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„Schicksalswahl“ Ostdeutschland am Scheideweg

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Millionen Menschen demonstrierten Anfang 2024 gegen die AfD. Das muss endlich Konsequenzen haben. (Quelle: picture alliance / ZUMAPRESS.com | Andreas Stroh)

Die gute Nachricht zuerst: Die Demokratie ist nicht untergegangen. Denn trotz den rechtsextremen Erfolgen in Thüringen und Sachsen bleiben Bündnisse ohne AfD-Beteiligung möglich. Klar ist aber auch: Der Wind wird rauer –  Egal ob für Queers, Kulturvereine, Geflüchtete, Migrant*innen, Jugendliche, demokratische Politiker*innen und Engagierte. Werden die demokratischen Parteien jetzt aufhören, auf die Rechtsextremen hereinzufallen und endlich etwas gegen die Bedrohung der offenen Gesellschaft unternehmen?

„Es ist unerlässlich, dass wir die Zivilgesellschaft in Ostdeutschland weiterhin stärken und die demokratische Beteiligung ausbauen, insbesondere in ländlichen Regionen,“ sagt Timo Reinfrank, Geschäftsführer der Amadeu Antonio Stiftung. Denn trotz rechtsextremer Wahlerfolge gibt es ein anderes Ostdeutschland. Egal ob ins Sachsen oder Thüringen, überall setzen sich Menschen für eine starke demokratische Zivilgesellschaft ein. Trotz massiver Anfeindungen, Gewalt und dem Rücken zur Wand bleiben sie stabil und machen sich für einen anderen Osten stark. Fernab von Rassismus, Antisemitismus und rechter Gewalt.

Aber die sicheren Räume werden weniger, die Unterstützung schrumpft. Und das für alle Menschen, die nicht in das Weltbild der AfD passen, die Demokratie mit Leben füllen und verteidigen. Judith Rahner vom Deutscher Frauenrat nennt die Ergebnisse aus Sachsen und Thüringen „eine Katastrophe mit Ansage. Die hohe Zustimmung zur rechtsextremen AfD mit ihrem reaktionären und frauenfeindlichen Weltbild ist ein herber Schlag für Frauen- und Minderheitenrechte.“

Existenzielle Bedrohungen und politische Gewalt

Das bestätigt Matthias Gothe von Vielfalt Leben – QueerWeg aus Thüringen: „Nicht nur das besorgniserregende Erstarken rechtsextremer Kräfte bei der Landtagswahl ist eine akute Bedrohung für das Leben vieler queerer Menschen: Vor dem Hintergrund der nun schwierigen Regierungsbildung wird auch die erwartbar späte Verabschiedung eines Landeshaushalts gerade Beratungs-, Anlauf- und Unterstützungsstrukturen für queere und andere marginalisierte Gruppe existenziell bedrohen.“

Die AfD und ihre Wählerschaft machen keinen Hehl daraus, dass für sie politische Gewalt mehr als legitim ist. Das hat bereits der Wahlkampf gezeigt und Studien belegen es: Angriffe auf demokratische Politiker*innen und Zivilgesellschaft gelten als legitimes Mittel der politischen Auseinandersetzung. Das muss uns genauso besorgen wie die vielen Stimmen für demokratiefeindliche Parteien.

Reinfrank hebt die Bedeutung bestehender Demokratieprogramme hervor: „Programme wie ‚Orte der Demokratie‘ in Sachsen und ‚DenkBunt‘ in Thüringen sind zentrale Pfeiler im Kampf gegen Rechtsextremismus. Diese Programme müssen dringend ausgebaut und an die aktuellen Herausforderungen angepasst werden. Zudem brauchen wir in beiden Ländern dringend Demokratiefördergesetze, um zivilgesellschaftliches Engagement nachhaltig zu sichern.“

Versagen der demokratischen Parteien

Das wird allerdings mindestens in Thüringen immer schwieriger. Denn dort reicht es für die AfD für eine Sperrminorität. Das heißt die Rechtsextremen haben mit voraussichtlich 32 Sitzen mehr als ein Drittel der Mandate im neuen Landtag und damit die Möglichkeit, Verfassungsänderungen zu blockieren, Ausschüsse lahmzulegen und Einfluss auf die Besetzung von Spitzenposten in Landesinstitutionen zu nehmen. Verfassungsänderungen wären aber gerade der Weg, um die Demokratie wehrhaft gegen antidemokratische Angriffe zu machen – Stichwort Landesdemokratiegesetze. Hier wurde eine Chance vertan, die im Vorfeld lange bekannt war und aus der demokratischen Zivilgesellschaft angemahnt wurde. Das mahnt auch Arne Semsrott an, Autor des neuen Buchs Machtübernahme, und nimmt die Bundespolitik in Verantwortung: „Die Ampel-Koalition hat es versäumt, Maßnahmen für die Stärkung der Demokratie umzusetzen. Sie muss endlich die Forderungen der Demokratie-Proteste im Januar umzusetzen: Ein AfD-Verbotsverfahren und ein Demokratiefördergesetz.“

Es braucht in beiden Bundesländern demokratische Mehrheitsregierungen, die rechtsextremen Positionen klar und entschieden entgegentreten. Bisher haben die demokratischen Parteien dabei in der Summe versagt. Im Wahlkampf ging es kaum um Thüringen oder Sachsen, um konkrete Probleme vor Ort, stattdessen wurden abstrakte Ängste befeuert. Der Wahlkampf war von einer flüchtlingsfeindlichen Rhetorik geprägt, die autoritären und rechtsextremen Parteien genutzt hat. Wer – im Glauben, Rechtsextremen ihre Themen wegzunehmen – ihre Positionen bedient, macht ihre Politik. So bekommen die Rechtsextremen was sie wollen, auch ohne Regierungsbeteiligung.

Timo Reinfrank besorgt besonders der hohe Zuspruch zur AfD unter jungen Menschen: „Das zeigt, dass wir in der Schul- und Jugendsozialarbeit sowie in der Prävention noch viel mehr tun müssen, um Jugendliche vor rechtsextremen Einflüssen zu schützen“, so Reinfrank. „Es liegt in unserer Verantwortung, diesen jungen Menschen Perspektiven zu bieten und sich nicht von Rechtsextremen einschüchtern zu lassen.“ Nach Jahren der Corona-Pandemie, einer drohenden Klimakatastrophe und anderen globalen Krisen, die sich teilweise unmittelbar auf die Lebenswelten Jugendlicher auswirken, ist die Verunsicherung groß. Kaum eine demokratische Partei macht ein überzeugendes Angebot, wie eine mögliche Zukunft aussehen kann und soll. Hinzu kommt die erfolgreiche TikTok-Strategie der AfD und ein Übermaß an Desinformation. Rechtsextreme Parteien machen ein verlockendes Angebot: Stärke durch die bewusste Abwertung anderer. Einfache Antworten auf komplexe Fragen, Abschottung statt Offenheit. Das verfängt und lässt sich nicht von heute auf Morgen auffangen. Langfristig braucht es verstärkte Schul- und Jugendsozialarbeit sowie Präventionsprogramme, um Jugendliche vor rechtsextremer Einflussnahme zu schützen.

Klare Kante gegen Rechtsextreme

Demokrat*innen brauchen eine geschlossene Haltung zu wesentlichen Themen bei den Koalitionsverhandlungen –  aber auch einen einheitlichen Umgang mit Anti-Demokrat*innen. Dazu gehört auch ein längst überfälliges Umdenken in der politischen Kultur: klare Kante gegen Rechtsextreme und ihre Politik und organisierter Gegenwind.

Wenn der Rechtsruck Realität wird, brauchen es den Demokratieruck. Gerade in diesen schwierigen Zeiten heißt das, lagerübergreifend als Gesellschaft zusammenstehen und den demokratischen Zusammenhalt zu stärken, anstatt sich in der Auseinandersetzung mit Demokratiefeinden gegenseitig zu zerreiben.

Es ist unerlässlich, die Zivilgesellschaft in Ostdeutschland weiterhin zu stärken und die demokratische Beteiligung auszubauen, insbesondere in ländlichen Regionen. Allein im Jahr 2024 hat die Amadeu Antonio Stiftung mit der Kampagne „Gegenwind” bereits 104 Projekte gefördert, die sich gegen den drohenden rechtsextremen Normalzustand in Ostdeutschland einsetzen und eine Normalisierung von Rassismus und Antisemitismus bekämpfen. Das ist der andere Osten: Menschen, die trotz allem nicht aufgeben und sich jetzt erst recht nicht unterkriegen lassen. Eine Gegenreaktion kann nur von dort kommen, von unten, aus der demokratischen Zivilgesellschaft.

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