„Eine Türkin mit bayerischem Akzent? Das war den Berlinern natürlich erstmal ziemlich suspekt“, erinnert sich Idil Lacin. „In der Bäckerei habe ich anfangs immer noch Semmeln bestellt, da musste ich ja unangenehm auffallen!“ Mit viel Witz und Ironie erzählt die Mittsechzigerin über ihre Erfahrungen als Deutsch-Türkin in Berlin. Sie kennt die Stadt besser als viele gebürtige Deutsche, die aus der schwäbischen oder ostwestfälischen Provinz in den achtziger Jahren als Studenten nach West-Berlin kamen. Denn: Lacin lebt bereits seit 1963 in der Stadt. Kurz nach dem Bau der Mauer entschieden sie und ihr Mann, den sie während ihrer „Zwischenstation“ in München kennen gelernt hatte, nach Berlin umzuziehen. Die Sozialpädagogin hat also eine Stadt erlebt, die die junge Generation allenfalls noch aus blassen Erinnerungen, zumeist jedoch nur aus Büchern und Fernsehdokumentationen kennt. Nach 45 Jahren kann sie heute sagen, dass sie angekommen ist, dass sie sich hier „zu Hause“ fühlt.
Das war nicht immer so. Die Integration in der „grauen Stadt“, wie sie Berlin nach ihrem Umzug empfand, fiel ihr nicht leicht. Viele Einheimische hätten ihr kaum zugetraut, dass sie überhaupt mit Messer und Gabel essen kann, formuliert Lacin ihr Gefühl in leicht ironischer Art: „Viele dachten, wir müssten erst sozialisiert werden – das hat mich sehr gestört“. Nach der Wende konnte sie sich daher gut in die Ostdeutschen hineinversetzen, die genervt waren von der ständigen Bevormundung und Vereinnahmung durch die „Besserwessis“.
Große biografische Brüche
Lacin ist eine von sechs Podiumsgästen, die am 12. März im Interkulturellen Frauenzentrum S.U.S.I. in Berlin über ihre Erfahrungen berichteten, entweder als Migrantinnen, oder als gebürtige DDR-Frauen. Sie alle haben eines gemeinsam: Durch Migration, Flucht oder auch das Ende der DDR haben sie große biografische und gesellschaftliche Brüche erfahren, haben ihre Heimat, ihre kulturellen Hintergründe verloren und sich an neue Situationen und Umstände anpassen müssen. Einige von ihnen haben schwere persönliche Verluste erlitten, aber alle haben durch die erzwungene oder selbst gewählte Veränderung auch etwas gewonnen.
Glück hatte zum Beispiel die zierliche 73-jährige María Gonzáles Cabezas. Wäre die Geschichte in ihrem Heimatland Chile anders verlaufen, wäre sie sicherlich heute noch dort. Aber sie hatte keine Wahl. Als Oppositionelle wurde sie nach der Machtübernahme Pinochets 1973 ins Gefängnis gesperrt, einen Prozess gab es nicht. Nach einem Jahr und zwei Monaten folgte die Ausweisung in die DDR. Cabezas landete mit ihrer sechsjährigen Tochter und zwei Koffern in Berlin-Schönefeld. Zunächst wohnten sie gemeinsam mit 30 anderen Chilenen übergangsweise in einem Schloss in Thüringen, anschließend wurde sie von der DDR nach Potsdam zugeteilt, wo sie zunächst im Blutspendedienst arbeitete. Doch die gelernte Biomathematikerin hatte Größeres vor: Sie lernte Deutsch, schrieb eine wissenschaftliche Abhandlung über die mathematisch-statistische Methode beim Blutspendewesen und wurde schließlich Assistentin an der Humboldt-Universität. 1986 zog sie nach Berlin. Nach Chile ist sie das erste Mal einige Jahre nach der Wende zurückgekehrt – allerdings nur als Besucherin. Eine dauerhafte Rückkehr in ihr Herkunftsland kann sie sich finanziell schlichtweg nicht leisten.
Gemischte Gefühle beim Mauerfall
Eine ähnlich turbulente Biografie hat Nasrin Bassiri. Die Exil-Iranerin arbeitet als Frauenbeauftragte an der Kunsthochschule in Berlin-Weissensee, bis 2008 moderierte die promovierte Politologin und Journalistin zudem bei Radio Multikulti. Im Iran wurde sie politisch verfolgt und zu zehn Monaten Haft verurteilt, anschließend wurde sie ausgewiesen. Seither war sie nie wieder dort. Wenn sie auf die letzten vierzehn Jahre in Deutschland zurückblickt, kann sie heute durchaus sagen, dass sie sich hier heimisch fühlt. Ihre politischen Aktivitäten setzte sie von Berlin aus fort und besetzte zum Beispiel die iranische Botschaft, um auf die politische Situation in ihrem Herkunftsland aufmerksam zu machen. Interessanterweise, so erzählt sie, fühle sie sich im Ostteil Berlins viel wohler als im Westen: „Ich weiß nicht, woran das liegt, aber ich komme mit den Menschen besser klar“.
Die Wahl zwischen Ost und West hatte Tina Frenzel lange Zeit nicht. Aber die Stadtplanerin aus der Sowjetunion fand sich gut zurecht, nachdem sie sich für ein Leben in der DDR entschieden hatte. Mit den politischen Gegebenheiten arrangierte sie sich, so gut es eben ging. So zieht sie auch eine zweigeteilte Bilanz zur Wende. Die Einheit habe den Menschen Demokratie, Reisefreiheit, freie Wahlen, Presse- und Meinungsfreiheit, ein Überangebot an Waren beschert. Für viele habe diese Freiheit jedoch einen bitteren Nachgeschmack: „Das sind diejenigen Leute, die nach dem Mauerfall arbeitslos geworden sind, die haben ihre soziale Sicherheit von einem Tag auf den anderen verloren“, reümiert Frenzel. Am Tag des Mauerfalls habe sie, ehrlich gesagt, gemischte Gefühle gehabt; neben der Freude standen auch Zweifel und Ängste im Raum: Was kommt jetzt?
Dankbar für die Demokratie
Durchweg positive Erinnerungen an 1989 hat die Sozialwissenschaftlerin Heike Radvan. Es wird deutlich, wie sehr sich beim Thema Wende die Perspektiven der verschiedenen Generationen unterscheiden. Radvan war fünfzehn, als ihr durch den Zusammenbruch der DDR die Welt zu Füßen lag, wie sie sich lebhaft erinnert: „Mir standen plötzlich Möglichkeiten offen, die zuvor schier unerreichbar schienen“. Während der Schulzeit, so die von der Ostseeinsel Rügen stammende Radvan, habe sie ständig einen enormen Druck verspürt: „Wir sollten uns schon als Kinder darauf festlegen, welchen Beruf wir später ergreifen wollten, und ich hatte immer Panik davor, 40 Jahre lang das Gleiche tun zu müssen.“ Ihre Lehre als Schaffnerin brach sie nach der Wende ab, um ihr Abitur nachzuholen, danach ging sie für ein Jahr in die USA, das Land, das kurz zuvor als Klassenfeind Nr. 1 galt und weiter entfernt erschien als der Mond. „Dass ich mehrere Berufe ausprobieren und mir bei der Perönlichkeitsfindung etwas Zeit lassen konnte, auch das verbinde ich mit Demokratie, und dafür bin ich sehr dankbar“, erzählt Radvan weiter. Die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, sowohl mit dem Nationalsozialismus als auch mit der DDR, gehört für die Mitarbeiterin der Amadeu Antonio Stiftung ebenfalls zu den Pluspunkten der wiedergewonnen Freiheit.
Auch wenn ihre Biografie sich sehr von der Radvans unterscheidet – Idil Lacin, die Deutsch-Türkin mit bayerischem Akzent, ist ähnlich dankbar für die Freiheiten, die sie im wiedervereinten Deutschland genießt. Aus dem anfänglichen Ohnmachtsgefühl heraus, von den Deutschen immer nur als „die Türkin“ wahrgenommen zu werden, hat sie mit den Jahren ihre eigenen Stärken entwickelt. Wenn sie heute ab und zu in ihre alte Heimatstadt Istanbul fährt, um Verwandte zu besuchen, fällt ihr auf, wie sehr sich ihr Horizont durch das Leben in Berlin erweitert hat. Sie sei weltoffen geworden, sagt sie: „In der Türkei wäre ich doch nur mit bestimmten Bevölkerungsschichten in Kontakt gekommen, aber in Berlin lerne ich Menschen aus allen Schichten kennen, und das gefällt mir“.
Dieser Beitrag ist ursprünglich auf dem Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ erschienen (2002-2022).