Die Zunahme antisemitischer Vorfälle in Deutschland ist unmittelbar mit dem Versagen von Schulen und Institutionen verknüpft, dem modernen Antisemitismus, insbesondere dem israelbezogenen Antisemitismus, vorzubeugen. Wie Rosa Fava von der Amadeu Antonio Stiftung bereits beschrieb, ist gutes Lehrmaterial zum Konflikt schwer zu finden. Lehrkräfte sind selbst oft Multiplikator*innen israelfeindlicher Emotionen und Ressentiments – die Folge davon, dass Antisemitismus bis in die Mitte der Gesellschaft ragt. Noch schwieriger stellt sich die Situation in der Offenen Jugendarbeit dar, ein oft vergessener Ort der politischen Bildung. Hier beruht alles auf Freiwilligkeit und Partizipation und die sensible professionelle Beziehungsarbeit der pädagogischen Fachkräfte.
Unter diesen Umständen ist es nicht verwunderlich, dass das deutsche Bildungssystem kein effektives Bollwerk gegen Antisemitismus darstellt. Dass die Hälfte der 14- bis 16-Jährigen in Deutschland noch nie von Auschwitz gehört hat, ist ein Puzzleteil in einem Mosaik aus pädagogischen Herausforderungen.
Vorweg ein Gedanke zur Möglichkeit politischer Bildung zum Antisemitismus: Viele Methoden versuchen, israelbezogenen Antisemitismus mit faktenbasierter Bildung zu bekämpfen. Ein „realistisches“ Bild soll vermittelt, und verbreitete Stereotype mit Fakten irritiert werden. Bei dieser Zielsetzung liegt der Gedanke an die historische Problematik der Bekämpfung von Antisemitismus mit Fakten nahe. Die Argumentationen, mit denen Jüd*innen zum Beispiel in der Weimarer Republik gegen Antisemitismus vorgingen, waren zur Fruchtlosigkeit verurteilt: Antisemitische Weltanschauungen stehen und fallen nicht mit der Wahrheit, sie leben im Gegenteil von der Unwahrheit ihrer Erklärungen.
Der Ansatz ist daher optimistisch – er traut sich und anderen zu, Ressentiments durch rationale Argumente überwinden zu können und durch Aufklärung über die komplexen politischen Ebenen und Identitäten des Nahostkonflikts dem israelbezogenen Antisemitismus entgegenzuwirken. Dazu gehört neben der Irritation und Reflexion von Ressentiments und festgefahrenen, dichotomen Feindbildern auch die Umkehr des Blicks weg von Israel hin zu den anderen Teilnehmern des Konflikts: Der Hamas, dem Iran, arabischen Staaten etc. Ein weiteres Element, das selten in den Blick kommt, ist Rassismus. Muslimische, arabische, palästinensische Jugendliche erleben nicht selten – von Politik über Medien hin zu Lehrkräften – rassistische Diskriminierung, wenn es um das Thema Israel/Palästina geht. So wird ein auf gelebte Erfahrungen in Deutschland bezogener intersektionaler Rahmen geschaffen. Im Grunde also eine Behandlung, die ein guter Politikunterricht sowieso leisten sollte.
Die gewählten Methoden sollten darum bemüht sein, der Sensibilität des Themas gerecht zu werden. Die maßgebliche Richtschnur für jugendgerechte politische Bildung in Deutschland ist weiterhin der Beutelsbacher Konsens. Dieser beruht auf den Pfeilern: Indoktrinationsverbot, Gebot der Kontroversität, und Orientierung an den Interessen der jungen Menschen.
Die Relevanz des Themas Israel/Palästina für intersektionale Diskriminierungen in Deutschland (Antisemitismus, anti-muslimischer Rassismus), die laufende kriegerische Gewalt in der Region und die hohe Kontroversität des Themas in der Gesellschaft machen die Treue zum Beutelsbacher Konsens schwer. Allein die scharfen Kontroversen um den Israel/Palästina-Konflikt unter Linken haben sichtbaren negativen Einfluss auf die politische Bildung. Wenn die oft polemisch überspitzten Positionen aus diesen Kontexten und der Frust über die letzte „Israeldebatte“ in der Kneipe oder auf Twitter auf Jugendliche projiziert werden, werden Antisemitismus und Rassismus am Ende eher reproduziert als bekämpft.
Das beste Rezept zur Vermeidung von Verstößen gegen das (1) Indoktrinationsverbot ist daher die Treue zum (2) Gebot der Kontroversität: Wer beim Thema Israel/Palästina darauf achtet, beiden Seiten Raum zu geben, wird damit selten etwas falsch machen und bildet gleichzeitig die kontroverse Natur des Diskurses ab. Die (3) Orientierung an den Jugendlichen ist dann gegeben, wenn die Pädagogik dazu befähigt, sich von Verschwörungsdenken und Emotionalisierungen zu lösen.
Insbesondere das Thema Medienkompetenz spielt beim israelbezogenen Antisemitismus eine herausgehobene Rolle. Der Vorteil einer wissenschaftlich informierten Perspektive liegt darin, dass sie die Ambiguitäten des Themas besser aufzeigen kann als medial aufbereitete Erzählungen oder subjektive Zugänge. Der Israel/Palästina-Konflikt ist komplex. Wer wüsste schon, dass zu den Siedlern der „ersten Aliyah“ ab 1882 auch jemenitische Jüd*innen gehörten, die vor Diskriminierung flohen? Oder, dass arabische Bürger*innen Israels sich das Recht auf freien Grundbesitz erst in den 2000ern erfolgreich vor dem obersten Gericht erstreiten konnten? Es ist daher wichtig, Vorurteilsstrukturen zu erschüttern und eine möglichst differenzierte und gerade deshalb für Empathie offene Perspektive anzubieten.
Ergänzt wird dies durch den Zugang zu subjektiven Erfahrungen von Konflikt und Zusammenleben. Der Comic „Mehr als zwei Seiten“ vermittelt beispielsweise ein Gefühl dafür, dass die meisten Menschen in Israel und den palästinensischen Gebieten einfach leben wollen – und nicht im Namen politischer Ideologien andere Menschen unterdrücken oder als Märtyrer*innen sterben wollen. Diese Betonung von „Normalität“ im Leben von Menschen aus Israel/Palästina ist besonders wichtig für den Abbau dämonisierender, verzerrender Vorstellungen. Sie muss in einer Balance mit einem nüchternen, nicht schönfärberischen Blick auf die Realität des Konflikts stehen. Noch einmal muss dabei betont werden: die mediale Überladung des Konflikts mit einseitigen Narrativen stellt einen sehr hohen Anspruch an wissenschaftliche Hintergrundkenntnisse für viele Pädagog*innen dar – viel einfacher ist es daher, der Grundregel zu folgen, gegenüber jeder einseitigen Perspektive auf „die gute“ und „die böse“ Seite im Konflikt vorsichtig zu sein. Wer will, kann beide Seiten in stark negativen Bildern malen, aber damit ist niemandem geholfen – schon gar nicht Opfern von Antisemitismus und Rassismus in Deutschland.
Spezifisch auf den Mangel an Hilfestellungen zur Auseinandersetzung mit dem Israel/Palästina-Konflikt hat der Fachtag „Methoden und Materialien für die Bildungsarbeit zum Nahostkonflikt“ von Offen füreinander / Transaidency e.V. und der ju:an-Praxisstelle antisemitismus- und rassismuskritische Jugendarbeit / AmadeuAntonio Stiftung reagieren. Am 8. September 2022 stellten fünf Bildungsträger in sechs Workshops ihre Methoden vor. Es ging darum, auszuloten, wie die oft für schulische Zwecke und Jugendverbandsarbeit konzipierten Methoden und Materialien oder, treffender, Teile davon und Impulse und Ideen, in der Offenen oder auch mobilen Jugendarbeit Anwendung finden können.