Und kommt es angesichts der zu erwartenden Wohlstandseinbußen zu einer Zunahme Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit? Dies sind einige der Leitfragen des jüngst vorgestellten achten Teils der von Wilhelm Heitmeyer herausgegebenen Studie „Deutsche Zustände“. In dieser Folge, des insgesamt auf zehn Jahre angelegten Reports, geht es folglich um die „Deutschen Zustände“ in Zeiten der Krise. Das mit „der Krise“ sei jedoch etwas komplizierter, konstatierten Heitmeyer und sein Team bei der Vorstellung der Studie im Hause der Bundespressekonferenz am 04. Dezember 2009. So ließe sich nicht von „der“ Krise sprechen, sondern von einer ganzen Folge von Krisen. Der Finanzkrise, die bisher noch nicht im vollem Maße bei der Bevölkerung angekommen sei, werde eine weitreichende Wirtschafts- und Fiskalkrise folgen, die sich unter bestimmten Umständen gar zu einer tiefgreifenden Gesellschaftskrise ausweiten könne. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass sich allgemein knapp die Hälfte der Befragten durch die Wirtschaftskrise bedroht und fast 40 Prozent persönlich betroffen fühlen. Erwartungsgemäß für die Autor*innen fällt dieser Anteil bei der sogenannten unteren Schicht deutlich höher aus. Erstaunlicher Weise unterscheidet sich die Wahrnehmung der Krise zwischen der Einschätzung der gesellschaftlichen Lage und der individuellen Situation. so geben beispielsweise 70 Prozent der Befragten an, Ungerechtigkeiten seien in ihrem Leben eher die Ausnahme. Entscheidend ist nun, wie die Befragten mit der Krisensituation umgehen. Wem geben sie beispielsweise die Schuld?
Und wer ist schuld?
Hier ist der Befund der Studie eindeutig: Erfreulicher Weise fällt die Ergebniskurve zwar im Vergleich zum Vorjahr 2008 in fast allen abgefragten Aspekten des Syndroms Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit etwas niedriger aus. In Bezug auf die Wahrnehmung der Finanz- und Wirtschaftskrise äußert sich dies etwa darin, dass nur knapp 15 Prozent die Ursache bei „den Ausländern“ sehen. Zwei Aspekte fallen allerdings heraus. So steigen Antisemitismus und Homophobie deutlich an. Beate Küpper verwies bei der Pressekonferenz darauf, dass als vermeintliche Verursacher der Krise in erster Linie Gruppen verantwortlich gemacht werden, denen man viel Macht, Einfluss und „Bedrohungspotenzial“ zuschreibt. So verwundert es nicht, dass – ob nun bewusst oder unbewusst – dem alten Bild vom „Spekulantentum der Juden“ folgend, fast 90 Prozent der Befragten die Schuld den „Bänkern und Spekulanten“ zuschreibt.
„Minderheiten können in Zeiten der Finanzkrise nicht geschützt werden“
Dort wo die Krise als existenzielle Bedrohung für das eigene Kollektiv wahrgenommen und die Schuld hierfür anderen Gruppen zugeschrieben wird oder diese gar aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden sollen, steht der gesellschaftliche Konsens der sozialen Gleichwertigkeit in Frage. Das umfasst u.a. Kernnormen wie Solidarität, Fairness und Gerechtigkeit. Deren Erosion ist, laut Forschungsteam, die größte Gefahr, vor der die deutsche Gesellschaft in den Zeiten der Krise augenblicklich steht. Dass dieser Konsens am bröckeln ist, lässt sich beispielsweise an der Zustimmung zu den Items festmachen, dass in Deutschland zu viele schwache Gruppen mitversorgt werden müssten und dass Minderheiten in Zeiten der Finanzkrise nicht besonders geachtet und geschützt werden könnten. Der ersten Aussage stimmen fast 65 Prozent der Befragten zu, während es bei der zweiten immerhin noch knapp 22 Prozent sind. Die Zustimmung liegt hier bei denen am höchsten, die gleichzeitig eine kollektive Krisenbetroffenheit wahrnehmen. So steht zu befürchten, dass bei einer Verschärfung der Wirtschaftskrise hin zur Fiskalkrise Schuldzuschreibungen an bestimmte Gruppen zunehmen, die dann wiederum die Abwertung derselben begünstigen.
„In welcher Gesellschaft wollen wir eigentlich leben?“
Die damit verbundene Aufkündigung der Gleichwertigkeit schwächt „den Kitt, der diese Gesellschaft zusammenhält“, wie Andreas Zick in seinem Teil der Vorstellung der Studie resümierte. Denn darin, dass sich eine erhebliche Wut über die Krise und die Reaktion der Politik registrieren lässt, besteht laut Forschungsteam kein Zweifel. Um so erstaunlicher ist das Ausbleiben politischer Proteste und der Mangel an politischer Partizipation. Tatsächlich sind zwar über 94 Prozent der Befragten aus den unteren Schichten wütend über die Folgen der Krise, dennoch nehmen nur 24 Prozent von ihnen an politischen Demonstrationen teil, da sie sich von der Politik nicht vertreten fühlen und meinen „keinen Einfluss zu haben“. Aber gerade die, die nicht an politischen Prozessen partizipieren, neigen zu einer Abwertung anderer Gruppen, lässt sich als zentraler Befund der Studie festhalten. So zeichnet das Team am Ende der Vorstellung ein düsteres Bild: Die gesellschaftlichen Eliten würden die vorhandene „wutgetränkte Apathie“ nicht zur Kenntnis nehmen und eine geringe Sensibilität für die labilen demokratischen deutschen Zustände zeigen. Um einen Anstieg Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und den Populismus rechter Mobilisierer zu verhindern, sei, so Heitmeyer abschließend in der Diskussion, eine breite gesellschaftliche Debatte notwendig, in der alle Mitglieder dieser Gesellschaft gleichberechtigt darüber diskutieren, „in welcher Gesellschaft wollen wir eigentlich leben?“
Malte Gebert
Dieser Beitrag ist ursprünglich auf dem Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ erschienen (2002-2022).