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Sarrazins Trümmerhaufen Unter dem Deckmantel der Islamkritik

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Thilo Sarrazin (mit Nekla Kelek) bei der Pressepräsentation seines Buches "Deutschland schafft sich ab" im August 2010 (Quelle: ngn/sr)

Mitte April erhielt Deutschland eine Rüge vom Antirassismus-Ausschuss der Vereinten Nationen, weil es Thilo Sarrazin dessen umstrittene Äußerungen zu Türken und Arabern durchgehen ließ. In einem Interview hatte Sarrazin 2009 sinngemäß erklärt, diese würden uns durch eine hohe Geburtenrate unterwandern und seien weitgehend nutzlos. Die hiesige Staatsanwaltschaft stufte das als Meinungsäußerung ein, die Vereinten Nationen sahen das anders: Das Unterlassen strafrechtlicher Ermittlungen stelle einen Verstoß gegen das UN-Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung dar.

Sarrazin ist der breiten Öffentlichkeit vor allem durch sein umstrittenes Buch „Deutschland schafft sich ab“ ein Begriff, das vor kruden biologistischen Thesen und rassistischen Behauptungen strotzt. Doch was nach der Veröffentlichung des Buches weit mehr schockte als dessen Inhalt selbst, waren die Reaktionen darauf: So erfuhr Sarrazin breite Unterstützung – von dem Publizisten Ralph Giordano, der Islamkritikerin Necla Kelek und NPD-Größen wie Udo Voigt, aber auch von Bürgerinnen und Bürgern, die in Internetforen und Leserkommentaren Beifall klatschten. Noch heute, drei Jahre nach Veröffentlichung, ziehen vermeintliche „Islamkritiker“ Sarrazins heran, um ihre Argumente zu stützen.

Gefährliche Ersatzdebatte

Auch, wenn das Buch schon lange aus dem medialen Fokus verschwunden ist, hat es die „Integrationsdebatte“ in Deutschland nachhaltig verändert. Und es hat ein merkwürdiges Paradoxon deutlich gemacht, das Klaus Bade in seinem Buch „Kritik und Gewalt. Sarrazin-Debatte, ‚Islamkritik‘ und Terror in der Einwanderungsgesellschaft“ deutlich macht: Denn während besonders unter jüngeren Menschen die Akzeptanz des kulturellen Pluralismus‘ wachse, gebe es gleichzeitig massive kulturelle Ressentiments in der Einwanderungsgesellschaft. Das Ergebnis dieser widersprüchlichen Spannung sei eine Ersatzdebatte anstelle der verdrängten Diskussion um die neue Identität in der Einwanderungsgesellschaft.

Für Bade stellt sich diese Ersatzdebatte als „Negative Integration“ dar: die Selbstvergewisserung der Mehrheit durch die Ausgrenzung einer großen – muslimischen – Minderheit. „Politik verkennt die Brisanz dieser negativen Integration, solange sie ‚Integrationspolitik‘ nicht als Gesellschaftspolitik für alle versteht“, so Bade. Er stellt fest: „Zur Annahme der mit dem Weg zur Einwanderungsgesellschaft verbundenen gesellschaftspolitischen Herausforderungen und zur oft zögerlichen Gestaltung der damit verbundenen Aufgaben kam es in Deutschland sehr spät; denn Deutschland blieb lange ein in seiner Selbsterkenntnis verspätetes Einwanderungsland wider Willen.“

Unterschied zwischen Kritik und Hetze

Bade beschreibt in seinem Buch zunächst die Ausgangslage mit Deutschland als Einwanderungsland wider Willen, um dann zur Sarrazin-Debatte zu kommen. Diese sei weit mehr gewesen als eine ausufernde Buch-Debatte: „Sie beleuchtete deutlich weitreichendere kommunikative, gesellschaftliche und gesellschaftspolitische Bruchlinien und Spannungsfelder.“ Ausführlich beschreibt der Migrationsforscher Person und Positionen Sarrazins, Unterstützer und Kritiker sowie das mediale Echo. Zu den Argumenten Sarrazins schreibt Bade: „Hinter all dem steht ein hochkonservatives, ahistorisches und statisches, zugleich stark biologistisches und sozialtechnologisches Kultur- und Gesellschaftsverständnis.“

Wichtig ist die Unterscheidung, die Bade in seinem Buch trifft zwischen sachlicher und friedlicher Auseinandersetzung mit dem Islam und der aggressiven und feindlichen Hetze, die sich als Islamkritik tarnt. Gerade letzterer begegnet man im Internet immer wieder, gerne eingeleitet mit den Worten „Man wird doch nochmal sagen dürfen, dass …“

„Desintegrationspublizisten“ und „Panikmacher“

Im folgenden Kapitel geht es um das von Bade so genannte „Agitationskartell“ – gemeint sind Autorinnen und Autoren, mit den sich Bade immer wieder öffentlich gestritten hat, so etwa neben Thilo Sarrazin vor allem Necla Kelek, Henryk M. Broder, Ralph Giordano und Alice Schwarzer. Für Bade sind diese „Desintegrationspublizisten“ und „Panikmacher“, deren Klage über angeblich gescheiterte Integration heftigen Beifall bekommt – und das eben nicht nur an Stammtischen, sondern auch von Islamhassern und Internethetzern.

Folglich widmet sich das fünfte Kapitel dem so genannten „virtuellen Pranger“: der Denunziation und kommunikativen Kriminalität im Internet. Bade weiß, wovon er spricht: Immer wieder wird der Migrationsforscher Ziel von Shitstorms, landet auf virtuellen Fahndungslisten und bekommt unzählige Hassmails. Die digitale Wortgewalt wurde so brachial, dass er öffentliche Auftritte nur noch mit Personenschutz absolvieren kann. Bade stellte auch mehrfach Strafanzeige, allerdings vergeblich: Die Gewaltaufrufe reichten der Polizei nicht.

Wortgewalt und Tatgewalt

Im Kapitel 6 schlägt Bade schließlich eine Brücke zwischen der Debatte über „Islamkritik“ bis hin zu den Erfahrungen und der Aufarbeitung der NSU-Morde. Bade sagt hierbei mitnichten, dass das „Agitationskartell“ mit seiner Wortgewalt für die Tatgewalt des Terrors verantwortlich sei – er mahnt jedoch, dass Instrumente geschaffen werden, die sich in einer radikalisierten Szene verselbständigen könnten – und dieser Verantwortung müssten sich die so genannten „Islamkritiker“ bewusst sein.

In der Folge geht Bade darauf ein, welchen Einfluss diese Kritiker auf Behörden und Politik nehmen: „Sie holen ratlose, aber empörungsbereite Vorurteilsträger dort ab, wo sie mit ihren kulturellen Ängsten stehen.“

„Integrationskurse für alle“

Am Ende plädiert Bade für eine kollektive Identität, für ein „solidarisches Wir“ in der Einwanderungsgesellschaft. Dieses „Wir“ habe die Sarrazin-Debatte ein Stück weit kaputt gemacht. Und mehr noch: „In der millionenstarken muslimischen Einwandererbevölkerung hat sie schweren Schaden angerichtet, den man nicht ’schönschreiben‘ kann. Sie hat das Grundvertrauen der Integrationsoptimisten erschüttert und die Befürchtungen der Integrationspessimisten bestärkt.“

Umso wichtiger sei es nun, die geschickt an der Grenze der Verfassungskonformität operierenden Agitatoren zu ächten. Nötig sei außerdem eine klare und mutige Selbstbeschreibung von Einwanderungsgesellschaft und Einwanderungsland, ein Zusammenhalt stiftendes Selbstbild mit gemeinsam erarbeiteten Grundorientierungen. Vielleicht brauche es gar „Integrationskurse für alle“, also auch für Deutsche ohne Migrationshintergrund. Ohne derlei Anstrengungen, so Klaus Bade, drohe ein düsteres Szenario: „Gelingt dieser Kurswechsel nicht, dann könnte Deutschland in den Weg anderer europäischer Länder einbiegen, mit einem starken Wachstum völkischer, von charismatischen Demagogen geführter Strömungen und Parteien.“

Fazit: Lesenswerter Zorn

Bei der Vorstellung von Bades Buch in Berlin lobte die Politikwissenschaftlerin Naika Foroutan „Kritik und Gewalt“ als ein Geschenk: „Sie selbst, mein lieber Klaus Bade, sind genauso wie Ihr Buch: glaubwürdig, mutig, demokratisch und aufrecht.

Tatsächlich ist „Kritik und Gewalt“ ein wertvoller Beitrag in der Debatte um die Wirkung von Sarrazin und Co. Wie sehr ihn diese Diskussion entsetzt hat, ist dem Schreibstil des Buches anzumerken: So würzt unverhohlener Zorn die wissenschaftliche Sprache. Vor allem aber stimmt das Fazit, das Naika Foroutan zieht: „Schlussendlich bringen Sie mit diesem wichtigen Debatten-Beitrag auf die politische Agenda, dass sich eine Demokratie vor allem an ihrem Umgang mit ihren Minderheiten messen lässt.“

Klaus Bade

Prof. Dr.Klaus J. Bade lehrte bis 2007 Neueste Geschichte an der Universität Osnabrück. Von Ende 2008 bis Mitte 2012 war er Gründungsvorsitzender des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) in Berlin.

Cover des Buches "Kritik und Gewalt" von Klaus J. BadeKlaus J. Bade

Kritik und Gewalt. Sarrazin-Debatte, ‚Islamkritik‘ und Terror in der Einwanderungsgesellschaft

Wochenschau Verlag, Schwalbach i. Ts.

398 Seiten, 26,80 Euro

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