Im Prozess gegen den Attentäter von Halle geht es immer wieder um den Polizeieinsatz am Tag des Anschlags. Unterschiedliche Zeug*innen berichten über Fahndungspannen und fragwürdiges Verhalten von Beamt*innen gegenüber der Betroffenen. Es dauerte gut 10 Minuten vom ersten Notruf bis zum Eintreffen der Polizei an der unbewachten Synagoge. Auf der Straße liegt Jana L., die kurz zuvor ermordet wurde. Die Beamt*innen halten Abstand, es gibt keine Wiederbelebungsversuche, der Tod wird lange nicht festgestellt. Gegen zwei der Beamt*innen wurde Anzeige wegen unterlassener Hilfeleistung gestellt.
Fast genau ein Jahr nach dem Anschlag ist der Innenminister von Sachsen-Anhalt, Holger Stahlknecht, im Polizeirevier Dessau-Roßlau zu Besuch, wegen eines Covid19-Falls sind gerade mehrere Beamt*innen in Quarantäne. Es geht bei dem Termin um Arbeitsbelastung in der Krise und den permanenten Personalnotstand bei der Polizei. Dabei kommt auch zur Sprache, dass das Revier eigenen Angaben nach monatlich 1.500 Arbeitsstunden zusätzlich leistet, um die Sicherheit jüdischer Einrichtungen in Dessau zu garantieren. Stahlknecht, Innenminister seit 2011 und oberster Dienstherr der der Polizei in Sachsen-Anhalt, ist verantwortlich für Überstunden, für den Personalabbau, für die Situation der Polizei und schlussendlich für die innere Sicherheit im Land. Stahlknecht sagt nun aber, dass der Schutz jüdischer Einrichtung und damit der Schutz jüdischen Lebens eben auch dazu führe, dass die Polizei nicht bei jeder Anforderung pünktlich zur Stelle sei. Darum bitte er die Bürger*innen um Verständnis, so die Mitteldeutsche Zeitung. Denn: „Diese 1.500 Stunden fehlen woanders.“
Es hagelt heftige Kritik an Stahlknecht. Anetta Kahane, Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung entgegnet etwa: „Der Schutz jüdischen Lebens ist keine Zumutung! Die wenigen übriggeblieben Juden und Jüdinnen in diesem Land dafür verantwortlich zu machen, dass anderen Nachteile entstehen, ist ein Skandal. Die Äußerungen des Innenministers stehen vollständig außerhalb der Staatsräson und beweisen großes Unwissen über die reale Situation von Juden und Jüdinnen nach dem Anschlag von Halle. Es ist empörend, mit welcher Ignoranz und Kaltschnäuzigkeit hier antisemitische Stereotype bedient werden.“
„Wenn das missverstanden worden ist, dann tut mir das leid“, sagt Stahlknecht jetzt. Sein Ziel sei, „dass jüdisches Leben bestmöglich geschützt wird.“ Die Sicherheit von Synagogen sei „nicht verhandelbar“ und genieße „oberste Priorität“. Stahlknecht entschuldigt sich für das Missverständnis, nicht für seine Äußerung. Eine Äußerung, die suggeriert, dass Juden und Jüdinnen eine privilegierte Position genießen, die negative Auswirkungen für andere hat. Gleichzeitig ignoriert sie das viel größere Problem, dass besonders einem Innenminister bewusst sein sollte: Jüdische Einrichtungen genießen besonderen Schutz, nicht weil Juden und Jüdinnen besser als andere behandelt werden wollen, sondern weil sie bedroht werden und Übergriffe und Diskriminierungen zum Alltag gehören. Das hat ganz aktuell der Angriff auf einen Studenten in Hamburg erneut deutlich gemacht. In Holger Stahlknechts Bundesland war es der Terroranschlag von Halle. Eine Konsequenz daraus ist ein Staatsvertrag mit den jüdischen Gemeinden des Bundeslandes den Stahlknecht in dieser Woche unterschrieben hat. 2,4 Millionen Euro stehen bis Ende 2021 bereit, um die Sicherheit zu verbessern. Und schließlich liegt der Zustand der Polizei in Stahlknechts Händen. Wenn es zuwenig Polizist*innen in Sachsen-Anhalt gibt, gehört das zur Verantwortlichkeit des Innenministers, nicht zu der von Juden und Jüdinnen.
Josef Schuster, der Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland hatte sich bereits am Montag geäußert: „Mit seinen Äußerungen suggeriert Minister Stahlknecht, Juden seien schuld daran, wenn sich die Polizei um die Belange der übrigen Bevölkerung nicht mehr angemessen kümmern könne.“ Weiter sagte Schuster: „Ein Landesinnenminister scheut sich nicht, Juden als privilegiert darzustellen und sie gegen andere Bevölkerungsgruppen auszuspielen. Damit befördert er Antisemitismus. Das ist ein Armutszeugnis.“ Der Zentralratspräsident spricht auch von personellen Konsequenzen: „Es stellt sich die Frage, ob Holger Stahlknecht weiter für das Amt des Innenministers geeignet ist.“
Politiker*innen in Sachsen-Anhalt äußern sich ebenfalls kritisch. „Der Staat muss für den Schutz aller bedrohten Menschen sorgen, ganz egal, ob jüdische Gemeinden oder ein Innenminister zu schützen sind“, sagte Sebastian Striegel, Landeschef der Grünen. Igor Matviyets, Sprecher der AG Migration der SPD Sachsen-Anhalt, forderte Stahlknechts Rücktritt, genau wie die innenpolitische Sprecherin der Linken im Landtag, Henriette Quade. Der innenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Rüdiger Erben, will klärende Worte: „Der Minister muss das richtigstellen. Sein knappes Statement reicht da nicht aus.“