„Mit großer Sorge nehmen wir vor allem die starke Zunahme der Demonstrationen und Aktionen gegen Asylunterkünfte im gesamten Bundesland in den letzten zwei Jahren zur Kenntnis. Sowohl die Quantität als auch die Qualität der rassistischen Proteste sorgen landesweit für enorme Bedrohungslagen auf Seiten der Geflüchteten und der Menschen, die sich für die Asylsuchenden engagieren,“ sagt Grit Hanneforth, Geschäftsführerin des Kulturbüros Sachsen.
Am 16. Juni 2015 veröffentlichte das Kulturbüro Sachsen e.V. eine aktuelle Analyse zur Verfasstheit und den wichtigsten Entwicklungen der organisierten Neonazi-Szene und rechter Gruppen im Freistaat Sachsen. Der Titel der Publikation lautet: „Sachsen rechts unten 2015“ und setzt sich aus Beispielen und qualitativen Beschreibungen aus den sächsischen Regionen in den letzten 12 Monaten zusammen. Und stellt fest: Trotz der derzeitigen Strukturschwäche der NPD gibt es eine nach wie vor aktive, hochvernetze und lokal gut verankerte neonazistische Szene in Sachsen. Die aktive Teilnahme an den Anti-Asyl-Protesten und das landesweite Netz von Immobilien im Besitz von Neonazis können jederzeit zu einer Reaktivierung von schlagkräftigen Strukturen führen. Darüber hinaus sorgen PEGIDA und seine Ableger für eine hohe Anschlussfähigkeit rassistischer Positionen an die Mehrheitsgesellschaft.
Grit Hanneforth sagt: „Anders als vor 10 Jahren existieren heute in Sachsen handlungsfähige und erprobte zivilgesellschaftliche Strukturen. Ziel und Aufgabe muss es sein, diese weiter auszubauen, und damit ein weiteres Erstarken rechter Kräfte in Sachsen langfristig zu unterbinden.“
Im Bericht:
Wichtigste neonazistische Parteien und Zusammenhänge
Die NPD ist seit Herbst 2014 haarscharf nicht mehr im Landtag (4,95 Prozent) – und verliert dadurch Personal (u.a. Daniela Stamm aus Bautzen, Antje Hiekisch aus Ostsachsen, Maik Scheffler aus Nordsachsen) und Einfluss in der „freien“ Naziszene. Aber: Punktete mit Anti-Asyl-Kampagnen wie „Lichtelläufe“, „Nein zum Heim“, und „xx wehrt sich“, „Heimat schützen – Asylmissbrauch bekämpfen“ und setzte damit den Angstdiskurs, auf den sich später Pegida beziehen konnte.NPD hat noch 38 Kreistagsmandate (6 weniger als 2008), 59 Mandate in Stadt- und Kreistagn (2009: 74), gewinnt in manchen Regionen (Sächsische Schweiz-Osterzgebirge) sogar Mandate hinzu.Eine „agile und aktionsorientierte Neonazi-Szene„, die sich ohne Organisationen organisiert, hat Sachsen seit über 25 Jahren (unter wechselnden Bezeichnungen wie Kameradschaften, Freie Kräft, Freie Netze oder Autonome Nationalist_innen) – allerdings schwächelt diese organisatorisch, kriegt etwa keine großen Nazi-Aufmärsche zum 13. Februar in Dresden mehr hin. Auch das „Blood & Honour“-Netzwerk spielte und spielt in Sachsen eine große Rolle.Inhaltlich streben alle eine „Überwindung der Demokratie“ an – die NPD mit rechtsstaatlichen und parlamentarischen Mitteln, die Neonazi-Szene mit Militanz und Revolution. Ziel bei beiden: Eine homogene weiße Volksgemeinschaft.2014 verbotene parteiungebundene Neonazi-Strukturen: Nationale Sozialisten Chemnitz, IG Chemnitzer Stadtgeschichte, CFD-Fangruppe NS-Boys, „Raus in die Zukunft„-Kundgebungen (gegen Flüchtlinge; Kooperationen von Neonazi-Szene mit Pro Chemnitz und NPD; nach Verbot gegen die Akteur_innen einfahc zu „Chemnitz stellt sich quer“, „Chemnitz wehrt sich“ und „Cegida / Erzgida“)
Verankerung neonazistischer Strukturen
Neonazi-Immobilien: Mehr als 10 Immobilien oder Räume im Besitz von Neonazis durch Kauf oder Pacht – z.B. „Haus Montag“ in Pirna-Copitz; andere in Chemnitz, Kohren-Salis, Görlitz, Gohrisch-Kleinhennersdorf; weitere 20 Objekte sind für rechtsextreme Treffen, Konzerte, Veranstaltungn nutzbar, z.b. in Annaberg-Buchholz, Lunzenau, Dresden, Quitzdorf am See, Ostritz.Neonazi-Laden- und Vertriebsszene: 20 Ladengeschäfte, 15 unterschiedliche Vertriebsstrukturen und Versändez.B. der drei bundesweit wichtigsten Neonazi-Musik-Label: PC-Records, OPOS-Records, Front-Records – Sachsen ist Dreh- und Angelpunkt der deutschen Rechtsrock-Szenedas heißt: Geld und Arbeitsplätze für die rechtsextreme Szene; Betreiber_innen als Immobilien-Besitzer_innen, Konzertveranstalter_innen, Sponsor_innen von Nazi-Events
GIDA-Demonstrationen
Nach Sarrazin und AfD sind rassistische und nationalchauvinistische Positionen wieder außerhalb des Neonazi-Millieus möglich – darauf fusst PegidaPegida mobilisiert erfolgreich das große Potenzial an rassistischen und asylfeindlichen Einstellungen in der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Pegida bleibt größtenteils ein sächsischen Phänomen; und selbst in Dresden bleiben die Pegida-Teilnehmer_innen bei weitem eine Minderheit in der Mehrheitsgesellschaft – eine, die zu viel Bedeutung und Aufmerksamkeit erhielt.Die Dialogangebote werteten Pegida unnötig auf; es wurde versäumt, deutlich zu machen, wo Grenzen des Gesprächs liegen.Statt Dialogangebote von Staatsregierung und Landespolitik an Pegida hätte es lieber Dialogangebote für die gegen Pegida engagierten Sächsinnen und Sachsen, Willkommensbündnisse und Migrantenselbstorganisationen geben sollen – und Empathie für geflüchtete Menschen und eine Vermittlung durch die Politik und Eliten, das Asyl ein Menschenrecht ist.Inzwischen ist Pegida von der neurechten und verschwörungsideologischen Szene übernommen, die eine massive Diskursverschiebung nach rechts betreibt, um den rassistischen Resonanzraum in der Gesellschaft zu erweitern. Pegidas Ziele stehen einer menschenrechtsorientierten demokratischen Gesellschaft diametral entgegen.
Die gesamte Analyse als PDF zum Download:
| http://www.kulturbuero-sachsen.de/images/PDF/Sachsen_rechts_unten_2015_KulturbueroSachsen.pdf
Das Kulturbüro Sachsen e.V. berät seit 2001 lokale Vereine, Jugendinitiativen, Kirchgemeinden, Netzwerke, Firmen sowie Kommunalpolitik und -verwaltung in Sachsen mit dem Ziel, rechtsextremistischen Strukturen eine aktive demokratische Zivilgesellschaft entgegenzusetzen. Als langjähriger, landesweiter Träger hat sich das Kulturbüro Sachsen e.V. eine umfangreiche Expertise im Themengebiet erarbeitet.