Die Recherche- und Informationstelle Antisemitismus Berlin (RIAS) hat einen Monitoring-Bericht veröffentlicht, in dem die Auswirkungen der “Covid-19”- Pandemie auf die Verbreitung von antisemitischen Mythen und das Aufkommen antisemitischer Vorfälle untersucht werden. Der Bericht enthält eine bundesweite Einschätzung sowie eine genaue Betrachtung von Bayern, Berlin, Brandenburg, Hannover, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein, in denen „RIAS“ Zweigstellen. Insgesamt dokumentierte „RIAS“ im ersten Halbjahr von Januar bis Juni 410 Fälle. Im Vorjahr waren es im selben Zeitraum mit nachgetragenen Fällen 458.
„Sobald etwas auftaucht, was den Menschen Angst macht, weil es unklare Folgen hat, suchen sie nach Erklärungen und Schuldigen. Unabhängig davon, ob es diese gibt oder nicht. Als jüdische Person wusste ich bereits von Anfang an, dass Corona antisemitische Verschwörungsmythen mit sich bringen wird.“ So Alexandra Poljak, Vorstandsmitglied im „Verband jüdischer Studenten Bayern“ (VJSB) gegenüber der „Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus“ (RIAS).
Im Kontext der “Covid-19”-Pandemie untersucht „RIAS“ antisemitische Vorfälle und Mythen in Deutschland, die Ergebinsse liegen jetzt als Sammlung vor. Besonders im Fokus stehen die sogenannten „Hygienedemos“ und andere Proteste gegen die “Covid-19”-Maßnahmen der Bundesregierung. Außerdem dokumentierte das Monitoring von „RIAS“ Vorfälle im Internet und beobachtete Konversationen in Messenger-Diensten. Neben Alexandra Poljak wurden auch andere jüdische Menschen interviewt, um eine jüdische Perspektive mit einzubeziehen. Die Interviews legen nahe, dass für viele Jüdinnen_Juden die Gelegenheitsstrukur für das Äußern von antisemitischen Mythen und Deutungen in Verbindung mit der Pandemie und den Maßnahmen spürbar ist.
Der 2018 gegründete Verein „RIAS“verfolgt das Ziel einer bundesweiten, einheitlichen und zivilgesellschaftlichen Erfassung antisemitischer Vorfälle. Neben dem Bundesverband gibt es mehrere regionale Melde- und Unterstützungsnetzwerke. „RIAS“ arbeitet darüber hinaus stets daran die Arbeitsweise und die angewendeten Vorfallskategorien zu vereinheitlichen sowie weiterzuentwickeln.
„RIAS“ ordnet antisemitische Vorfälle in sechs Kategorien ein:
- Extreme Gewalt: physische Angriffe oder Anschläge mit lebensbedrohlicher bis tödlicher Folge
- Physischer Angriff: körperlicher Angriff ohne lebensbedrohliche Folgen (einschließlich versuchter Angriffe)
- Sachbeschädigung: antisemitische Schmierereien, Aufkleber, Plakate, Beschädigung von jüdischem Eigentum oder von Orten der Erinnerung an die Schoah
- Bedrohung: eindeutige und konkrete Bedrohung in schriftlicher oder mündlicher Form
- Verletzendes Verhalten: gezielte diskriminierende Aussagen gegen Jüdinnen_Juden oder jüdische Institutionen; antisemitische Aussagen gegen Nicht-Juden; antisemitische Schmierereien oder Aufkleber an nicht-jüdischem Eigentum; Versammlungen, auf den denen in Form von Redebeiträgen, Parolen, Plakate, etc. antisemitische Inhalte verbreitet werden
- Massenpropaganda: antisemitische Texte, die sich an mindestens zwei Adressat_innen richten oder auf andere Weise ein breites Publikum erreichen sollen.
(vgl. https://report-antisemitism.de/rias-bund)
Auswirkungen der “Covid-19”-Pandemie auf die Erfassung antisemitischer Vorfälle
Von März bis Juni hat „RIAS“ bundesweit antisemitische Vorfälle dokumentiert, die sich im Zuge der “Covid-19”-Pandemie ereignet haben. Drei Auswirkungen sind dabei in der bundesweiten Einschätzung zentral und finden sich so auch in der regionalen Berichterstattung wieder:
Erstens beobachtet „RIAS“ durch die “Covid-19”-Pandemie eine zunehmende Ausbreitung antisemitischer Mythen zur Entstehung und Verbreitung des Virus, aber auch zu den staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie. Die Mythen, das wird im späteren Verlauf des Berichtes klar, werden besonders online sowie auf Demonstrationen verbreitet.
Zweitens wirken sich die staatlichen Maßnahmen auf die Frequenz antisemitischer Vorfälle aus. Durch beispielsweise geringere Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs oder geschlossene Kneipen und Clubs verringert sich die Anzahl antisemitischer Vorfälle an solchen spezifischen Tatorten. Antisemitische Vorfälle, die sich im Internet abspielen, schließt diese Form des „Social Distancing“ natürlich nicht mit ein.
Drittens führen die Kontaktbeschränkungen dazu, dass die Arbeit gegen Antisemitismus, beispielsweise von zivilgesellschaftlichen Institutionen, wie „RIAS“, sich erschwert. Dies beinhaltet besonders die Pflege des Meldenetzwerks und der Kontakt zu Betroffenen-Communities. Aufgrund dessen befürchtet „RIAS“, dass die bundesweite und die regionalen Meldestellen, durch die Pandemie, von weniger antisemitischen Vorfällen erfahren haben, als dies sonst der Fall wäre.
Inhaltlich spielen bei Vorfällen mit “Covid-19”-Bezug moderner Antisemitismus (ökonomische und politische Macht) und sekundärer Antisemitismus eine große Rolle. Israelbezogener Antisemitismus ist seltener vertreten (außer wenn „Zionisten“ als die Urheber oder Profiteure benannt werden).
In den Monaten März bis Juni zeigten sich antisemitische Artikulations- und Erscheinungsformen nach „RIAS“ in drei Phasen, die sich teilweise auch überschneiden. Parallel zu den Phasen erfasste „RIAS“ und mehrere regionale Meldestellen eine Vielzahl antisemitischer Vorfälle mit unmittelbarem oder mittelbarem Bezug zur “Covid-19”-Pandemie:
- Phase: mit den ersten massiven staatlichen Maßnahmen am 17. März verbreiten sich allgemein viele Verschwörungsmythen, nicht explizit antisemitische.
- Phase: Auf den Rückzug jüdischen Lebens in den digitalen Raum folgt verletzendes Verhalten, welches sich direkt gegen Jüdinnen und Juden richtet.
- Phase: Antisemitische Deutungen manifestieren sich online und auf einer Vielzahl von Demonstrationen im gesamten Bundesgebiet
Eine neue Art antisemitischer Übergriffe zeigte sich besonders in der zweiten Phase: „Zoombombing“. Damit ist gemeint, dass Onlineveranstaltungen von jüdischen Institutionen oder mit jüdischer Beteiligung durch antisemitische oder rechtsextreme Teilnehmer*innen gestört werden. Der Name kommt von der während der “Covid-19”-Pandemie viel genutzten Software für Videokonferenzen „Zoom“. „Zoombombing“ ist deshalb ein besonderes Phänomen, da beispielsweise jüdische Gebete in Gruppen normalerweise in sehr geschützten Räumen stattfinden. Durch die Verlegung in den Onlineraum wurden die Zugangsbeschränkungen erheblich gelockert.
Antisemitismus auf „Corona“- Protestveranstaltungen
Bereits die sogenannten „Hygienedemos“ Anfang März wiesen auch jenseits der antisemitischen Äußerungen gewisse Muster auf, die sich bis heute auf den Demonstrationen und ihrem Umfeld wiederfinden. „RIAS“ sieht hier vier Grundmuster gegeben:
- Die Existenz der “Covid-19”-Pandemie wird geleugnet oder die Folgen einer Erkrankung bagatellisiert – stattdessen wird die Pandemie, aber auch Kritik an Verschwörungsmythen als Werkzeug der „Eliten“ bezeichnet.
- Etablierten Medien wird großes Misstrauen entgegengebracht, als valide Quellen gelten stattdessen Messengerkanäle und Nachrichtenseiten aus dem verschwörungsideologischen Spektrum. Diese sorgen für die weitere Verbreitung von aktuellen Verschwörungsmythen im Netz, Vertreter_innen dieser Angebote treten als Redner_innen auf Versammlungen auf.
- Eine wahrnehmbare Abgrenzung zu Akteur_innen der extremen Rechten oder zu (antisemitischen) Verschwörungsideolog_innen findet nur selten statt. In der Folge konnten diese die Versammlung häufig ohne Widerspruch als Bühne für ihre Inhalte nutzen.
- Die Protestierenden verorten sich selbst als marginalisierte Gruppe, aber auch als einzig legitime „demokratische Opposition“ gegen die Einschränkung von Grundrechten. In diesem Zusammenhang werden immer wieder Vergleiche mit der antisemitischen Politik im Nationalsozialismus gezogen, die Demonstrierenden inszenieren sich als ähnlich verfolgt wie Jüdinnen_Juden während der Schoa.
Im „RIAS“- Bericht wird deutlich, dass sich jene Muster bundesweit wiederfinden lassen. Dabei gibt es stets eine perfide Synergie, in der einerseits die jüdische Opferposition im Nationalsozialismus vereinnahmt wird und anderseits „die Zionisten“ neben Bill Gates, George Soros, Rockefeller oder einfach „die Eliten“ als Urheber und Profiteure der Krise dargestellt werden. Die Selbsviktimisierung äußert sich auf den Demonstrationen symbolisch, beispielsweise mit dem Tragen von „Ungeimpft“-Judensternen oder in Redebeiträgen. So verkündete eine Rednerin am 2. Mai am Maschsee in der Nähe von Hannover: „Der nächste Holocaust wird an Verschwörungstheoretikern stattfinden.“
Zusätzlich zu den antisemitischen und verschwörungsideologischen Inhalten ist die Teilnahme von rechtsextremen Parteien und Gruppen eine weitere bundesweite Gemeinsamkeit. Besonders zeigt sich das in Brandenburg: hier sind ein Viertel der Veranstaltungen von der AfD organisiert worden. „RIAS“ dokumentiert zusätzlich auch viele Anfeindungen gegenüber Journalist_innen, beispielweise werden diese als „Zionisten“ beschimpft.
Quantitativ ist keine klare Zunahme antisemitischer Vorfälle während der “Covid-19”-Pandemie erkennbar, was allerdings auch an den Kontaktbeschränkungen liegen mag. Allerdings führten die Proteste zu einer Vielzahl antisemitischer Äußerungen im öffentlichen Raum und förderte deren Verbreitung. Außerdem zeigt sich nun vermehrt die Existenz eines großen verschwörungsideologischen Spektrums in Deutschland, welches darüber hinaus mobilisierbar ist.
RIAS-Bericht als pdf zum Download: https://report-antisemitism.de/documents/2020-09-08_Rias-bund_Antisemitismus_im_Kontext_von_covid-19.pdf