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Rezension Zeitenwende – neue Formen der Erinnerungs- und Gedenkkultur

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Die Hall of Names in der Gedenkstätte Yad Vashem (Quelle: Wikimedia / David Shankbone / CC BY-SA 3.0)

Jim Tobias, Leiter des Nürnberger Instituts, hat erneut ein bisher absolut unbekanntes Thema entdeckt und umfassend aufgearbeitet: Die Geschichte der jüdischen Sonderschule für Gehörlose und Sprachbehinderte im DP-Camp Geretsried 1947-48, in der stotternde und sprachlose Kinder behandelt wurden, die ihre Symptome z. T. in Folge der Verfolgungserfahrungen entwickelt hatten. Sie gehörten zu den bis zu 200.000 Shoah-Überlebenden, die zeitweise in Deutschland lebten. Ein Großteil von ihnen, so grotesk war die Verfolgungsgeschichte, waren nach ihrer Befreiung in ihre Heimatländer in Osteuropa zurückgekehrt – und erlebten eine Welle von Hass und Pogromen. Sie suchten nun ausgerechnet „im Land der Täter“ einen – vorläufigen – Schutz, um von dort aus nach Israel oder in andere demokratische Länder zu gelangen. Allein im oberbayerischen DP Lager Geretsried fanden Hunderte von Menschen ein temporäres Zuhause. Die blauweiße Fahne mit dem Davidstern wehte über dem Camp, es gab einen Kindergarten, eine Bibliothek, eine Theater- und Sportgruppe – und es gab die von Kolman Shulman und Isaac Szmulewicz mit Enthusiasmus und Kompetenz geleitete Sprach-Sonderschule für 26 Kinder und Jugendliche. Finanziert wurde die Schule vor allem durch Gelder aus dem Ausland. Perspektivisch das Hauptproblem war, dass die wenigsten Länder bereit waren, behinderte Kinder aufzunehmen: Lediglich der junge Staat Israel nahm „einige Tausend DPs mit Handicaps auf“, konstatiert Tobias.

Die Historiker Andrea und Aviv Livnat reflektieren über „Zwischen Sachor und IRemember. Wie Israel sich auf das Ende der Zeitzeugenschaft vorbereitet“. 1961 kam es beim Jerusalemer Eichmann-Prozess zu einer denkwürdigen Szene, die sich in das erinnerungspolitische Bewusstsein ganzer Generationen einprägte: Der polnische Shoah-Überlebende Michael Goldman nahm am weltweit wahrgenommenen Prozess gegen Eichmann teil. Ein Zeuge, Dr. Bozminski, bestätigte vor Gericht eine grausame Szene, in der ein Junge grausam misshandelt wurde. Hausner fragte den Zeugen, ob er den misshandelten Jungen vor sich sehe: “Es ist der Polizist, der neben Ihnen sitzt“, entgegnete der Zeuge „und zeigte auf Goldman.“ Der Eichmann-Prozess war eine Zäsur in der Geschichte Israels. Die öffentlich behandelten Verbrechen ermöglichten es dem jungen, von Außen massiv bedrohten jüdischen Staat, auch den Opfern der Shoah ein Stimme zu geben, ihr unermessliches Leid anzuhören und in das öffentliche Gedächtnis aufzunehmen. Oder in den Worten der Autoren: „Der Prozess führte zur öffentlichen Legitimation für ihre Stimmen, die bis dahin zwischen dem persönlichen posttraumatischen Umgang mit der Vergangenheit und der ,Ablehnung der Diaspora‘ in Israel gefangen waren.“ Die Autoren zeichnen in tiefschürfender Art und Weise nach, wie sich die israelische Gesellschaft an die Shoah erinnert und diese Erinnerung auf eine Zeit ohne Überlebende vorbereitet.

Renate Evers beschreibt aus eigener Erfahrung die Arbeit des 1955 gegründeten Leo Baeck Instituts (LBI) in New York. Die Frage der Erinnerungspädagogik, nach dem Sterben der letzten Überlebenden, erweist sich auch in den USA als zentrale Herausforderung. Um das „ungeheure Ausmaß der nationalsozialistischen Herrschaft begreiflich zu machen“, insbesondere nach dem Dahingehen der letzten Shoah-Überlebenden, fanden sich im New Yorker Institut Forscher mit Lehrerinnen zusammen. Die heutige Geschichtsstrategie des LBI setze auf die moderne Technik, um die Tausenden von Überlebendengeschichten, von digitalisierten Zeitzeugenaufnahmen, an die nachwachsenden Generationen zu vermitteln. Und die individuellen und familiären Tragödien sollen via den sozialen Medien auf die heutige Lebenssituation vermittelt werden. Einzelschicksale sollen für Lehrern und Schüler mittels der modernen Technologie leichter auffindbar werden.

Hieran knüpft auch der Beitrag von Christian Höschler und Christiane Weber „Zeitzeugenschaft im Wandel“ an, der die wechselvolle Geschichte des Arolsen Archives beleuchtet; beide Autoren arbeiten bei Arolsen. Das 1948 gegründete Suchinstitut hatte in den ersten Jahrzehnten politisch einen zumindest umstrittenen Ruf. Im Kontrast hierzu betonen die Autoren die monumentale Lebensleistung des österreichischen „Aktivisten“ Simon Wiesenthal für Gerechtigkeit und für eine Verantwortlichmachung der Mörder, aber auch die Rolle etwa des American Jewish Joint Distribution Committee, das die „Suche nach Überlebenden koordinierte“, Dokumente sicherte und Listen der Deportierten erstellte. Viele Überlebendenfamilie, die vom Schicksal ihrer Verwandten und engen Freunde über Jahre nichts wussten, fanden so wieder zueinander.

Bei Arolsen arbeiteten zeitweise 200 Mitarbeiter. In den letzten Jahren hat sich Arolsen, vor allem nach einer Intervention des amerikanischen Historikers Paul Shapiro, von seiner unseligen Tradition der Isolierung verabschiedet und ein riesiges, sehr übersichtliches digitales Archiv mit Shoah-Opfern und Überlebenden erstellt. Heute erreiche das Archiv jährlich über 17000 Anfragen aus 50 Ländern; der Rezensent möchte anmerken, dass er über Arolsen jüngst das Schicksal seines Großvaters dokumentiert fand, der Buchenwald als „Halbjude“ überlebte. Die Gedenkstätte Buchenwald sowie die zuständige Kölner Institution hatten keinerlei diesbezüglichen Unterlagen

Jahrbuch des Nürnberger Instituts für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts, Hg. Jim G. Tobias & Andrea Livnat: Schwerpunktthema: Zeitenwende – neue Formen der Erinnerungs- und Gedenkkultur, Nürnberg: Antogo Verlag, 160 S., 15 Euro, Bestellen?

Bild oben: Wikimedia / David Shankbone / CC BY-SA 3.0

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