Belltower.News: „Wir lassen uns nicht unterkriegen“ lautet der Titel eures ersten Buches, das diesen März erschienen ist. Nicht unterkriegen lassen von wem eigentlich?
Ruben Gerczikow: Das ist ein Zitat von einer Interviewpartnerin im Buch, eine jüdische Aktivistin, die sich durch Aufkleber und Streetart gegen Antisemitismus, aber auch gegen Rechtsextremismus, BDS oder die Terrororganisation PFLP, politisch engagiert. Und für sie bedeutet der Spruch, sich nicht unterkriegen zu lassen, wenn die Sticker wieder abgerissen werden. Wir fanden das als Titel sehr passend. Denn es beschreibt eben genau das, was sehr viele Jüdinnen*Juden, die sich politisch engagieren, immer wieder sagen: Egal ob sie sich mit Antisemitismus auseinandersetzen wollen oder nicht, sie werden damit konfrontiert. Die Stimmen in unserem Buch lassen sich aber davon nicht unterkriegen. Im Gegenteil: Sie machen politische Arbeit. Und das immer weiter und auf sehr vielen beeindruckenden Wegen.
Jüdinnen*Juden werden in Deutschland oft nur als Opfer angesehen. In eurem Buch setzt ihr euch aber auch mit jüdischer Widerständigkeit auseinander…
Monty Ott: Das Schreiben des Buches ist ja an sich auch ein Akt von Widerständigkeit gewesen. Es wurde schon gesagt: Jüdinnen*Juden werden als Opfer gesehen. Oder auf Themen wie Antisemitismus reduziert. Und die Geschichten, die wir aufgeschrieben haben, zeigen ja: Antisemitismus spielt zwar eine Rolle. Aber es geht vor allem darum, dass diese Menschen aus den unterschiedlichsten Gründen heraus und auf die unterschiedlichsten Weisen Politik machen – sei es mit Streetart, Bildungsarbeit oder Umweltpolitik. Diese Widerständigkeit spielt in all diesen Geschichten eine Rolle.
Schreiben ist auch eine Form des Aktivismus, heißt es im Buch…
Monty Ott: Genau. Wir sind beide in aktivistischen Kontexten lange unterwegs. Ruben war zum Beispiel Vizepräsident der European Union of Jewish Students, ich habe unter anderem „Keshet Deutschland“, einen queer-jüdischen Verein, mitgegründet. Aber wir sind immer wieder auf eine Leerstelle in der Öffentlichkeit gestoßen: Und wir dachten, wir würden gerne diese ganz tollen Geschichten irgendwo lesen. Also ist es zum Teil unseres Aktivismus geworden, sie selbst festzuhalten und für andere Menschen zugänglich zu machen. Gleichermaßen wollen wir diese Geschichten erzählen, weil sie auch ein bisschen Hoffnung machen.
Das Buch besteht aus teilweise sehr persönlich erzählten Reportagen – von den Universitäten über Parteipolitik bis in die Stadionkurve. Warum habt ihr euch für diese Form des Schreibens entschieden?
Monty Ott: Ziel des Buches war nicht bloß die Geschichten von Leuten zu erzählen, die uns in den Kram passen, sondern den Protagonist*innen eine Plattform zu geben, auf der sie sich selbst und ihre politische Arbeit darstellen können, wie sie es wollen.
Ruben Gerczikow: Wir schreiben auch ganz am Anfang: Wir teilen nicht jede politische Forderung oder sind nicht immer mit allem d’accord, was sie sagen. Aber diese vielen Geschichten gehören zur vielfältigen politischen Lebensrealität von Jüdinnen und Juden in Deutschland. Und damit wollen wir zeigen, dass das Judentum eben nicht dieser monolithische Block ist, wie er oft dargestellt wird. Es gibt aber natürlich auch Grenzen, wie zum Beispiel Juden in der AfD oder Sympathisant*innen von BDS. Wir machen deutlich, dass es sie gibt. Aber wir porträtieren sie nicht.
Hat diese Vielfalt an Identitäten bislang gefehlt in der öffentlichen Wahrnehmung?
Ruben Gerczikow: Auf jeden Fall. Im Kontext von Parteipolitik zum Beispiel wird erst dann mit jüdischen Mitgliedern gesprochen, wenn es um Antisemitismus geht. Aber für viele ist der Antisemitismus überhaupt nicht ausschlaggebend gewesen, sich politisch zu engagieren. Sie sind etwa unzufrieden mit der Bildungspolitik, wollen etwas aufgrund ihrer eigenen Erfahrung in der Migrationspolitik verändern, oder, vor allem unter der jungen Generation, setzen sich viele stark mit Klimapolitik auseinander. Sie engagieren sich nicht wegen, sondern trotz Antisemitismus: Im Fußballstadion, auf der Straße, durch Streetart – also Sachen, mit denen jüdisches Leben in Deutschland nicht unbedingt in Verbindung gebracht wird.
Im Buch geht es konkret um junge jüdische Politik: Ist das Judentum, das Spektrum an jüdischen Protagonist*innen im Band nicht zu divers, um die eine jüdische Politik zu beschreiben?
Ruben Gerczikow: Definitiv. Es gibt auch den bekannten Spruch: zwei Juden, drei Meinungen. Und das merke ich anhand meiner eigenen Erfahrung im jüdisch-politischen Kontext auch. Es kann schwierig sein, Kompromisse zu finden. Doch häufig, aber nicht immer, bietet das Judentum eine Möglichkeit, diesen Kompromiss zu finden. Man kann auf einen gemeinsamen Nenner kommen.
Trotz aller Unterschiede der jüdischen Identitäten und Lebensrealitäten im Buch: Gibt es Gemeinsamkeiten?
Monty Ott: Es gibt in Deutschland zwischen 100.000 und 220.000 Jüdinnen*Juden, je nach Zählung. Die überwiegende Mehrheit entscheidet sich nicht dafür, in die Öffentlichkeit zu gehen oder Politik zu machen, sondern nur eine kleine Minderheit. Und das verbindet die Geschichten in unserem Buch: Sie wollen die Gesellschaft aktiv mitgestalten. Damit stehen sie in der Öffentlichkeit – mit allem Positiven und Negativen, das damit einhergeht. Und genau das prägt sie auch. Gleichzeitig müssen wir selbstkritisch sagen: Diejenigen Jüdinnen*Juden, die in der Öffentlichkeit stehen, habe zumeist längere Geschichten in Deutschland.
Dieses Engagement sei alles andere als selbstverständlich, schreibt ihr, angesichts der virulenten Bedrohung durch Antisemitismus. Was bedeutet das konkret im aktivistischen Alltag?
Ruben Gerczikow: Dass man ein sehr dickes Fell haben muss. Wenn man als Jude oder Jüdin in Deutschland öffentlich in Erscheinung tritt, dann ist es so, als ob man ein Fadenkreuz auf dem Gesicht hätte. Denn es lauert immer die Gefahr, dass man angegriffen wird. Wir müssen hier gar nicht darüber reden, dass es Antisemitismus in jeder gesellschaftlichen Schicht, in jedem politischen Lager gibt, dass man immer und überall für die bloße Existenz angefeindet oder mit dem Tod bedroht wird. Aber die Protagonist*innen in unserem Buch machen das trotzdem. Sie stehen für eine demokratische Gesellschaft ein, sie solidarisieren sich mit anderen marginalisierten Gruppen, obwohl diese Gesellschaft sie zum Teil überhaupt nicht schützen will oder kann.
Monty Ott: Antisemitismus ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Aber, wie ich kürzlich in einem Essay über meinen Platz in linken Bewegungen beschrieben habe, wird einem die Zugehörigkeit zu einer politischen Gruppierung oft abgesprochen, wenn man nicht bereit ist, den Antisemitismus dort zu akzeptieren, oder Kritik daran äußert, vor allem als Jüdin*Jude. So wärmend das Licht der Öffentlichkeit sein kann, so schwierig und problematisch ist es gleichermaßen.
Ihr schreibt auch vom Selbstbewusstsein der Protagonist*innen im Buch. Ein Selbstbewusstsein, das alles andere als selbstverständlich sein muss im Land der Täter, oder?
Ruben Gerczikow: Dieses Selbstbewusstsein hat sich in den letzten Jahren stärker entwickelt. Nach der Shoah gab es das Bild von gepackten Koffern: Zur Not war man bereit, wegzuziehen. Aber es gab in der Vergangenheit immer wieder Beispiele vom Selbstbewusstsein, wie zum Beispiel die Bühnenbesetzung der jüdischen Gemeinde in Frankfurt bei der Uraufführung von Fassbinders Theaterstück „Der Müll, die Stadt und der Tod“ 1984. Trotz der bestehenden antisemitischen Gefahr in Deutschland gibt es heute aber auch ein anderes Gefühl: Deutschland ist auch unser Zuhause. Und deswegen möchten wir es zum Besseren verändern.
Monty Ott: Wenn man sich aber die vergangenen Jahrzehnte und die Debatten und Ereignissen rund um jüdisches Leben in Deutschland anschaut – ob der Schauprozess gegen Philipp Auerbach oder der Mord an Shlomo Lewin und Frida Poeschke –, dann sind das nicht unbedingt Sachen, die dazu ermutigen, selbstbewusst aufzutreten. Jüdinnen*Juden in der Öffentlichkeit geraten unter Beschuss. Manchmal sogar wortwörtlich. Ruben spricht ja von einem Fadenkreuz. Vor diesem Hintergrund müssen wir dieses Selbstbewusstsein begreifen.
Das Jom-Kippur-Gebet in der Synagoge in Halle 2019, organisiert vom Verein Hillel Deutschland, war ein Versuch, jungen Jüdinnen*Juden ein Stück jüdische Identität näherzubringen. Doch ein schwer bewaffneter Rechtsterrorist griff die Synagoge an, er ermordete zwei Menschen. Welche Spuren hinterlässt dieser Tag unter jungen Jüdinnen*Juden?
Ruben Gerczikow: Der Anschlag war das Aufreißen der Wunde meiner Generation, die sich Shoah nennt. Natürlich gibt es eine traurige Traditionslinie von antisemitischen, rechtsterroristischen Anschlägen in Deutschland. Der Terror war nie weg, wie Ronen Steinke in seinem Buch „Terror gegen Juden“ eindrucksvoll aufzeigt. Aber Halle war für uns der erste, der sich so nah gefühlt hat – von der zeitlichen Distanz her, aber auch, weil der Täter ihn live gestreamt hat. Man konnte ihn in Echtzeit mitverfolgen. Gleichermaßen hat der Anschlag viele Menschen politisiert. Er führte dazu, dass sie sich mit diesen rechtsterroristischen Kontinuitäten auseinandersetzen, die es in der Bundesrepublik gibt.
Einige Überlebende des Anschlags kommen im Buch zu Wort…
Ruben Gerczikow: Wir haben mit Rebecca Blady und Jeremy Borovitz, die Rabbiner*innen, die das Jom-Kippur-Gebet organisierten, sowie mit Christina Feist und Talya Feldman gesprochen. Alles Menschen, die sich nicht davon unterkriegen lassen wollen, auch nicht nach einem rechtsterroristischen Anschlag. Im Gegenteil. Rebecca spricht immer von „Resilienz“. Genau das wollen wir mit dem Buch ausdrücken.
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Monty Ott ist Politik- und Religionswissenschaftler. Er schreibt vor allem über Antisemitismus, Erinnerungskultur, Intersektionalität und Queerness, seine Essays sind u.a. in der taz, Zeit und Jüdischen Allgemeinen erschienen. Von 2018 bis 2021 war er Gründungsvorsitzender des queeren jüdischen Vereins „Keshet Deutschland“.
Ruben Gerczikow ist Kommunikationswissenschaftler und Autor. Er recherchiert u.a. zu antisemitischen Strukturen im digital und öffentlichen Raum. Regelmäßig kommentiert er das politische Tagesgeschehen in diversen Zeitungen, besonders zu den Themen Antisemitismus, Rechtsextremismus und Islamismus. Von 2019 bis 2021 war er Vizepräsident der European Union of Jewish Students sowie der Jüdischen Studierendenunion Deutschlands.