Zwischen dem 17. und dem 23. September 1991 finden die rassistischen Pogrome von Hoyerswerda statt, eine Aufnahmeeinrichtung und ein Wohnheim werden vom rechtsextremen Mob angegriffen. Die Stadt und der Freistaat kapitulierten vor den Neonazis. Die angegriffenen Menschen müssen die Stadt verlassen. Hoyerswerda ist „national befreit“. Ein ARD-Brennpunkt sendet live vom Marktplatz. Luftaufnahmen zeigen eine Menschenmenge, eine grölende Masse. Mittendrin steht eine kleine Gruppe von Polizisten und schützt die Journalistin Esther Schapira und ihre Gesprächspartner*innen. Eine von ihnen ist damals Anetta Kahane, sie wird 1998 die Amadeu Antonio Stiftung gründen und bis 2022 leiten. In Hoyerswerda steht sie für die Regionalen Arbeitsstellen für Bildung, Integration und Demokratie e.V. (RAA) und als letzte Ausländerbeauftragte des Ost-Berliner Magistrats vor der Wiedervereinigung.
Im Vorwort zu Kahanes neuem Band berichtet Schapira von diesem Abend: „Pfiffe, Schmährufe, die Reichskriegsflagge, und neben mir stand diese zarte Frau mit ihren roten Haaren und sagte mit fester Stimme in mein Mikrophon, dass sie dort stünde für all jene, die wollten, dass Ausländer sicher in Deutschland leben könnten. Das gellende Pfeifkonzert erschreckte sie, anders als mich, kaum. Sie kannte diese Melodie. Damit war sie aufgewachsen.“
„Von Nazis und Forellen“ macht deutlich, wie viel immer noch zu tun bleibt und wie wenig sich doch tatsächlich verändert hat. Im allerersten Text – es geht um die Reaktionen auf den Gaza-Krieg von Ende 2008 bis Anfang 2009 – beschreibt Kahane, wie ein Mann tagelang mit einem Schild vor der Synagoge in der Berliner Oranienstraße auf und ab läuft, auf dem steht, „Israel is the land of monsters“. Es hat sich nicht viel verändert. Kahanes Text von vor 15 Jahren hätte an irgendeinem Tag im vergangenen Jahr wieder genauso in der Zeitung stehen können: „Tausende Menschen liefen durch die Zentren deutscher Städte, um gegen Israel zu protestieren. (…) Islamistische Fundamentalisten, die nach einem Gottesstaat schreien, liefen, vorbildlich ins Große und Ganze integriert, neben friedensbewegten Linken. (…). Auf Plakaten wurden die Deutschen aufgefordert, endlich ihren Schuldkomplex wegen der ermordeten Juden abzulegen.“ Progressive Szenen, die sich auf der „richtigen Seite“ der Geschichte wähnen, hassen Israel 2009 mit den gleichen Argumenten wie 2024, die wiederum uralt sind und sich seit dem Mittelalter, wenn nicht gar noch länger, wiederholen. Kahane macht immer wieder deutlich: Antisemitismus ist eine Kulturtechnik, eine Kontinuität, die sich einerseits gegen Jüdinnen*Juden richtet, aber eben auch gegen alles, was als „jüdisch“ verstanden wird, gegen Gleichwertigkeit, Emanzipation, gegen die Moderne.
Klar macht dieses Buch auch, die merkwürdigen Koalitionen, die seit dem 7. Oktober immer wieder Thema sind, die Pakte zwischen Queerfeminist*innen und Islamist*innen, die fehlende Distanz zu Terrororganisationen und der vermeintlich antiimperialistische Kampf „gegen Israel und natürlich gegen die Juden, die ihre Geschichtslektion nicht gelernt haben“: Nichts davon ist neu.
Genauso wenig wie Rechtsextremismus, in den frühen Kolumnen geht es um die NPD, später die AfD. Der Zeitrafferblick, den Kahanes Band ermöglicht, zeigt: Unterschiede gibt es kaum. Und auch 2024 macht Deutschland immer noch die gleichen Fehler. Vor 15 Jahren wählten die Abgehängten oder Arbeitslosen oder Bildungsfernen angeblich NPD, heute wählen sie AfD, behaupten immer noch Medien und Politiker*innen. Was von solchen Behauptungen zu halten ist, hat Kahane ebenfalls vor 15 Jahren schon gesagt: „Die These kann nicht stimmen. Aus allen Studien geht hervor: Es liegt nicht am Mangel an sozialen Dingen. Dann würde es in deutlich ärmeren Ländern auch deutlich mehr Nazis geben. Es ist kein soziales, sondern ein kulturelles Problem. Es liegt am Neid und dem noch immer enorm starken Hang zum Homogenen. Deutschland mangelt es an etwas anderem: an einer Art persönlicher Lebensfreude, an der Fähigkeit, Unterschiede auszuhalten, sie als Herausforderung zu sehen und den Zorn über Missstände dahin zu lenken, wo er hingehört: auf reale politische Konflikte, wie auch immer die aussehen.“
Gesammelte Texte von einzelnen Autor*innen, zusammengefügt in einem Werk. Das ist oft nur für Spezialist*innen interessant. Für „Von Nazis und Forellen“ gilt das nicht, denn Anetta Kahanes Kolumnen bieten auch Jahre später noch einen klaren Blick auf Phänomene, die längst wieder da sind oder nie weg waren. Zum Beispiel rechtsextreme Jugendliche: „Die Nazikids aus dem Ort schauten den Großen beim Nazi-Sein zu“, schreibt Kahane 2010. 15 Jahre später bedrohen die Nazikids der Nazikids queere Demos in ganz Deutschland und wählen AfD.
Leider – das macht dieser Band immer wieder deutlich – hätte man es besser wissen können. In einem Text aus dem Jahr 2018 denkt Kahane zurück an den Marktplatz von Hoyerswerda 1991, auf dem sie mit Esther Schapira stand und erinnert sich an die zweite Frage der Journalistin, die wissen wollte, ob sich die Bevölkerung der damals neuen Bundesländer nicht mit der Zeit an „Ausländer“ gewöhnen werde. Kahane antwortet: „Ganz im Gegenteil, nimmt man diesen Hass hier nicht ernst, wird nichts gegen Rechtsextremismus getan und behandelt man Migranten weiterhin so schlecht, dann breitet sich diese Stimmung aus. (…) Reißt man im Osten die Barrieren gegen Rassismus nieder oder lässt zu, dass den Migranten die Schuld am Rassismus gegeben wird, dann färbt das auf den Westen ab.“ Fühlt sich an wie 2024.
„Von Nazis und Forellen“ ist aber auch die Lektüre wert, weil die Kolumnen den Ist-Zustand ihrer Zeit auf den Punkt bringen und damit als Ausgangspunkt dienen können, um ins Hier und Jetzt zu schauen. Eine Kolumne zur documenta 2022 resümiert etwa den Verlauf von Debatten, in denen der Antisemitismusvorwurf schwerer wiegt, als Antisemitismus selbst: „Man sehe nirgendwo Antisemitismus, sagten Menschen, die ihn nie erleben mussten.“ Wenn Jüdinnen*Juden sich damit nicht abfinden wollen? „Was bilden die sich ein, heißt es in den Kommentaren. Wer sich antisemitisch äußert und was Antisemitismus ist, bestimmen wir. Wir sagen auch, dass Antisemitismus auf eine Weise zu bestimmen ist, die uns passt. Wenn es ihn überhaupt gibt. Und wir erklären Israel zum Symbol des Schlimmsten, was die Welt je gesehen hat.“
Kahane beschreibt hier eine Debatte, die mehr als zwei Jahre später umso erbitterter geführt wird –in einer Zeit, in der Jüdinnen*Juden in Berlin und an vielen anderen Orten der Welt lieber nicht als solche erkennbar sein wollen, in der es immer mehr antisemitische Vorfälle gibt und ein aggressiver Positionierungszwang herrscht.
Der Band macht aber auch immer wieder Hoffnung. Denn Kahane legt zwar den Finger unerbittlich in die Wunde(n) und macht – wie Maxim Biller im Klappentext schreibt – „hellsichtig, klug und gut geschrieben“ deutlich, was alles im Argen liegt, aber sie weigert sich die Hoffnung zu verlieren, in Zynismus zu verfallen. „Aufgeben kommt nicht in Frage“, schreibt sie 2017. Weitermachen, Streiten,Diskutieren und die gesellschaftlichen Konflikte, die nicht weggehen werden, nur weil man wegsieht offen auszutragen: Dazu ermutigt dieses Buch.
Anetta Kahane, Von Nazis und Forellen – Kolumnen über die Reparatur der Welt, Hentrich & Hentrich, 2024, ISBN: 978-3-95565-670-6. Hier bestellen.