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Seitenblick Eine braune Mitte?

NPD-Demonstranten in Rostock schwenken NPD-Fahne; Foto: Holger Kulick

„Wir müssen vermitteln, dass Demokratie kein fertiges Produkt ist, das man konsumieren kann“, meinte Sachsen-Anhalts damaliger Innenminister Hövelmann im Juni 2008 in der Berliner Friedrich-Ebert-Stiftung und empfahl dringend, mehr Aufklärungsarbeit über die nationalsozialistische Vergangenheit unter Jugendlichen zu betreiben: Besuche in KZ-Gedenkstätten sollten für diese wieder zur Pflicht werden. Und seine Parteifreundin Gabriele Fograscher, die frühere Rechtsextremismusbeauftragte der SPD-Bundestagsfraktion, zeigte sich „alarmiert“, wie ausgeprägt  „die Geringschätzung von Demokratie“ in Deutschland mittlerweile ist. Oder schon immer war? Beide Politiker äußerten sich anlässlich der Präsentation der ie bundesweite Studie „Ein Blick in die Mitte. Zur Entstehung rechtsextremer und demokratischer Einstellungen“ unter der Leitung der Leipziger Wissenschaftler Dr. Oliver Decker und Prof. Dr. Elmar Brähler im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung.Die neue Studie schließt an die Repräsentativbefragung „Vom Rand zur Mitte“ (2006) an, indem sie eine qualitative Vertiefung der ersten Studie anhand der Leitfrage vornimmt, wie rechtsextremes Gedankengut in der heutigen Gesellschaft entsteht. Als Kernpunkte ihrer Untersuchung fassen die Autoren zusammen:

• Ausländerfeindliche Ressentiments werden mit besorgniserregender Selbstverständlichkeit geäußert, auch bei Personen, die in der ersten Studie nicht durch rechtsextreme Äußerungen aufgefallen waren.

• Es wird ein hoher gesellschaftlicher Normierungsdruck empfunden; gleichzeitig werden Sanktionen gegenüber abweichendem Verhalten akzeptiert. Dadurch geraten insbesondere Migrantinnen und Migranten sowie Arbeitslose unter Anpassungsdruck und werden ausgegrenzt.

• Es herrscht ein großes Unverständnis über die Möglichkeiten zur Mitgestaltung in einer Demokratie. Dies ist verbunden mit einer alarmierenden Geringschätzung des demokratischen Systems. Demokratie wird weitgehend nur insofern akzeptiert, wie sie individuellen Wohlstand garantiert.

• Autoritäre Denkstrukturen und Gewalterfahrungen haben nach wie vor eine hohe Bedeutung bei der Herausbildung rechtsextremer Einstellungen. Umgekehrt wirken die Fähigkeit zur Empathie und die Erfahrung von Anerkennung als Schutz davor.

• Die große Bedeutung der nationalsozialistischen Vergangenheit in allen Generationen: Eine Verweigerung der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit befördert rechtsextreme Einstellungen; eine sowohl inhaltliche als auch emotionale Auseinandersetzung hemmt rechtsextreme Einstellungen.

In bundesweit zwölf Gruppendiskussionen wurden von dem Leipziger Forschungsteam Personen erneut befragt, die in der Fragebogenuntersuchung im Jahr 2006 rechtsextreme oder nicht-rechtsextreme Einstellungen beziehungsweise sich unentschieden gezeigt hatten. In diesen Gruppen kamen Personen mit unterschiedlicher sozialer Herkunft, Generation und Berufstätigkeit zusammen. Die Studie gewähre, so die Autoren, „mithin tatsächlich einen Einblick in die Mitte der deutschen Gesellschaft“.

Pressekonferenz Friedrich-Ebert-Stiftung

Pressekonferenz Friedrich-Ebert-Stiftung

Verbote, mit Flüchtlingskindern zu spielen

„Wir wollten die politischen Aussagen mit den Lebensläufen der befragten Personen in Verbindung bringen“, erläuterte Decker. „Es war beispielsweise erschreckend, wie viele der Befragten Erfahrungen mit psychischer und physischer Gewalt, mit Stigmatisierung gemacht haben.“ Da hatten Alteingesessene ihren Kindern verboten mit Flüchtlingskindern zu spielen;
Eltern und Lehrer hatten die Kinder geschlagen oder überfordert; eine Frau im Bekanntenkreis wird unter Druck gesetzt, weil ihr Sohn arbeitslos ist. Decker weiter: „Wir müssen verstehen, dass Menschen nicht so sehr die Sorge haben, aus der Gesellschaft herauszufallen, sondern Angst vor dem Zugriff der Gesellschaft.“ Der Begriff der Desintegration verschleiere, dass Stigmatisierung den Menschen zwar aus der Gesellschaft oder Gemeinschaft ausgrenze, ihm dabei aber zugleich den Schutzes vor dem Zugriff dieser Gemeinschaft nimmt: „Wer abweicht, ist dem psychischen Normierungsdruck der Gemeinschaft ebenso ausgesetzt wie dem Zugriff staatlicher Stellen“, erläuterte Decker.

Ressentiments gegen Ausländer bezeichnen die Autoren als „Einstiegsdroge zum Rechtsextremismus“. Fremdenfeindliche Klischees und Einstellungen gehörten vielerorts fast schon zum guten Ton. So seien in den Gesprächsrunden mit „besorgniserregender Selbstverständlichkeit“ auch von Personen ausländerfeindliche Sprüche gefallen, die in der Umfrage vor zwei Jahren nicht durch entsprechende Denkmuster aufgefallen waren. „In der Repräsentativerhebung wurde die Ausländerfeindlichkeit offenbar noch unterschätzt“, bilanzierte Katharina Rothe vom Leipziger Forscherteam am Mittwoch. Damals äußerten bereits rund 39 Prozent der Befragten die Meinung, dass Deutschland „durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet“ sei. Jetzt war diese Haltung noch ausgeprägter.

„Narzisstische Plombe“

Dass rechtsextremes Gedankengut seit dem Nationalsozialismus mehr als ein halbes Jahrhundert überdauert, erklärt Decker mit dem Bild einer „narzisstischen Plombe“. Der mit dem so genannten Wirtschaftswunder in Westdeutschland relativ schnell einsetzende Wohlstand habe weder für Nachdenklichkeit noch für Scham Raum und Zeit gelassen. Eine ähnliche Entwicklung erhofften Ostdeutsche nach der Wende und beantworten die Enttäuschung dieser Erwartung mit Politik- und Demokratieverdrossenheit. „Immer dann, wenn der Wohlstand als Plombe bröckelt, steigen aus dem Hohlraum wieder antidemokratische Traditionen auf.“

Die Beschäftigung mit der NS-Vergangenheit, auch dies ein Ergebnis der Studie, hat noch für die heutige Generation große Bedeutung: „Wir können sogar bei heute 20- bis 30-Jährigen feststellen, dass eine demokratische Einstellung häufig einhergeht mit einer Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, die Scham und Schuld über die familiären Verstrickungen zulässt“.

Welche weiteren Faktoren sind für die Ausbildung demokratischer Einstellungen wichtig? „Menschen, die in der Lage sind, sich in andere einzufühlen, sind in der Regel nicht ausländerfeindlich“, so Decker. Dabei spiele die eigene Erziehungserfahrung eine wichtige Rolle: „Je mehr Raum kindlicher Phantasie eingeräumt, je mehr Kinder die Erfahrung machen ,selbst etwas bewegen zu können und je weniger autoritäre Prägung durch Eltern oder Lehrer erfahren wurde, umso deutlicher sind die Menschen als Erwachsene demokratischeingestellt“, fasst Decker das Ergebnis zusammen.

Medien müssen Verantwortung begreifen

Auch zu möglichen politischen Konsequenzen der Untersuchungsergebnisse äußern sich die Autorinnen und Autoren der Studie:

• Menschen müssten in Politik, Unternehmen und Bildungseinrichtungen die Erfahrung machen können, dass sie ein bestimmtes Ziel auch durch Überwindung von Hindernissen am Ende tatsächlich erreichen können.

• Dies gilt insbesondere für Migrant*innen und bildungsbenachteiligte Mitglieder unserer Gesellschaft. Neue Partizipationsformen und -methoden sind dafür nötig.

• Diskurse, die eine Ungleichwertigkeit von Menschen behaupten, müssten unterlassen und gesellschaftlich geächtet werden.

• Eine stärkere Verpflichtung der öffentlich-rechtlichen Medien, den politischen Bildungsauftrag zu erfüllen, da Wissensdefizite über das demokratische System und dieMitwirkungsmöglichkeiten des Einzelnen bestehen.

• Eine sensible Erinnerungskultur bezüglich der deutschen nationalsozialistischen Vergangenheit müsste gepflegt werden. Dies bedeutet, von Deutschen begangene Verbrechen anzuerkennen, einen emotionalen Zugang zu der Vergangenheit zu eröffnen und die aus der Geschichte erwachsende Verantwortung zu vermitteln.

Grundlegend neu sind all diese Erkenntnisse eigentlich nicht. Und sie bestätigen die Forschungen, die der Bielefelder Wissenschftler Wilhelm Heitmeyer in seiner Langzeitstudie „Deutsche Zustände“ über das Ausmaß und die Ursachen von Menschenfeindlichkeit und Totalitarismusanfälligkeit in Deutschland alljährlich publiziert. Auch Heitmeyers Ergebnisse werden von Jahr zu Jahr alarmierender. Aber wahrgenommen wird die Diagnose in der Regel nur von denen, die sie eh schon kennen, so dass sich viel zu wenig ändert. Und die NPD kocht munter ihr Süppchen draus.

Dieser Beitrag ist ursprünglich auf dem Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ erschienen (2002-2022).

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