Weiter zum Inhalt Skip to table of contents

Sarrazin, Grosser und der christlich-jüdische Gleichklang

Von|

Von Anetta Kahane

Im Moment versuchen Populisten es mit einem besonders geschmacklosen Manöver: Sie kategorisieren die in Deutschland lebenden Minderheiten in gute und schlechte, in kluge und dumme, in integrierte und integrationsunwillige – und neuerdings in Juden und Muslime. Das kommt gerade recht zum 9. November, dem Tag des Gedenkens an die Pogrome von 1938 und der Erinnerung daran, wie die industrielle Ermordung der Juden Europas begann. Jetzt, 65 Jahre nach dem Ende dieser Barbarei, reden Politiker mit einem Male von einer christlich-jüdischen Kultur, die dieses Land bestimme. Nach Jahrhunderten der Verfolgung, die im Holocaust ihren Höhepunkt fand, ist das nur zynisch. Ganz besonders anmaßend jedoch wirkt es, wie durchschaubar deutsche Politiker die Juden gegen ihren Willen in Beschlag nehmen, um mit der angeblich christlich-jüdischen Kultur nun gegen den Islam als das gefährliche Fremde zu schießen.

Wie kann nur jemand auf die Idee kommen, den Juden könnte das gefallen? Die Juden blieben lange allein mit ihrer Besorgnis angesichts eines Antisemitismus, der sich als Israelkritik verkleidet und seine Kraft aus einer neuen Art des globalen Antiimperialismus schöpft, dessen zentrale Subjekte des Bösen Israel und die USA sind. Aus dieser Sicht heraus wurde auch der heftige Antisemitismus muslimischer Milieus jahrelang ignoriert oder geduldet. Sowohl die Multikultifraktion als auch konservativ-christliche Eliten beschäftigte der Dialog mit „dem Islam“, oft vertreten durch Organisationen, deren Antisemitismus offenkundig war.

Zugleich mussten die Juden bei jeder Gelegenheit die Selbstverständlichkeit einräumen, dass man Israel kritisieren darf. Übrigens genauso wie Muslime, die sich generell erklären mussten, nicht allesamt Terroristen und Frauenhasser zu sein. Eine Mehrheitsgesellschaft, die Minderheiten derart nötigt, kann nicht als offen und liberal bezeichnet werden.

Der beschworene christlich-jüdische Gleichklang war jedoch nur Heuchelei. Als Festredner der Veranstaltung in der Paulskirche zum Gedenken an die Novemberpogrome lud die Stadt ausgerechnet den französisch-jüdischen Publizisten Alfred Grosser ein. Grosser gilt als einer der schärfsten Kritiker Israels, der vor NS-Vergleichen nicht zurückschreckt und sich ausdrücklich mit Martin Walsers Gerede von der „Auschwitzkeule“ identifiziert.

Schlimmer noch: Er macht Israel und diejenigen, die Israel gegen Hassattacken verteidigen, für den Antisemitismus verantwortlich. Es ist sein gutes Recht, derlei zu sagen, aber muss man ausgerechnet ihn in die Paulskirche einladen? Anlässlich der Erinnerung an die antisemitischen Pogrome und ihre Opfer?! Ausgerechnet einen Juden einzuladen, der solchen Schmutz verbreitet, gehört zum Stil eines kalten, unverschämten Missbrauchs von Minderheiten für eigene Zwecke. Ob es dabei um Juden geht oder um Muslime, ist vollkommen austauschbar.

Wem es bisher nicht klar war: Mit uns Juden gibt es kein „Teile und Herrsche“ zwischen Minderheiten in Deutschland. Solch berechnendes Verhalten ist kränkend für die jüdische Gemeinschaft. Aber, das wusste schon Sarrazin: Wir sind doch nicht blöd!

Dieser Artikel erschien am 11.November 2010 in der Berliner Zeitung

Weiterlesen

Demonstration gegen die Energiepolitik der Bundesregierung

Verfassungsschutzbericht 2022 Zahlen, Daten, Fakten

Wie viele Rechtsextreme, Neonazis, demokratiefeindliche Verschwörungsgläubige gibt es aktuell in Deutschland? Was machen sie? Wie versuchen Sie, ihre Hass-Ideologie zu…

Von|
Xavier Naidoo Live beim Giessener Kultursommer 2019

Im Fahrwasser rechtsextremer Ideologie Xavier Naidoo beschwört in Videos den Untergang Deutschlands

Der Soul-Sänger Xavier Naidoo postete in einer Telegram-Gruppe einige Videos mit Song-Ausschnitten seines geplanten Albums. Es geht um #Wirsindmehr, Chemnitz 2018, das Fehlen eines starken Mannes und darum, dass Deutschland kurz vor dem Untergang stehe, weil Geflüchtete so viele Deutsche töten würden. Eigentlich waren die Videos nicht für die Öffentlichkeit bestimmt – es kam anders.

Von|
2017-04-25_PMK-aufmacher

Kriminalstatistik 2016 Rechte Hasskriminalität steigt weiter drastisch

Die Polizeiliche Kriminalstatistik 2016 enthüllt erschreckendes: Erneute Zunahme von rechtsmotivierten Gewalttaten, Zunahme von antisemitischen Gewalttaten und die Opfergruppe der Asylbewerber_innen und Geflüchteten ist überproportional häufig vertreten. Die politisch motivierte Gewalt erreicht erneut einen traurigen Rekord.

Von|
Eine Plattform der