Vitkov – Nordosten Tschechiens. Die Familie schlief schon fest, als kurz vor Mitternacht wie aus dem Nichts die Scheiben klirrten und ein Feuerball das Zimmer in ein Flammenmeer verwandelte. Der Vater sprang auf, „raus mit euch!“ schrie er, und zu seiner Frau „nimm die Kleine!“, stürzte mit drei Töchtern auf den Flur und ins Freie, wo schon die Großeltern erstarrt vor Schreck standen, die unversehrt geblieben waren. Seiner Frau, die mit der kleinsten Tochter unterm Fenster geschlafen hatte, hatte das brennende Benzin auf ihrer Haut einen derartigen Schock versetzt, dass sie einfach nur raus musste, sofort. Der Vater kehrte also wieder in die Flammen zurück, packte das brennende Kind und schaffte es mit knapper Not nach draußen, dann mit seiner Frau über die Straße, den Zaun und den Hang hinauf in das nahegelegene Krankenhaus, von dort aus per Hubschrauber in die Spezialklinik in Ostrava.
Der Brandanschlag von 2009 traf die tschechische Gesellschaft ins Mark. Seit Jahren hatte sie sich hartnäckig gegen den Vorwurf gewehrt, ein Hort des Rassismus in Europa sowie Rückzugs- und Schulungsgebiet deutscher Neonazis zu sein. Doch nun hatten auch die hiesigen Neonazis ihr Potential enthüllt, gegen das der Staat offensichtlich denkbar schlecht aufgestellt war. Am 12. August desselben Jahres schlug die Mordkommission von Mährisch-Schlesien zu. Monate lang hatte sie die Öffentlichkeit mit Behauptungen hingehalten, sie habe keinerlei Spur von den Tätern des Brandanschlags. Selbst die größten Optimisten unter den Unwissenden erwarteten, dass der Fall wegen Mangels an Beweisen gegen Verdächtige in Kürze zu den Akten gelegt werden werde. Doch währenddessen liefen die Ermittlungen auf Hochtouren. In den frühen Morgenstunden des Sommertages waren 150 Polizeibeamte an der streng geheim gehaltenen Aktion beteiligt. Verhaftet wurden 12 Verdächtige. Es ging um Zeit. Erst wenn einer der Verhafteten zu reden beginnen und den Tathergang schildern würde, hätte dieser den Tätern als bereits bekannt vorgelegt und zumindest einer von ihnen dazu bewegt werden können, diesen zu bestätigen und weitere Einzelheiten hinzuzufügen. Nach stundenlangen Verhören packten zwei aus, vier der Verdächtigen kamen in Untersuchungshaft, beschuldigt des mehrfachen heimtückischen Mordes auch an Minderjährigen im Stadium des Versuchs.
Am Tag danach konstatierte die Polizei auf einer ad hoc organisierten Pressekonferenz: „Dies ist ein historischer Moment im Kampf gegen schwerwiegende Rassengewalt und der größte Schlag gegen Extremisten in der Geschichte unseres Landes.“ Robert Šlachta, der damalige Direktor der UOOZ, der landesweit agierenden Sondereinheit zur Aufklärung organisierten Verbrechens, fügte hinzu: „Wir wussten von Anfang an, dass die Tat einen rassistischen Hintergrund hatte.“ Die mutmaßlichen Terroristen habe die Polizei nur deshalb auf freiem Fuß belassen, um die konkrete Tatbeteiligung eines jeden einzelnen zu ermitteln. Aus taktischen Gründen war dies der Öffentlichkeit verheimlicht worden. Wie später der Öffentlichkeit bekannt wurde, war die Opferfamilie in den Monaten der verdeckten Ermittlungen massiven Verleumdungen ausgesetzt, hinter der Tat stehe ein Mitglied derselben und sie selbst habe die von ihrer kleinsten Tochter erlittenen Verletzungen mit Langzeitfolgen verursacht.
Der Tatablauf: Die Tat war von langer Hand vorbereitet worden, wobei die Täter die einzelnen Aufgaben zur Beschaffung von Material und Absicherung der Logistik untereinander aufgeteilt hatten. Am Tatabend fuhren sie nach monatelangen höchst konspirativ geführten Vorbereitungen vor dem Haus einer Roma-Familie mit einem PKW vor, drei der Täter sprangen aus dem Wagen und schleuderten aus etwas zwei Meter Entfernung je einen Molotow-Cocktail in drei Fenster an der Stirnfassade. Mit dem Fluchtfahrzeug verließen sie umgehend den Tatort, ohne von einer in der Stadt aufgestellten Kameras erfasst zu werden, auf der Rückfahrt entsorgten sie die verwendeten Plastikhandschuhe. Ihre Handys hatten sie ausgeschaltet zu Hause gelassen. Verbrennungen erlitten zwei Erwachsene und ihre kaum zweijährige Tochter, die mit Verbrennungen an 85 Prozent ihres Körpers bis heute eine nach der anderen Operation über sich ergehen lassen muss. Die übrigen drei Kinder und die Großeltern kamen vor Ort mit einem Schrecken davon, bald darauf traten die psychischen Langzeitfolgen zutage. Es sei ihnen bekannt gewesen, dass das Haus von einer vierköpfigen Familie bewohnt wurde. Bei Hausdurchsuchungen sei eine große Menge von Neonazipropaganda beschlagnahmt worden.
Innenminister Martin Pecina ließ damals verlauten, dass die Ermittlungen des Brandanschlags zum Verbot der neonazistischen Partei „Dělnická strana“ (Arbeiterpartei) führen werde. Einen entsprechenden Antrag habe er Mitte September beim Obersten Verwaltungsgericht eingereicht. Einzelheiten zu den Zusammenhängen mit der Tat unterliegen allerdings noch der Geheimhaltung. Das tschechische Staatsfernsehen ČT 1 veröffentlichte Ende Dezember 2009 Fotos vom Anführer der Brandstifter, auf denen er als Angehöriger der „Leibgarde“ bei einer Demonstration der Arbeiterpartei den Parteivorsitzenden beschützt. Die Kundgebung hatte am 1. Mai 2009 stattgefunden, also zwei Wochen nach dem Brandanschlag.
Kopfzerbrechen bereitete damals die bisherige Statistik der tschechischen Justiz im Hinblick auf Brandanschläge gegen Roma. Die höchste in ähnlichen Fällen verhängte Gefängnisstrafe betrug drei Jahre. Der Grund: der Polizei hatte es nie geschafft oder einfach kein Interesse, ein Tötungsmotiv nachzuweisen. Bis dahin waren derartige Anschläge Sache der Kreispolizeiämter, bei den Taten wurde – aus Mangel an schwer verletzten oder Todesopfern – wegen Sachbeschädigung oder Gemeingefährdung ermittelt. Zumeist wurden sie bald wegen Mangels an Beweisen ad acta gelegt. Da den Fall Vítkov erstmals das zuständige Landeskriminalamt in Sachen vorsätzlicher Mord übernahm, konnte seine Soko besondere Ermittlungsmethoden wie etwa Lauschangriffe verwenden.
Die Anwälte der Tatverdächtigen legten umgehend Beschwerde wegen der Einstufung der Tat als Mordversuch ein. Hätten die Täter das Anschlagsziel doch für ein unbewohntes Lager von Diebesgut gehalten. Erfolglos. Im Herbst 2010 wurden die Angeklagten zu Freiheitsstrafen zwischen 20 und 22 Jahren verurteilt, als mildernde Umstände den beiden jüngsten ihr zumindest partielles Geständnis und bedingte Reue anerkannt. Das Oberlandesgericht in Olomouc verminderte eine der Strafen um zwei Jahre. Den Geschädigten erkannte es eine Entschädigung in Höhe von etwa zehn Millionen Kronen an. Revisionsanträge der Verurteilten beim Obersten Gericht und zwei Verfassungsklagen derselben wurden abgewiesen.
Das tschechische Oberste Verwaltungsgericht verbot die erwähnte Arbeiterpartei im Februar 2010. Die ehemaligen Führungskräfte der DS schlossen sich mehrheitlich der bereits im Vorhinein als Notlösung gegründeten DSSS (Arbeiterpartei für soziale Gerechtigkeit) an. Diese hat bislang davon abgelassen, ihren Kampf gegen das von ihnen verhasste demokratische System wieder auf der Straße zu übertragen. Seit Ende des Strafverfahrens im Fall Vitkov und der auch für tschechische Verhältnisse harten Bestrafung der Täter sind in Tschechien Brandanschläge gegen Roma ein Relikt der Vergangenheit.
Markus Pape, Menschenrechtsbeobachter, im Fall Vitkov Nebenklagevertreter