bestehen der Opferberatungsstellen des Verbands der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG). Die Beratungsstellen haben im Laufe der Jahrzehnte mehrere tausend Menschen in der Bewältigung ihrer psychischen, physischen und materiellen Angriffsfolgen unterstützt. Dennoch muss der VBRG im Vorwort feststellen: „Und dennoch sind tausende alleine geblieben, hatten keine Unterstützung.“ (S. 12) Natürlich sind die Möglichkeiten der Opferberatungsstellen begrenzt, in vielen Fällen sind die Stellen auf die Unterstützung solidarischer Initiativen und Einzelpersonen angewiesen.
Der Sammelband befasst sich mit fünf Themenfeldern: „Gesellschaft und Medien“, „Justiz und Polizei“, „Allianzen und Communitys“, „Beratung und Positionierung“, „Aufarbeitung und Gedenken“. Die einzelnen Felder bieten einen ausgewogenen Mix aus Erfahrungsberichten und Fachgesprächen von / mit zivilgesellschaftlichen Initiativen. Die ausführlichen Berichte und Gespräche werden mit einer Reihe wissenschaftlicher Artikel unterfüttert. Die Betroffenenperspektive steht im Mittelpunkt: Wie können Empowerment und Solidarität in die Tat umgesetzt werden? Auf welche Weise und mit welchen Mitteln können Betroffene rechter Gewalt unterstützt werden? Die einzelnen Texte geben konkrete Einblicke in die Praxis zivilgesellschaftlicher Initiativen. Gleichzeitig dokumentieren die Texte die rassistische Praxis staatlicher Sicherheitsbehörden (z.B. Racial Profiling). Es wird deutlich, wie essentiell die zivilgesellschaftliche Arbeit im Kontext rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt ist.
Beispielsweise schreibt Kira Ayyadi im Themenfeld „Gesellschaft und Medien“ über die Bedrohungen im digitalen Raum. Zwar werde der Hass von einer „lautstarken und sendungsbewussten Minderheit betrieben“ (S. 47). Aber die Folgen sind gravierend. Sie erklärt, wie sich Hass normalisiert, warum sich viele Menschen aus Debatten zurückziehen („Silencing“) und weshalb die Solidarität mit den Betroffenen wichtig ist. Im Themenfeld „Justiz und Polizei“ spricht der Geschäftsführer des Bundesverband RIAS e.V., Benjamin Steinitz, über den antisemitischen Anschlag von Halle, das Sicherheitsgefühl von Juden*Jüdinnen und den Schutz jüdischer Einrichtungen. Mit Blick auf die Arbeit von Justiz und Polizei fordert er eine „stärkere Berücksichtigung der Betroffenenperspektive“ (S. 72). Daher seien die spezifischen Bedarfe von Juden*Jüdinnen zu ermitteln. Harpreet Kaur Cholia, eine der beiden Herausgeberinnen des Sammelbandes, schreibt im Themenfeld „Allianzen und Communitys“ über ihre Gespräche mit Newroz Duman von der Initiative 19. Februar Hanau und Serpil Temiz Unvar, der Mutter des ermordeten Ferhat Unvar und Gründerin der „Bildungsinitiative Ferhat Unvar“. Cholia, die sich selbst in der Initiative 19. Februar Hanau engagiert, gibt bewegende und zugleich ermutigende Einblicke in die antirassistische Arbeit vor und nach Hanau. Die drei Beispiele sind lediglich kurze Ausschnitte des Sammelbandes. Aber sie zeigen bereits: Das Buch wird seinem Anspruch in jeder Hinsicht gerecht.
„Tot sind wir erst, wenn man uns vergisst.“ (Ferhat Unvar)
Das Buch Unentbehrlich. Solidarität mit Betroffenen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt, herausgegeben von Harpreet Kaur Cholia und Christin Jänicke, ist im Februar 2021 in der edition assemblage erschienen und kostet 16 Euro.